Chemische Reinigung
zeitzeichen: Professor Fietze, das Bundesland Sachsen-Anhalt hat mit dem Slogan „Wir stehen früher auf“ und „Das Land der Frühaufsteher“ geworben. Was sagt das über das Image des Schlafs in unserer Gesellschaft aus?
INGO FIETZE: Der Schlaf spielt für viele keine Rolle. Viele meinen, wenn man sich gesund ernährt und ausreichend bewegt, dann schläft man auch gut. Auf der anderen Seite aber schläft jeder dritte Deutsche schlecht. Schlafstörungen nehmen auch zu, zum Beispiel, weil es immer mehr Übergewichtige gibt oder weil der Stress auf der Arbeit und zuhause am Schlaf nagt und weil die Leistungsgesellschaft immer mehr von uns fordert – nur nicht einen erholsamen Schlaf. Sicher, in den Medien ist das Thema Schlaf immer gut vertreten. Aber wenn man Fördergelder einfordert oder etwas anderes bewegen möchte, auch politisch oder den Krankenkassen gegenüber, dann ist alles extrem schwierig.
Wieviel Schlaf benötigt der erwachsene Mensch?
INGO FIETZE: Siebeneinhalb Stunden, plus minus eine Stunde. Zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr sind es noch acht oder achteinhalb. Erst mit dem 21. Lebensjahr haben sich Schlafdauer und Schlafgewohnheiten ausgeprägt. Und sie bleiben dann bis ins hohe Alter annähernd unverändert. So auch die Schlafdauer, die im hohen Alter immer noch sieben bis siebeneinhalb Stunden betragen sollte. Dennoch geht das Alter nicht am Schlaf vorbei. Er altert im Laufe des Lebens wie die Haut. Schlafunterbrechungen nehmen zu, und der erholsame Tiefschlaf nimmt ab. Die Schlafzeit und die anderen Schlafstadien ändern sich jedoch nicht mehr wesentlich.
Warum ist ausreichend Schlaf eigentlich wichtig?
INGO FIETZE: Damit wir alt werden und gut aussehen, sich Körper und Immunsystem erholen und die Knochen wachsen und wir ein wenig Energie sparen. Und für unser Gedächtnis. Bei Kindern ist der Schlaf auch für das Wachstum und die Geschlechtsreife sehr wichtig. Übrigens schlafen nur Tiere, die ein Gehirn haben. Daran sieht man, Schlaf ist erst mit dem Hirn gekommen, damit sich die Nervenzellen erholen. Dass wir nicht 24 Stunden am Tag arbeiten können, hängt auch damit zusammen, dass sich das Gehirn nachts chemisch reinigen muss. Zusätzlich ist der Schlaf auch ein Energiesparmodell. Weil wir uns nicht bewegen und weil die Körpertemperatur absinkt, verbrauchen wir weniger Energie.
Amerikanische Schlafforscher haben 2014 formuliert, Insomnie, also Schlafstörung, sei eine eigenständige Krankheit. Warum erst vor zwei Jahren?
INGO FIETZE: Das Phänomen der Insomnie gibt es schon lange. In der internationalen Klassifikation für Schlafstörungen ist die Insomnie die häufigste Schlaferkrankung. Aber es ist erst vor zwei Jahren nachgewiesen worden, dass die Insomnie ein gesundheitliches Risiko darstellen kann. Wenn mir jemand berichtet hat, er schlafe schlecht, konnte ich nie sagen, welchem Risiko er sich damit aussetzt, außer, dass er am nächsten Tag schlechte Laune hat und nicht richtig arbeitsfähig ist. Seit Anfang 2015 steht fest: Wenn man länger als fünf Jahre schlecht schläft, verringert sich die Lebenserwartung. Es ist eben einfach ungesund, dauerhaft ein schlechter Schläfer zu bleiben.
Welches sind die häufigsten Schlafstörungen?
