Nur ein bisschen Frieden

Das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik setzt zu sehr auf das Militär
Einsatz in Afghanistan, Oktober 2011. Foto: dpa
Einsatz in Afghanistan, Oktober 2011. Foto: dpa
Seit Juli liegt das sogenannte Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr vor. Renke Brahms, Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, sieht die neue Kursbestimmung der deutschen Sicherheitspolitik kritisch. Der Blick auf zivile Konfliktlösungen komme viel zu kurz.

Im Juli hat die Bundesregierung das neue „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ vorgelegt. Es ist das oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument, und es stellt eine strategische Standort- und Kursbestimmung der deutschen Sicherheitspolitik dar. Entsprechend große Beachtung hat es gefunden. Und dies zu Recht. Denn dieses Weißbuch symbolisiert eine Trendwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, es ist eine Renaissance klassischer Machtpolitik, zu der leider auch der Einsatz militärischer Mittel gehört. Und aus diesem Grund kann es nicht verwundern, dass das Weißbuch nicht nur in der evangelischen Friedensarbeit auf Skepsis und Kritik stößt. Dieses Weißbuch sollte erstmals in einem breit angelegten Beteiligungs- und Diskussionsprozess entstehen. Es war ein neuer, es war ein wichtiger Ansatz, zumal auch entwicklungs- und friedenspolitische Ansätze oder Beiträge aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie den Kirchen berücksichtigt werden sollten. Und in der Tat: Grundanliegen evangelischer Ethik sind durchaus mit gehört worden, als es um die Orientierung an der internationalen Rechtsordnung und die Ausrichtung auf eine nachhaltige Entwicklung ging. Auch die Breite der Analyse und die Weite des Horizonts sind in diesem Weißbuch durchaus beeindruckend. Doch leider sorgte die Bundesregierung selbst für gewisse Irritationen, was diesen Beteiligungsprozess betrifft. So betonten Regierung und Verteidigungsministerium noch während der laufenden Beratungen am Weißbuch, dass die Mittel für die Bundeswehr deutlich angehoben werden sollen und dass dabei die NATO-Forderung, wonach künftig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgegeben werden sollen, angestrebt werde. Wenn es aber schon entsprechende Vorfestlegungen gibt, dann erscheint eine solche Beteiligung unglaubwürdig. Sicher nicht ohne Grund kritisierten viele diesen Beteiligungsprozess daher als Feigenblatt.

