Soundtrack für den Schlafentzug

Die Popgeschichte beschreibt die Eroberung der Nacht mit Rausch und Drogen
Die Nacht durchtanzen: Techno-Rave „Mayday“ in Dortmund. Foto: dpa/ Thomas Frey
Die Nacht durchtanzen: Techno-Rave „Mayday“ in Dortmund. Foto: dpa/ Thomas Frey
In der Oktober-Ausgabe von zeitzeichen durchstreifte der Wiener Musik-journalist Samir H.Köck die zeitgenössische Musikszene nach Stücken zum Thema Schlaf. Der Autor und Musikkritiker Udo Feist wählt einen anderen Ansatz. Für ihn beschreibt Pop vor allem die durchwachten Nächte und die Verhinderung des Schlafs durch Rausch und Drogen.

Eine laue Sommernacht mit Lagerfeuer, Kartoffelsalat und Cola im Übermaß. Zelte waren aufgebaut, doch geschlafen hat keiner. Stattdessen haben sie auf dem taufeuchten Rasen bis morgens Fußball gespielt, Fangen, Verstecken, Mau-Mau, geredet, manche sogar geknutscht. Irgendwann zu Beginn der sechsten Klasse haben sie zum ersten Mal durchgemacht! Die zum Schlafen gedachte Nacht zum Tag gemacht. Weil es so schön war. Später, zu Hause, schliefen sie überdreht, erschöpft und glücklich noch vor dem Mittagessen ein.

Ein euphorisierendes Erlebnis, ein Sieg über die Müdigkeit der Körper, Notwendigkeiten, das Vorgesehene von Vernunft oder Eltern. Sie begegnen uns später wieder, im Freiwilligen Sozialen Jahr, als Banklehrling mit Krawatte und Krankenschwester, linke Autonome, tätowiert, im Studium. Manchmal machen sie wieder die Nacht zum Tag, feiern in Clubs in Berlin-Friedrichshain oder im Schrebergarten. Angetrunken, bekifft, von Wachmachern befeuert, aber immer mit Musik, zu der sie tanzen, lärmen, fliegen, dämmern, ausgelassen sind.

Pop kann, wie die erste durchgemachte Nacht, intensives Heraustreten aus Angeordnetem und Vorgezeichnetem sein, Refugium von Befreiung, Rebellion – und nicht zuletzt Rausch. Entsprechend schillernd und zugleich gesellschaftlich aufschlussreich ist die Popgeschichte, in der es stets um beides geht: um die dem Schlaf abgetrotzten und so eroberten Nächte und um Träume. Schöne, verlorene, gelebte, ersehnte und jene, die wir fürchten, die uns verfolgen. Popgeschichte ist dabei stets multitoxisch, begleitet von Substanzen, die dem Nachtraub Anschub geben, weshalb das Betrachten der je bevorzugten Drogen – ähnlich wie das von Leitfossilien – lohnt. Denn Ian Durys Dreigestirn Sex & Drugs & Rock’n’Roll ist in dieser Hinsicht viel zu ungenau.

Gelöste Bremsen

Im Süden der usa, wo man treu die Bibel hochhielt, Schwarze indes gnadenlos lynchte und zugleich glühend um ihre Musik beneidete, stieg in den 1950ern der Rock’n’Roll-Stern Jerry Lee Lewis auf, mit rasenden Pianokrachern wie Whole Lotta Shakin’ Going On, Real Wild Child und den doppeldeutig, nämlich sexuell konnotierten Great Balls Of Fire. Wie sein bigotter Evangelisten-Cousin Jimmy Swaggart wollte er Prediger werden, flog aber von der Bibelschule, weil er eine Gospelhymne flammend im Boogie-Woogie-Furor gespielt hatte. „Heute spielen in den Kirchen alle so. Der Unterschied: Ich weiß, dass ich für den Teufel spiele, die nicht“, sagte er später dazu. Seinen Weg säumen Exzesse, meist von Alkohol induziert, damals noch die einzige leicht erhältliche Droge. Der löst die Bremsen ähnlich wie die Musik, die eindeutig auf den pelvis (Becken) zielte. Da war es von Pettycoat zu Petting nicht weit. Die Träume galten dem Körper, machten sich stolz die Halbstarken-Abwertung zu eigen und brachen sich Bahn in wildem Tanz und Aufruhr gegen Doppelmoral und Gängelung. Als der Bill-Haley-Film Außer Rand und Band (Rock Around The Clock) 1956 im Capitol in Dortmund lief, legten sich danach viertausend Halbstarke spontan mit der Polizei an, sie warfen Steine und randalierten. Plötzlich war die Nacht zum Aufruhr gegen Mief, Enge und verlogene Verschlafenheit der Adenauer-Republik da – sie hatten die Macht von so etwas wie Protestkultur entdeckt.