INGO FIETZE: Schlafstörungen kennt jeder dritte Deutsche. Und jeder Zehnte hat eine chronische Insomnie, also ein Nicht-ein-und-durchschlafen-können oder ein zu zeitiges Aufwachen. Und zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung leiden an Schlafapnoe, haben nachts Atmungsaussetzer und schnarchen. Das trifft meisten Männer ab dem vierzigsten Lebensjahr und wird umso schlimmer, je enger der Rachen und je kleiner der Unterkiefer. Es gibt in Deutschland noch keine Prävalenzzahl. Erst im nächsten Jahr werden die ersten epidemiologischen Daten aus Deutschland veröffentlicht, nachdem wir eine Studie in Greifswald gemacht haben. Es ist schon heute abzuschätzen, dass die Prävalenz extrem hoch ist. Gerade im Alter zwischen 40 und 65 ist es die häufigste Schlaferkrankung bei den Männern. Das allgemeine Ranking führt jedoch die Insomnie an, dann kommen die schlafbezogenen Atmungsstörungen und schließlich die so genannten unruhigen Beine. Ferner folgen Menschen mit einem sozialen Jetlag, also Schichtarbeiter. Dann kommen die Parasomnien, also Schlafwandeln oder sich aus dem Traumschlaf bewegen. Zur letzten Gruppe, die Häufigkeit betreffend, gehört die pathologische Müdigkeit, zum Beispiel die Narkolepsie.
Sie beschäftigen sich seit zwanzig Jahren mit dem Schlaf. Haben in diesem Zeitraum die Krankheitsformen zugenommen?
INGO FIETZE: Ja, das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Die Schlafapnoe, das nächtliche Schnarchen und Atemaussetzen, hat einfach dadurch zugenommen, dass es immer mehr übergewichtige Menschen gibt. Und auch die Insomnie, das Nicht-schlafen-können, nimmt zu. Wir haben daher immer mehr Patienten. So kommt zum Beispiel jede Woche ein Schlafwandler. Das hatten wir früher gar nicht. Das heißt nicht, dass Schlafwandeln zunimmt, sondern in diesem Fall, dass unser Zentrum immer mehr Anlaufpunkt wird für solche Patienten wird.
Was raubt Menschen denn den Schlaf?
INGO FIETZE: Entweder hat man eine Erbanlage, die im Leben zu einer Schlafstörung führt oder man hat sie nicht. Viele denken ja, es gehe um eine Befindlichkeitsstörung. Nein, es handelt sich um einen Defekt im Schlaf-Wach-System. Wenn ein Schlafhormon zu wenig oder ein Wachhormon zu viel produziert wird, dann kann man eben nicht mehr schlafen. Ist es andersherum, dann ist man den ganzen Tag müde. Schlaf-Wach-Störungen liegt demnach ein Defekt der Hormone im Schlaf-Wach-Zentrum zugrunde. Leider kommen wir nicht an diese Hormone, da sie im Blut nicht nachweisbar sind.
Gibt es neben der genetischen Veranlagung Faktoren, die die Insomnie auslösen?
INGO FIETZE: 50 Prozent aller Insomniker sagen, dass sie nicht wissen, was die Schlafstörung verursacht hat. Die andere Hälfte kann dagegen einen Auslöser benennen: Stress, Schichtarbeit, Drogen, Alkohol, Operation unter Narkose, erstes Kind bekommen oder ein unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus. Das sind die häufigsten Auslöser.
Und wie behandelt man eine Insomnie? Viele Menschen haben Angst vor Schlaftabletten, denken es sei Teufelszeug. Haben sie Recht?
INGO FIETZE: Nein, das ist vollkommen falsch. Deutschland ist weltweit führend bei der Ablehnung von Schlaftabletten. Das hat auch mit einzelnen Personen zu tun, die immer wieder in den Medien propagieren, die Schlaftablette sei ein Teufelszeug. Aber wer dies behauptet, der ist offensichtlich noch ein guter Schläfer und hat keine Ahnung wie Schlafgestörte leiden. Es gibt überhaupt keinen Grund, dass man die chronische Erkrankung Insomnie nicht behandelt. Es käme auch keiner auf die Idee, chronisches Asthma oder eine Schuppenflechte nicht zu behandeln. Eine chronische Erkrankung gehört chronisch behandelt. Wenn ich eine Blutdrucktablette nehme, habe ich niedrigen Blutdruck. Wenn ich keine nehme, habe ich hohen Blutdruck. Wenn ich eine Schlaftablette nehme, schlafe ich gut. Wenn ich keine nehme, schlafe ich schlecht. Und schließlich gibt es heute sichere und auf lange Zeit gut wirkende Schlaftabletten.
Bleibt die Dosierung bei einer chronischen Insomnie auf demselben Niveau? Oder wird sie sich verändern?
