Bis zum Jüngsten Tag

Der theologische Streit um „Luther und die Juden“ geht weiter
Name getilgt: Im Mai 2010 wurde in München die nach dem bayerischen Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) benannte Straße wegen dessen antisemitischer Äußerungen vor 1933 umbenannt. Sein Enkel klagte vergeblich dagegen. Foto: epd/ Michael McKee
Name getilgt: Im Mai 2010 wurde in München die nach dem bayerischen Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) benannte Straße wegen dessen antisemitischer Äußerungen vor 1933 umbenannt. Sein Enkel klagte vergeblich dagegen. Foto: epd/ Michael McKee
In zz 7/2016 kritisierte Dorothea Wendebourg die Sichtweise der EKD-Synode zum Thema „Luther und die Juden“. In diesem Beitrag bekräftigt die Berliner Kirchenhistorikerin diese Haltung. Sie antwortet auf ihre Kritiker in zz 8/2016. Sie findet es bemerkenswert, dass Rabbiner Walter Homolka eine „konsequent trinitarische Betrachtung“ Gottes empfiehlt.

Wenn einem Artikel gleich zwei Gegenartikel folgen, dann müssen dessen Argumente wohl gesessen haben. Solch doppelte Antithese wurde meinen von der Redaktion mit „Angst vor religiösen Gegensätzen“ überschriebenen Ausführungen zuteil, die sich mit der Kundgebung „Martin Luther und die Juden“ der Synode der EKD befassten. Es traten an der Kirchenhistoriker Volker Leppin aus Tübingen und Rabbiner Walter Homolka aus Potsdam (zz 8/2016). Dabei sticht sogleich das Gefälle zwischen beiden Artikeln ins Auge: Ist der jüdische Beitrag bemerkenswert in der Sache und vornehm in der Sprache, verhalten sich in dem Beitrag des evangelischen Autors, freilich nicht ungewohnt, Hoffart des Tons und Qualität der Argumente umgekehrt proportional zueinander. Ich werde mich deshalb inhaltlich vor allem mit Homolkas Ausführungen beschäftigen, während es Leppin gegenüber darum geht, das Notwendigste zurechtzurücken.

Ob man mit Leppin in der Synodalkundgebung „Martin Luther und die Juden“ einen großartigen Text sieht, hängt wohl vom persönlichen Anspruch an die argumentative Klarheit theologischer Texte ab. Wenn seine Bedürfnislosigkeit in dieser Hinsicht mir den Vorwurf „holzschnittartigen Denkens“ einträgt, muss ich damit leben. Den Eindruck, dass der EKD-Text „nebelhaft“ ist, vermochte der Tübinger Kollege jedenfalls nicht zu zerstreuen. Es handelt sich um ein typisches Gremienpapier, in das diverse Anliegen eingegangen sind und aus dem möglichst viele Leser das Ihre herauslesen können sollten, damit ein positives Synodalvotum und breite Rezeption gewährleistet waren. So habe ich denn den Text auch nicht einfach „vehement abgewiesen“, zumal darin ja auch beachtenswerte Selbstverständlichkeiten zu finden sind. Vielmehr habe ich gefragt, was seine Sätze jeweils meinen - um mich dann mit einer möglichen, wenn nicht suggerierten Lesart auseinanderzusetzen.

Sollte es einer Bestätigung dieser Sicht und dieses Vorgehens bedürfen, so wird sie von Leppin selbst durch die Widersprüche geliefert, die er bei der Verteidigung des Textes produziert. So soll zum einen die Entgegensetzung zur rabbinischen Auslegung des Alten Testaments, wie sie sich bei Luther und anderen fand, „hinterfragt“ werden, zugleich aber das, was den Kern dieser Entgegensetzung ausmachte, weiterhin gelten: dass „das Alte Testament auf das Neue und damit auf Jesus Christus und die Kirche hingeordnet zu sehen“ sei. Es soll einerseits keineswegs angenommen werden, dass die Lehre von der Rechtfertigung „,allein im Glauben allein aus Gnade obsolet‘ sei“, andererseits soll diese Lehre „in ihrem Kern nicht dadurch betroffen“ sein, dass auch „in anderen Verständnissen des Heils“, also offenbar solchen ohne das reformatorische „allein“, „das [!] Vertrauen auf die Gnade Gottes“ zu entdecken sei. Wie das zusammengeht, verrät Leppin nicht. Er entzieht sich vielmehr der Rechenschaft durch raunende Suggestion neuer Erkenntnisstände, die dann nicht benannt werden, so dass ihre Belastbarkeit sich nicht prüfen lässt.