Es waren junge Leute, die weiter die Woche über malochen gingen. Tanz, Recht auf befreite Körper und Schlaflosigkeit sparten sie für Tanzabende und Konzerte an Wochenenden auf, zahlten brav Eintritt und prügelten allenfalls betrunken untereinander. Der Körper hat nun mal kein Programm. Dann kamen Beatmusik, Beatlesmania und hysterisch schreiende Mädchen – und die Haare wurden lang. Gammler wurden die nachmaligen Hippies genannt, sie lungerten mit Fellkragen herum, rauchten Haschisch und merkten, dass nicht verhungert, wer Love, Peace & Happiness zum Lebensmotto wählt und Lehrer wie Meister einen guten Mann sein lässt. Mit Kerouacs On The Road oder Hesses Steppenwolf zerlesen in der Tasche hörten sie Platten, auf denen Gitarrensoli länger waren als je zuvor. Jimi Hendrix lieferte dazu mit Purple Haze die Hymne, die offen auf psychedelische Erfahrungen anspielte (Purple Haze ist eine mit lila Aura umgebene Cannabis-Unterart). Die Türen zu faszinierenden Innentraumwelten sprangen weit auf, oft LSD-geschwängert, von jener Droge, die der Chemiker Albert Hofmann erfunden hatte. Er verglich es mit dem ähnlich wirkenden Mutterkorn und zog die Parallele zu Erlebnissen bei den Mysterien von Eleusis. Beide Drogen verkabelten das Hirn neu, die Effekte auf das Bewusstsein waren erstaunlich.

Timothy Leary wurde zum lsd-Propheten, Alduous Huxley lieferte mit seinem Meskalin-Band The Doors of Perception/Pforten der Wahrnehmung (der Titel wiederum spielte auf William Blake an) das Stichwort, nach dem sich die Doors benannten. Mit ihrem Song The End (kanonisch seit Coppolas Vietnam-Film Apocalypse Now) setzten sie auf Freuds Spuren die Reise in die Wirrnisse des Unterbewusstseins fort, Vatermord und Mutterinzest inklusive. Ein Song, dem vielen Gänsehaut und Einblick in Seelenabgründe verdanken – und die irisierenden Zeilen Weird Scenes Inside The Gold Mine.

Die Love-Peace & Happiness-Illusion zeigte da längst schon verstörende Rückseiten des Traums. Und Heroin kam auf, gab den ultimativen Kick, sprengte jedoch das spirituell-psychedelisch Bunte und nahm vielfach das Leben. Neil Youngs The Needle And The Damage Done wurde zum Fanal, Janis Joplin erwischte (kombiniert mit Whisky) die Überdosis. Rausch und Flirt mit künstlichen Paradiesen wurden tödlich. Aber schon die Alpträume, auf die man mit LSD stoßen konnte, waren keineswegs harmlos. Von den Trips kamen viele zudem nicht mehr zurück, sie blieben darauf hängen. Körper (sprich: das Hirn) und bildvergorene Seele waren nun mal aneinander gekoppelt, und die Neuverkabelung war insofern ein gefährlicher Spaß. Und Purple Haze (Excuse me while I kiss the sky) war die Realität ohnehin nicht, im Gegenteil.

