Kaltfront in Sicht

Neues von Hamburgs Heiterkeit
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Eine Wucht und Topkandidatin für das Album des Jahres.

Wenn Söhne und Väter sich die Welt erklären, hilft manchmal der Zufall. Und er macht glückliche Beobachter zu Zeugen, wie Weihnachten 2009: Ein 16-Jähriger und sein Vater stehen auf Edinburghs Castle Rock, auf dem Platz vor der Burg. Es ist Winter, mit ungewöhnlich viel und frühem Schnee für schottische Verhältnisse. Der Jüngere hat eine Theorie, die offenbar frische Erfahrungen deutet. Frauen, sagt er, frieren gar nicht schneller, sie beklagen sich nur eher. Daneben steht ein Schotte mit samt Tochter, vielleicht vier Jahre alt: „Daddy, I’m hungry and I’m cold!“ - „Siehst du!“, sagt der Jüngere. Ob es triftig ist? Egal. Stella Sommer, Sängerin der 2010 gegründeten, jetzt nach Berlin verzogenen Hamburger Band „Die Heiterkeit“ beklagt sich nie. Zum Beklagenswerten, das andere jüngere Bands entsprechend beackern, ventiliert sie bloß eine grandios coole Haltung, die einen, sofern unerwartet damit konfrontiert, irritieren könnte. Darum hier eine kurze Einführung zur dritten „Die Heiterkeit“-Platte „Pop & Tod I + II“, die - erstaunlich für eine stets lässiger Faulheit geziehene Band - doch tatsächlich als Doppelalbum mit 20 Songs daherkommt. Es musizieren drei Killerladies (plus Messer-Drummer Philipp Wulf; vergleiche zz 3/14) im Genre „Leidenschaft auf Eis“ - was jene einerseits frisch hält, zum andern manche aber vielleicht frösteln lässt. Da reimt sich das Beklagenswerte in der Welt, von dem es ja genug gibt, lapidar auf „Schlechte Vibes im Universum“.

„Deathpop“ nennen sie das selbst, was manisch verschleppt zwischen solidem Kunstlied und Indie-Sound liegt, von Akustikgitarre, Klavier, luftigen Drums und Synthies samt deren Streichern somnambul gebettet. Im Auge des entschleunigten Orkans funkelt Stella Sommers dunkle Tenorhorn-Stimme als Sirene und Grabesstimme, die an Nico gemahnt. Ihre umgarnenden Texte über so ewige Themen wie Tod, Verlust und Glaube passen dazu und lassen neben laxem Tiefsinn immer auch ein gerüttelt Maß Humor aufleuchten. Etwa im Titeltrack Pop & Tod, der ein Wir sind uns so nah lautmalerisch wunderbar in ein chorbefeuertes NaNaNaNaNa kippen lässt. Zu Klavierplätschern, Frauenchor, Synthiesounds plus Streichern streut sie in „The End“ Killersätze wie „Wenn es soweit ist, werden wir es wissen. Es kommt immer anders als gedacht. Es wird in Ordnung sein.“ Derart steht Liebeskummer mit löchrigem Schirm in der Wüste und hofft, dass es zumindest regnet. Andere wie „Wir wissen es seit Jahren, wir wissen es so lang: Man ist immer allein“ fügen sich nahtlos ein. Ikonengleich beginnt Sommers Mega-Alt das Album mit „Hier kommt die Kälte, oh-ho-ho-ho-hooo/Da wo ich wohne, ist es immer kalt, kalt, kalt.“ Eine Wucht und Topkandidatin für das Album des Jahres und mit einem fiktiven Schlussdialog: „Daddy, I’m hungry and I’m cold! - So what?“

Udo Feist

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