Fassungsloses Staunen

Auffällig an Leppins Gegenrede ist, dass er meine Aussagen verzeichnen muss, um sie abzuwehren. Wenn ich schrieb, dass der „letztlich springende Punkt für Luthers Haltung zum Judentum“ der Gegensatz in der Einschätzung Jesu Christi sei, bestreite ich damit weder die mir mit fassungslosem „Staunen“ vorgehaltene „Banalität“, dass Christus und die Rechtfertigung (nicht „die Rechtfertigungslehre“!) „untrennbar zusammengehören“. Noch behaupte ich, Luthers Haltung zum Judentum habe sich „gänzlich unabhängig von der Rechtfertigungstheologie entwickelt“ und eine kritische Reflexion seiner „rechtfertigungstheologischen Perspektive auf das Judentum“ sei zugunsten der christologischen Reflexion zu unterlassen. In meinem Artikel wird ausdrücklich gesagt, dass für Luther die Rechtfertigungslehre die „gnadentheologische Kehrseite des ‚Christus allein‘“ bildet. Man staunt, wie flüchtig der Kollege liest. Deshalb gehe ich durchaus auf die Rechtfertigungslehre ein, erörtere insbesondere den damit verbundenen Vorwurf der „Gesetzesreligion“ gegenüber dem Judentum und, wie von Leppin gewünscht, ein Beispiel jüdischer „Selbstsicht“ - eine bei mir zentrale Passage, zu der Leppin, im Unterschied zu Homolka, nichts zu sagen weiß.

Die Komplementarität von rechtfertigungstheologischen und christologischen Argumenten gegenüber dem Judentum kennzeichnet die bibeltheologischen Werke Luthers. Anders steht es in den sogenannten Judenschriften, also jenen Traktaten, in denen Luther über die Juden als lebendige Zeitgenossen und den Umgang mit ihnen schreibt. Hier steht die Christologie, vor allem die vom Alten Testament her in seinen Augen unabweisbare Messianität Jesu, ganz im Vordergrund. Und das gilt nicht nur für die frühe, einen fairen Umgang mit den Juden fordernde Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523), wie Leppin behauptet und in bloß äußeren Umständen begründet sieht. Sondern es gilt auch für die judenfeindlichen Schriften von 1543, wo rechtfertigungstheologische Argumente gegenüber den christologischen eine marginale oder gar keine Rolle spielen. Das hat Gründe in der Sache selbst. Bei aller Zusammengehörigkeit von Rechtfertigungslehre und Christologie stehen sie für Luther doch nicht auf derselben Ebene. Das jüngst erschienene Werk „Martin Luther - Lehrer der christlichen Religion“ von Reinhard Schwarz, dem Nestor der deutschen Lutherforschung, bringt das auf den Begriff, indem es feststellt, dass Luther zwischen den „Grundlagen“ und dem „Grundverständnis“ des Christentums unterscheidet. Zu den Grundlagen gehört das Bekenntnis zu Christus und zum dreieinigen Gott; das rechte Grundverständnis ist die die Grundlagen erst richtig erfassende Lehre von der Rechtfertigung durch Christus „im Glauben allein“. Das aber heißt, es gibt für Luther eine spezifische Verbundenheit aller, die sich zu Christus bekennen, auch wenn darunter solche sind, die wie die römische Kirche diesem Bekenntnis in seinem wahren Sinn mit ihrer Rechtfertigungslehre widersprechen. Und es heißt umgekehrt, wo das Bekenntnis zu Jesus Christus und zum dreieinigen Gott abgelehnt wird, ist für Luther ein Gegensatz gegeben, der sich von allen innerchristlichen Gegensätzen wesenhaft unterscheidet - eben ein Gegensatz hinsichtlich der „Grundlagen“. Deshalb ist es die Christologie mitsamt der Trinitätslehre, an der sich für Luthers sogenannten Judenschriften die Einschätzung der Juden entscheidet.

Im Gegensatz zu Leppin könnte man Rabbiner Homolka das Kompliment zurufen, das Luther - bei aller Schärfe der von beiden geführten Auseinandersetzung - einst dem Humanisten Erasmus gemacht hat: „Du hast direkt nach der Kehle gegriffen“ - mit anderen Worten, du hast dich nicht in argumentative Nebenwege geflüchtet, sondern den Punkt identifiziert, um den es eigentlich geht. Und das ist auch für Homolka der von mir „zielsicher“ als entscheidender Grund für die antijüdischen Forderungen Luthers ausgemachte „fundamentale Unterschied zwischen Juden und Protestanten“ hinsichtlich der Christologie. Im Klartext: „allein Jesus Christus“ (solus Christus) oder nicht allein Jesus Christus. Genau darüber müsse also gesprochen werden. Das heißt für Homolka ebenso wenig wie für mich, dass über andere Aspekte der Rechtfertigung des Menschen vor Gott, insbesondere den Rang des Gesetzes, nicht gesprochen werden muss. Und er bestätigt, dass die Kennzeichnung des Judentums als „Religion des Gesetzes“ in jüdischer „Selbstsicht“ (Leppin) nicht einfach verfehlt ist, sondern geradezu als Vorzug gegenüber der als defizitär eingeschätzten protestantischen „Gnadenreligion“ gepriesen werden konnte. Theologisch selbstbewusstes Aushalten von Gegensätzen statt Larmoyanz.