Bei aller Relevanz für die Nachteroberung, die Befreiung und Luft beschert und das gesellschaftliche Klima beeinflusst haben mag, war Popmusik immer auch Ware. Wir leben nun mal im Kapitalismus. Das machte sie korrumpierbar, trotz der Lauterkeit vieler Beteiligter. Insofern war es an der Zeit, dass Punk und New Wave in den 70ern den satten Supergroups ihr „Fuck off!“ entgegenschleuderten. Mit Sicherheitsnadeln, Domesto-Jeans, dem Aufputschmittel Pep (Amphetamin) und zunächst rein gemeinter No-future-Verneinung, was in Kombination mit dem Teufel H aber nicht nur für Sex-Pistols-Bassist Sid Vicious tödlich endete. Die Reinigung war lustvoll heiter, doch der Kehraus verratener Träume bitter. Songs benannten die Verwirrung. Gespenster zogen auf, besonders bewegend in Gestalt des Joy-Division-Sängers Ian Curtis, der sich kurz vor Beginn ihrer US-Tournee umbrachte. In Decades hatte er gesungen: „Here are the young men, the weight on their shoulders,/Here are the young men, well where have they been?/We knocked on the doors of Hell‘s darker chamber,/Pushed to the limit, we dragged ourselves in,/Watched from the wings as the scenes were replaying,/We saw ourselves now as we never had seen./Portrayal of the trauma and degeneration,/The sorrows we suffered and never were free./Where have they been?“ Der Song wurde zum Stimmungsemblem, Nachterleben und Träume waren düster geworden. In einer Zeit der Angst vor Atomtod-Overkill legten zu Labelcompilations wie Valium Orgasms dazu nahtlos nach. Doch plötzlich war es 1984 geworden.

Die Hedonisten Frankie Goes To Hollywood brachten Welcome To The Pleasure Dome heraus. Das funky Album mit dem Superhit Relax war ein Epochenbruch – und der Schalter auf Tanz und Vergnügen umgelegt. Lust wurde zum Gebot, zu dessen Verlängerung man alles nahm, was aufputschte: Koks, Pep, Ecstasy. Manchester, gerade als Heimat von Joy Division im Popatlas markiert, mutierte zu Madchester mit wild zuckender Mischung aus Independent-, Psychedelia- und Elektromusik, deren rauschende Partys als Raves bezeichnet wurden. Eine Übernahme aus der zeitgleichen Supernova Techno. Auch hier galt nur eins: Tanzen! Gefeiert wurde tagelang, geträumt in chemisch unterstützter Trance, illegal auf den berühmten Warehall-Partys, in Abbruchhallen also, rasch dann auch zu überwältigenden Licht-Installation in Diskotheken. Das Nachwende-Berlin bot mit vielen nun plötzlich zugänglichen Bauten optimale Bedingungen, wurde weltweit prägend und beerbte die Woodstockträume ironisierend fröhlich: Zum Slogan Friede, Freude, Eierkuchen zog eine erste Love Parade durch die Straßen und rief die Tanzrevolution aus. Anfangs mit einigen Hundert, später mit Millionen, deren von Drogenresten strotzender Urin den Tiergarten stresste.