Im Sommerloch

Dies gilt umso mehr, als dieses Weißbuch mitten im Sommer der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wodurch es quasi ins Sommerloch fiel. Auch dies konterkariert den erklärten Wunsch der Ministerin nach einer breiten Beteiligung und Diskussion. Eine Veröffentlichung zu diesem ungünstigen Zeitpunkt diente jedenfalls nicht einer Debatte über die Inhalte. Daher ist es wichtig und erforderlich, dass die Diskussion über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands weitergeht. Die evangelische Kirche will ihren Beitrag auch weiterhin dazu leisten und das Gespräch mit der Politik und in der Gesellschaft suchen. Erfreulicherweise formuliert das neue Weißbuch den Vorrang von Krisenfrüherkennung, Konfliktprävention und ziviler Krisennachsorge. Um Gewalt zu vermeiden, einzudämmen und zu beenden, werden dabei in erster Linie diplomatische Mittel genannt. Dies ist der richtige Ansatz, der auch von der evangelischen Friedensarbeit nachdrücklich unterstützt wird. Doch leider wird dieser richtige Ansatz dann nicht weiter umgesetzt. Im Gegenteil: Wenn es um die konkrete politische Praxis geht, konzentriert sich das Weißbuch wieder auf den Beitrag der Bundeswehr. Da spielen dann das Personal, eine bessere und großzügigere Ausstattung der Truppe und eine bessere finanzielle Unterstützung die zentrale Rolle. So entsteht der leider fatale Eindruck, dass im Zweifelsfall dann doch wieder die Bundeswehr, also das Militär, das vorrangige Instrument deutscher Sicherheits- und Außenpolitik darstellt, während alternative - und das heißt zivile - Konfliktbearbeitungsmodelle nicht gestärkt werden, sondern völlig in den Hintergrund treten. Dies zeigt sich ganz deutlich in der schon genannten Ankündigung einer langfristigen Erhöhung des Verteidigungsetats auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes, was einer Verdoppelung der bisherigen Gelder gleich käme. Nur zum Vergleich: Deutschland hat sich, wie viele andere Länder auch, dazu verpflichtet, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen. Ein Ziel, von dem Deutschland nach wie vor immer noch weit entfernt ist. Da ist es ein fatales Signal nach außen, wenn diese Selbstverpflichtung weiter unterlaufen wird, der Verteidigungsetat aber deutlich wachsen soll. Es würde der Glaubwürdigkeit deutscher Politik gut tun, wenn auch in einem Weißbuch konkrete und substanzielle Aussagen über eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung sowie eine Stärkung von nicht militärischen Instrumenten zu finden wären. Leider setzt sich dieser Vorrang des Militärs vor Zivil auch beim Bundeshaushalt fort, womit diese Vorgaben des Weißbuches offenbar schon umgesetzt werden sollen. Denn nach dem jetzt vorgelegten Etatentwurf für 2017 ist eine Steigerung des Verteidigungshaushaltes um 2,3 auf 36,6 Milliarden Euro vorgesehen, während die Mittel des Auswärtigen Amtes, wo die zivile Konfliktbearbeitung beheimatet ist, um 200 Millionen Euro auf 4,6 Milliarden Euro sinken. Das Ungleichgewicht zwischen Zivil und Militär wird dadurch weiter vergrößert. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik schlägt damit eine falsche Richtung ein. Viele in der evangelischen Friedensarbeit betrachten nicht zuletzt deshalb das neue Weißbuch mit Skepsis. Die Aktionsgemeinschaft „Dienst für den Frieden“, der insgesamt 32 Organisationen und Institutionen angehören, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Arbeitsprogrammen im In- und Ausland Friedensarbeit leisten, sieht in dem Weißbuch „veraltete Diagnosen und Rezepte“, in der Fragen der Globalisierung und der Digitalisierung als Ursachen für eine neue Unsicherheit ausgeklammert würden.

Computer als Waffe

Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden befürchtet eine Zunahme der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung von Reservisten und aktiven Soldaten, da im Bereich „Cyber“ den Reservisten zukünftig eine wichtige Unterstützungsfunktion zukommen wird. Zudem sei auch die Frage, welche Informationstechnologien denn nun Waffen seien, völlig unzureichend geklärt. Das sind Positionen, die es durchaus zu beachten gilt und die nicht einfach abgetan werden dürfen. Denn sie sprechen Punkte an, auf die das Weißbuch in der Tat nur wenige oder keine Antworten gibt. So sprechen die Autoren zwar von den Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum, führen „Cyber“ als neue Teilstreitkraft der Bundeswehr ein und betonen, dass die Bundeswehr bei der Verteidigung gegen Cyber-Angriffe nicht nur defensiver, sondern auch offensiver Hochwertfähigkeiten bedürfe. Dies macht die Informationstechnologie zu einer Waffe. Und was, wenn sich Soldaten hier auf ihr Grundrecht berufen, dass niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf? Dies ist eine völlig offene Frage, auf die das Weißbuch keine Antwort bereithält. Ähnlich ist es mit der Benennung von Konfliktursachen. Sicher: Das Weißbuch beschreibt viele Bedrohungsszenarien. Aber es sagt nur sehr wenig zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen, zu Ungerechtigkeiten zwischen Nord und Süd, zu Hunger und Not, zu Wasserknappheit und dem nicht gerechten Zugang zu Ressourcen. Und damit auch zu wichtigen Ursachen, die zu Konflikten führen können und schon führen. Die Autoren verzichten leider auf eine ausreichende Analysetiefe in Bezug auf die sozialen und ökonomischen Asymmetrien der Globalisierung, obwohl sie selbst auf die „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen verweisen. Danach sind eine nachhaltige Entwicklung, der Kampf gegen Armut und Hunger sowie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen grundlegend für Frieden und Sicherheit in der Welt. Wer dies aber betont, muss auch konkrete Konzepte aufzeigen, wie diese Ungerechtigkeiten abgebaut werden können. Was im neuen Weißbuch ebenso zu kurz kommt, sind klare Perspektiven für eine zivile Konfliktbearbeitung. Nicht zuletzt aufgrund seiner Geschichte müsste sich Deutschland eigentlich verstärkt bei internationalen Krisen für den Vorrang einer zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung einsetzen. Und dazu bedürften die zivilen Mittel einer größeren Aufmerksamkeit. Was wäre dafür besser geeignet als ein Weißbuch, das sich als Standortbestimmung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik versteht? Denn es ist wichtig, dass gerade im öffentlichen Bewusstsein der Vorrang von zivilen vor militärischen Mitteln einen höheren Stellenwert einnimmt und bei internationalen Konflikten nicht sofort der Ruf nach einer militärischen Intervention laut wird. Deutschland hat auf diesem Feld einen großen Erfahrungsschatz, diesen gilt es zu nutzen. Doch dafür müssen die zivile Konfliktbearbeitung und der zivile Friedensdienst finanziell und personell deutlich besser ausgestattet werden. Hier hat das Weißbuch eine große Chance vertan. Leider.