INGO FIETZE: Das hängt von der Tablette ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wirkung der heutigen, guten Schlaftabletten nachlässt, liegt bei 15 Prozent. Da hat man dann eben Pech. Ich kenne Massen von Blutdruckpatienten, die haben mal mit einer Tablette begonnen und sind dann mit der Zeit bei drei oder vier Tabletten gelandet. Da fragt kein Blutdruckpatient nach Abhängigkeit, sondern es wird hingenommen. Nur bei der Einnahme von Schlaftabletten wird ein Riesentheater veranstaltet.
Sie haben organische Gründe für Insomnie genannt. Gibt es auch psychische?
INGO FIETZE: Organische Ursachen von Schlafstörungen sind zum Beispiel Schnarchen, unruhige Beine oder Schmerzen. Bei der nicht-organischen Schlafstörung sprechen wir von der primären Insomnie, dem besagten Defekt im Schlaf-Wach-System. Aber natürlich gibt es auf der anderen Seite viele depressive Menschen oder Menschen, die an Psychosen, Neurosen oder anderen psychischen Erkrankungen leiden. Wenn man eine psychische Erkrankung hat, hat das meistens etwas mit den Hormonen Serotonin und Dopamin zu tun. Diese beiden Stoffe haben auch mit dem Schlaf-Wach-System ihre Bedeutung. Deswegen können psychische Erkrankungen immer auch eine Schlafstörung auslösen und unterhalten. Daher braucht es eine klare Abgrenzung. Wenn jemand mit einer Depression, mit einer Psychose, Neurose oder mit Schizophrenie kommt und auch an einer Schlafstörung leidet, dann ist die am ehesten bedingt durch seine Grunderkrankung.
Kann die Gesellschaft etwas tun, um Schlafstörungen zu vermeiden, zum Beispiel durch bessere Arbeitsbedingungen?
INGO FIETZE: Das beste Schichtmodell, sagen die Schweden, ist, wenn sich der Schichtdienstleistende selber seine Schichten zusammenstellt. Das ist am gesündesten für ihn. Die Mutter mit zwei Kindern macht das sicherlich anders als ein alleinstehender Mann. Den schwarzen Peter hat dann der Schichtdienstleiter, der das Ganze unter einen Hut bringen muss. Ich kenne keinen Betrieb in Deutschland, der das bisher so macht. Aber ich empfehle das, weil es im Moment der Stand der Wissenschaft ist. Auch wenn es sich nicht immer umsetzen lässt. Das nächste ist das Nickerchen. Lasst doch die Leute wenigstens am Tage ein bisschen schlafen, in Ruheräumen zum Beispiel. Doch dieser Schlaf hat ein schlechtes Image. Keiner traut sich. Die Leute gehen an die Luft, trinken die zehnte Tasse Kaffee oder rauchen noch eine. Doch das ist ungesund.
Also sollten wir eine Siesta halten?
INGO FIETZE: Nein, keinen Mittagsschlaf von eineinhalb Stunden, sondern nur einen Schlaf, der maximal dreißig bis vierzig Minuten dauert, länger nicht. Aber es ist furchtbar schwer, diese Kultur in Deutschland einzuführen. Ansonsten müssen die Leute darauf achten, dass sie sich abends entspannen und nicht zu spät Kaffee oder Alkohol zu trinken. Der Konsum von Drogen nimmt ja auch immer mehr zu. Hier in Berlin gab es Ende Mai eine Hanfmesse. Das ist doch unglaublich. Denn diejenigen, die das Zeug regelmäßig konsumieren, bekommen irgendwann alle eine Schlafstörung.
Der Schlaf hat in Deutschland eher ein schlechtes Image. Ist das in anderen Ländern anders?
INGO FIETZE: In den USA und in Japan ist das ganz anders. In Japan zieht man vor jedem, der schläft, auch am Tage den Hut. Denn er scheint anstrengend zu arbeiten. Bei uns gilt man dagegen als Faulenzer, wenn man gerne und gut schläft.
In Deutschland fängt auch die Schule früher an, als in anderen Ländern. Würden Sie empfehlen, den Unterricht später beginnen zu lassen?
INGO FIETZE: Auf jeden Fall. Ab dem zwölften bis 13. Lebensjahr verschiebt sich der Schlafrhythmus zwei Stunden nach hinten. Und da ist es richtig, dass man die Kinder länger schlafen lässt und später mit der Schule anfängt. Doch schwierig wird es, wenn die Eltern um acht auf der Arbeit sein sollen und die jüngeren Kinder erst um neun in der Schule. Dann müssten die Kinder eben vorher in den Hort gehen. Zusätzlich müssten die Eltern dafür sorgen, dass die Kinder bei späterem Schulanfang nicht zwei Stunden später ins Bett gehen, sondern die Zeit auch für mehr Schlaf nutzen.