Feiern als Pflicht sozialisierte seither Generationen von Nachwachsenden. Wie da noch Träume Platz finden und welche, mag man fragen. Zum Schlafen ist jedenfalls keine Zeit, ein Signum der Epoche. Höher, schneller, mehr – die Wucht des Neoliberalismus, dessen Sprache sogar das EKD-Papier Kirche der Freiheit einfärbte, macht vor nichts Halt. Heraufkunft der digitalen Welt und Verschwinden der anderen in deren Overkill. Das Dauer-Überschreiben von fassbarer Wirklichkeit mit maximaler Informationsdichte, Schnelligkeit und flüchtigen Oberflächen tun das Übrige. Zwang zur Selbstoptimierung selbst in spirituell angehauchten Kreisen steht seither versöhnt neben Yuppietum. Es ist der Druck, der sie eint. Luzide waren es wieder mal die Goldenen Zitronen, die den Ausverkauf aufspießten. Ihr Song Duisburg zur Love-Parade-Katastrophe 2010 deutete zudem an, wie neue Traumareale zu suchen wären: „Zuvor gekauft eine Marke/deren Anteile von den Gründervätern beizeiten rechtzeitig verscherbelt worden waren/in Duisburg im Tunnel/in wenigen Minuten zerquetscht die Reste der großen Idee/in postindustrieller Brache, dem Stadtbild entzogen, die Kirmes-parade/in einen Laufstall gepfercht, der zur Mausefalle wurde/anstatt die Stadt sich zu nehmen ohne zu fragen.“ Und in Scheinwerfer und Lautsprecher (ebenfalls auf Who’s Bad; 2013) markieren sie, was fehlt: „Ich will auch nicht meine Ruhe haben/ich will in Ruhe – gelassen werden.“ Überschwang hat eben Kehrseiten. Dass das sedierende Ketamin (haut Pferde um, heißt es in der Szene) aktuell in manchen Feierkreisen beliebter wird, zeigt auf seine Weise den Bedarf.

Konzert von Farben

Mit seinem achtstündigen Werk Sleep setzt Max Richter da einen Punkt. Lullaby for a frenetic world/Wiegenlied für eine überdrehte Welt nennt es der britische Komponist selbst. Er war Schüler des Italieners Luciano Berio, ist von Minimal Music beeinflusst und hat auch als Filmkomponist einen Namen (die Musik des Animationsfilms Waltz with Bashir stammt von ihm). Richter arbeitete intensiv mit Techno- und Ambient-Pionieren und versteht Musik als Konzert von Farben, Klängen und Gefühlen. Kammermusikalische Instrumentierung und Ambient-Samples verbindet er. In Sleep hören wir Streicher, Piano, Orgel, Synthesizer und eine Sopranistin über einen mutmaßlich optimalen Schlafzeitraum lang. Das wiegt und wogt, fasziniert, irritiert, wie es vielleicht beim wirklichen Schlaf ist. Wer sich drauf einlässt, muss damit rechnen einzuschlafen. Aber das soll sein: Bei einer ersten Aufführung in kleinem Kreis in London im Herbst, wie auch bei der Premiere im Frühjahr in Berlin im Kraftwerk, waren Feldbetten aufgestellt. Sicher, ein Event, wie es heutzutage unvermeidlich scheint, aber ein großes. Das sind auch die Editionen, ob opulente 8-CDs-Box, Auszüge auf einer CD oder die Remixe (LP und Download), unter anderem von Mogwai, den Klangfanatikern aus Schottland. Alle sind beim Klassiklabel Deutsche Grammophon erschienen und absolut hörenswert.

Ein Erlebnis, was den Kreis zu Lagerfeuer, Kartoffelsalat und Cola schließt: Vielleicht ist doch das Leben der Traum und der Schlaf danach die Erholung davon. Oder wie Shakespeares Zauberer Prospero aus dem Sturm sagt, den das Innencover der Richter-CD zitiert: „We are such stuff/As dreams are made on, and our little life/Is rounded with a sleep.“ Popmusik jedenfalls ist ein orphischer Begleiter, der die Rückseiten von Ausruhvernunft, Selbstoptimierung und Schlafmaske ebenso spiegelt wie er sie befeuert. Ein Pool von Aufgeregtheiten, Sehnen, Begehren, Irritation und Trug, individuell wie auch gesellschaftlich fehlbar. Doch die wüst erlösenden Träume von Was wäre wenn, Gleichberechtigung, Lust und Anarchie haben hier einen wunderbaren Ort. Ohne Rückversicherung. Aber schön anzuhören ist es schon. Nachtlang.

Udo Feist

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