Diskussionen nötig

Die evangelische Friedensethik betont den „Gerechten Frieden“, also den Zusammenhang von Frieden und Recht, Gerechtigkeit und Sicherheit als den entscheidenden und orientierenden Grundbegriff der Sicherheitspolitik. Im neuen Weißbuch kommt der Begriff Frieden jedoch nur sehr selten vor. Stattdessen ist viel von „Bedrohung“, „Sicherheit“ und „Resilienz“ die Rede. Hier stellt sich die evangelische Friedensethik - und da schließe ich bewusst auch die Militärseelsorge mit ein - die Frage, ob eine Sicherheitspolitik ohne eine orientierende Kraft einer positiven und konstruktiven Vision wie der des „gerechten Friedens“ wirklich möglich ist. Denn Frieden und Sicherheit müssen in einer Gesellschaft verankert sein. Egal, ob in Deutschland, in Europa oder weltweit. Die gemeinsame Stellungnahme von EKD-Friedensbeauftragtem und EKD-Militärbischof zum neuen Weißbuch betont daher, dass dafür der Aufbau von Vertrauen, eines gewaltfreien Interessenausgleichs und einer Vision des Friedens, der dort gedeihen kann, wo Not abgebaut, Freiheit gefördert und kulturelle Vielfalt ermöglicht wird, zwingend erforderlich sei. Vielleicht geht die Zeit der Weißbücher zu Ende. Die außen- und sicherheitspolitische Situation ist mittlerweile so komplex geworden, dass sie nicht nur aus einer Perspektive allein zu betrachten ist, sondern mehrerer Blickwinkel bedarf. Darum wäre statt eines Weißbuchs vielmehr ein friedenspolitisches Grundlagendokument der Bundesregierung nötig, in dem alle beteiligten Ministerien gleichberechtigt zu Wort kommen. Das jetzige Weißbuch kann diesen Anspruch nicht erfüllen, auch nicht in seinem ersten Teil. Die dringend erforderliche Diskussion über die zukünftige deutsche, ja auch europäische Außen- und Sicherheitspolitik darf daher mit der Vorlage dieses Weißbuchs nicht zu Ende sein. Im Gegenteil: Diese Debatte muss nun umso intensiver, engagierter und fruchtbarer weitergeführt werden. Denn Deutschland braucht dringend eine in der Gesellschaft verankerte, über die sicherheitspolitische Eliten hinausgehende Diskussion darüber, welche politischen Konzepte in Fragen von Frieden und Sicherheit zukunftsweisend sind. Die im September veröffentlichte gemeinsame Stellungnahme von EKD-Friedensbeauftragtem und EKD-Militärbischof zum Weißbuch betont, dass bei dieser Diskussion aber nicht nur die Impulse des Weißbuches für die Zukunft der Bundeswehr bedacht werden sollen. In zumindest gleicher Intensität sollten auch die nichtmilitärischen Instrumente deutscher Friedenspolitik im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Die evangelische Kirche will und wird sich an einer solchen Debatte ganz sicher mit kritischen Fragen und konstruktiven Beiträgen beteiligen.

Renke Brahms

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