Homolkas eigene Position gegenüber dem Christentum ist nicht weniger selbstbewusst als die seiner liberal-jüdischen Vorväter. Sie hat ihr Zentrum - wie einst die umgekehrte Sicht Luthers - in der Einschätzung Jesu von Nazareth, und sie schlägt sich darin nieder, dass er dem Christentum nahelegt, in Zukunft anders von Jesus zu predigen und zu lehren als bisher. Nämlich so, dass Jesus nicht mehr als Erlöser aller Welt geglaubt und bekannt wird, sondern dass das jüdische Volk von dieser Mission Christi ausgenommen ist, weil es ihrer nicht bedarf. Als historischen Grund gibt Homolka die jahrhundertelange Geschichte christlicher Gewalt gegen Juden an, die gerade mit dem „Christus allein“ gerechtfertigt worden sei. Und als theologischen Grund nennt er die Tatsache, dass Jesus Jude gewesen sei und sich darin die bleibende Erwählung Israels zeige. Freilich ist dies ein zweischneidiges Argument, was sich gerade an Martin Luther erweist: „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, wie der programmatische Titel seiner ersten Judenschrift lautet, hatte in Luthers Augen die Konsequenz, dass Christus in erster Linie der messianische Erlöser seines Volkes sei - und dann erst auch der Erlöser von uns anderen. Und dass Gott seine Erwählung des jüdischen Volkes nicht zurücknehme, bedeute die bleibende Vorrangstellung, die diesem Volk in der heilsgeschichtlichen Sendung Christi komme. Ein Gedanke, den Luther gelegentlich im Anschluss an Römer 11,25f. dahingehend weiterführt, am Ende der Zeiten werde das jüdische Volk auch als Ganzes erlöst - durch den zu ihm gehörigen Jesus Christus.

Als theologischen Rahmen, in dem die geforderte Veränderung der Christologie geleistet werden könne, empfiehlt Homolka „eine konsequent trinitarische“ Betrachtung Gottes. Das ist aus jüdischer Feder ein bemerkenswerter Vorschlag. Ist doch die Trinitätslehre die stärkste theologische Absicherung der Überzeugung, dass es Erlösung an Christus vorbei nicht geben kann, weil sie die Christusgeschichte im ewigen Gott verankert sieht: In Christus zeige sich Gott selbst („wahrer Gott“, wie es im Bekenntnis von Nizäa heißt), so dass der heilbringende Gott gar nicht mehr anders geglaubt, bekannt und gepredigt werden könne denn als der, der in Jesus Christus begegne. Gewiss - und hier liegt Homolkas Interesse - umschließt die trinitarische Differenzierung, wonach Gott nicht nur „der Sohn“, sondern auch „der Vater“ ist, dass es eine Gottesgegenwart auch außerhalb der Räume des Christusbekenntnisses gibt: in allem, was ist, in der Schöpfung, mit Luther und Calvin gesprochen im dem Gewissen aller Menschen eingeschriebenen „Gesetz“, im Judentum, auch in den anderen Religionen. Doch ist das eine Gottesgegenwart, die auf die Erlösung in Christus zielt, wie der „Vater“ wesenhaft Vater des „Sohnes“ ist. Das so zu sehen, ist freilich die spezifische Wahrnehmung, die sich aus dem Christusbekenntnis ergibt. Als solche ist sie nicht zu demonstrieren oder zu erzwingen, sondern sie ist selbst Gabe des Gottes, der sich den Menschen als ihr in Christus erschienener Erlöser zu erkennen gibt - in der Sprache der Trinitätslehre: Gottes des „Heiligen Geistes“. Womit wir wieder zur Rechtfertigungslehre zurückgekehrt wären. Denn deren von Luther immer wieder herausgestellte Pointe, dass das Heil auf Erden für den Menschen „allein im Glauben“ (sola fide) lebensbestimmende Wirklichkeit wird, heißt „konsequent trinitarisch“, dass es allein kraft des Heiligen Geistes geschieht.

Gotteszentrierte Gelassenheit

Werden diese Einsichten ernstgenommen, dann kann es gar nicht anders sein, als dass Christen das Judentum anders sehen als dieses sich selbst. Dann kann die jüdische Ablehnung der christlichen Sicht aber auch nicht als dumme oder böswillige Halsstarrigkeit bewertet werden, wie es von Seiten der Christen jahrhundertelang geschah. Und sie kann erst recht nicht mit Benachteiligung und Gewalt beantwortet werden, wie es ebenfalls jahrhundertelang geschah und schließlich auch von Luther mit besonderem Nachdruck gefordert wurde. Er hatte es einmal besser gewusst und betont, dass der Glaube an den für alle gekommenen Christus, weil er sich Gottes Gnade verdankt, damit leben muss, nicht von allen geteilt zu werden, ja, Widerspruch zu erfahren. Er hatte das Dilemma ertragen und Gott anheimstellen und gerade darum für ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben plädieren können.

Es wäre der evangelischen Theologie und Kirche zu wünschen, sich an dieser gotteszentrierten Gelassenheit zu orientieren, die der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft entspricht. Und nicht mit dem Reformator hinter dessen eigene Einsichten zurückzufallen, indem sie auf die Herstellung einer religiösen Lage setzt, in er sie niemandem und ihr niemand mehr widerspricht. Das hat Zeit bis zum Jüngsten Tag.

Zum Text von Volker Leppin
Zum Text von Walter Homolka

Dorothea Wendebourg

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