Unter den Menschen gibt es Frühaufsteher und Nachtmenschen, Lerchen oder Nachtigallen, oder?
INGO FIETZE: Zirka achtzig Prozent sind Normalschläfer und nur zwanzig Prozent Lerchen oder Eulen.
Kann man gesunden Schlaf lernen? Oder kann man lernen, besser zu schlafen?
INGO FIETZE: Wenn man ein schlechter Schläfer ist, kann man lernen, besser zu schlafen. Aber man kann in der Regel nicht lernen, wieder so gut wie in früheren Jahren zu schlafen, also sein Schlafproblem zu heilen. Eine chronische Erkrankung kann besser werden durch die so genannte kognitive Verhaltenstherapie. Davon leben ja ganze Berufsgruppen wie Homöopaten, Heilpraktiker und wie sie alle heißen. Viele Schlafgestörte suchen solche Angebote, da sie keine Tabletten nehmen wollen. Letztendlich kommen dann aber doch viele irgendwann zu uns und sagen, sie hätten alles ausprobiert und viel Geld gelassen, im Endeffekt ohne erhofften Effekt. Zum Teil mag es einen Monat oder ein halbes Jahr besser geworden sein, aber letztendlich haben die Leute gemerkt, dass ihre Schlafstörung nicht wirklich heilbar ist.
Was hat Sie gereizt, sich der Schlafmedizin zuzuwenden?
INGO FIETZE: Wahrscheinlich weil es im Studium nie gelehrt wurde und ich anfangs nicht wusste, was es ist.
Warum wurde das nicht gelehrt?
INGO FIETZE: Weil es tatsächlich ein noch junges Fachgebiet ist. Daher wurde es vor 35 Jahren nicht gelehrt. Und bis heute hat sich wenig geändert. Es gibt nur wenige Universitäten in Deutschland, wo Studenten Schlafmedizin lernen. Wir lehren es erst seit zwei, drei Jahren an der Berliner Charité. Ich traue mich zum Beispiel noch nicht, im Staatsexamen nach der Insomnie zu fragen. Denn die heutigen Studenten dürften noch keine Antworten wissen, weil dieses Thema vor sechs Jahren noch nicht auf dem Lehrplan stand. Es ist ein Dilemma, dass viele Hausärzte, Allgemeinmediziner und Internisten im Studium nichts von Schlafstörungen gehört haben. Viele wissen heute zwar, dass es für Apnoeiker eine Atemmaske gibt, aber es fehlt an Wissen über die Insomnie oder andere Schlafstörungen. Für fast jedes Problemchen gibt es in Deutschland heute einen speziellen Arzt. Wenn Sie Rückenschmerzen haben, wissen Sie genau, wohin Sie gehen müssen, aber leider nicht, wenn Sie Schlafprobleme haben. Denn es fehlt an niedergelassenen Schlafmedizinern, die es in jeder Stadt geben müsste, sozusagen als Erstanlaufpunkt.
Und warum gibt es sie nicht?
INGO FIETZE: Mit Insomnikern können Sie kein Geld verdienen. Die/der Schlafgestörte sitzt ja eine halbe oder eine ganze Stunde vor Ihnen und raubt viel Zeit. Mit einem Insomniker können Sie sich nur unterhalten, ihm einen Fragebogen geben oder ein Schlaftagebuch aushändigen. Dafür gibt es keine Abrechnungsziffern. Da können Sie vielleicht zehn Euro oder 15 Euro abrechnen. Das ist ein strukturelles Problem. In den usa gibt es viele Schlafmediziner und auch andere Vergütungsmodelle. Ich bin einer der wenigen Ärzte, die 100 Prozent ihrer Arbeitszeit für die Schlafmedizin aufwenden. Zwar haben wir in Deutschland 319 Schlaflabore. Aber ob jemand ins Schlaflabor muss oder nicht, muss im Vorfeld ein Schlafmediziner entscheiden. Insomniker zum Beispiel gehören in der Regel nicht ins Schlaflabor. Die kann man in der Praxis so betreuen.
Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Jürgen Wandel am 24. August in Berlin.
Ingo Fietze