In der Defensive

Wie ein Korrespondent die europäischen Institutionen erlebt
Im Berlaymont-Gebäude in Brüssel residiert die „EU-Kommission der letzten Chance“, wie ihr Präsident Jean-Claude Juncker sagt. Foto: dpa/ Thierry Monasse
Im Berlaymont-Gebäude in Brüssel residiert die „EU-Kommission der letzten Chance“, wie ihr Präsident Jean-Claude Juncker sagt. Foto: dpa/ Thierry Monasse
Europa steckt nicht nur in einer Krise, sondern gleich in mehreren. Woran liegt das? Und was bedeutet das für die Arbeit der Parlamentarier, EU-Beamten und der Journalisten? Eric Bonse, der seit 2004 als Korrespondent in Brüssel arbeitet, beschreibt die veränderte Lage.

Jeden Werktag um kurz nach zwölf Uhr wird Europa neu erfunden. Jedenfalls das Europa, das die 13?000 EU-Beamten im Berlaymont, dem Sitz der Europäischen Kommission, verwalten. Es ist ein schönes Europa, eine heile Welt voller guter Vorsätze und noch besserer Taten, eine Union auf dem Weg in eine glänzende Zukunft.

Da werden Arbeitsplätze geschaffen, Investitionen angestoßen, da wird Bürokratie abgebaut und Transparenz geschworen. Auf jede Frage gibt es eine Antwort, für jedes Problem gibt es eine Lösung, und natürlich gehorcht alles den europäischen Werten und den gemeinsamen Regeln, schließlich ist Europa eine Wertegemeinschaft.

Es ist die Stunde der Pressesprecher, die ihr tägliches „Midday Briefing“ für die mehr als 1?000 akkreditierten EU-Korrespondenten nutzen, um Europa und seine Kommission in bestem Licht darzustellen. Ihr Chef ist Margaritis Schinas, ein griechischer EU-Beamter, den Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einem Besuch in Athen kennenlernte und vom Fleck weg engagierte.

Es war eine schöne Geste mitten in der Griechenland-Krise. Seht her, wir stehen zu Athen, wollte Juncker damit sagen. Doch mit Gesten geben sich die Journalisten nicht mehr zufrieden. Sie wollen Taten sehen und stellen zunehmend kritische Fragen. „Ist die EU in der Flüchtlingskrise gescheitert?“, will eine Korrespondentin wissen. Und plötzlich versagt die gut geölte PR-Maschine.

„Es ist nicht fair, uns zu kritisieren“, schimpft Dimitris Avramopoulos, der für Flüchtlinge zuständige EU-Kommissar, der an diesem Tag im Februar im Pressesaal Rede und Antwort steht. „Kritik zu üben, ist immer leicht. Wir tun genau das, was wir tun können. Wenn die Mitgliedstaaten auch getan hätten, was sie sollten, dann sähe die Situation jetzt ganz anders aus.“

Es ist einer der seltenen Momente der Wahrheit in Brüssel. Ein Moment, in dem die bürokratische Routine aufbricht und der ganze Frust der Berufseuropäer zum Ausdruck kommt. Seit Monaten versuchen sie, den Laden zusammenzuhalten und Lösungen zu finden. Doch wenn die EU-Staaten nicht mitspielen, sind sie machtlos.

Dabei wussten alle, dass schwere Zeiten auf sie zukommen würden. „Dies ist die Kommission der letzten Chance“, hatte Juncker schon im November 2014 gewarnt, als sein 28-köpfiges Team an den Start ging. „Zu wenig Europa, zu wenig Union“, klagte er im September 2015, als die Flüchtlingstrecks über den Balkan nach Deutschland zogen.

Nun ist alles noch viel schlimmer gekommen. Europa steckt nicht in einer, sondern gleich in mehreren Krisen, der „Poly-Krise“. So nennt Juncker die explosive Mischung, die aus verschleppten Reformen, überbordenden Schulden, historischen Migrations-Bewegungen und erschreckenden Terrorrisiken besteht – und Europa in Bedrängnis bringt.

Von all dem war noch nichts zu sehen und zu hören, als ich 2004 nach Brüssel kam. Die EU war nicht in der Krise, sondern sie galt als Modell, an dem sich sogar die USA orientieren sollten. Es war die Zeit des Irakkriegs und der alten Europäer Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die dem US-Kriegspräsidenten George W. Bush eine eigene, friedliebende Vision der Weltpolitik entgegensetzten.

Es war auch die Zeit des „Big Bangs“, der großen Ost- und Süd-Erweiterung, bei der die EU auf einen Schlag von 15 auf 25 Mitgliedstaaten anwuchs. Europa sei jetzt größer und freier, aber auch ärmer geworden, freute sich der deutsche Außenminister Joschka Fischer. Er war stolz, diese Sternstunde der EU erleben zu dürfen. Und wir – die Journalisten – waren es auch.

Avantgarde Europas

Damals waren sie noch eine verschworene Gemeinschaft, EU-Korrespondenten, EU-Beamte und EU-Politiker. Man traf sich nach dem „Midday“ auf ein Bier, man kam zu „Kamingesprächen“ mit Ministern und Kanzlern zusammen, man fühlte sich als Avantgarde des neuen Europas. Die Türen zu den Büros der Kommissare standen noch offen, man duzte sich und hatte Zeit für ein persönliches Gespräch.

Fast 15 Jahre später hat sich das gründlich verändert. Der Eingang zur EU-Kommission wird streng bewacht, und die Kommissare tagen abgeschirmt von der Öffentlichkeit auf eigens für sie reservierten Etagen. Gemeinsam essen und trinken geht man schon lange nicht mehr, auch die Kamingespräche sind abgesagt. Sie kosten zu viel Zeit. Heute geht es darum, als Erster vor die Presse zu treten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel macht da keine Ausnahme. Bei einem EU-Gipfel auf dem Höhepunkt der Eurokrise hatten Italien und Frankreich einmal – ein einziges Mal – schneller ihre Sicht der Dinge verbreitet als die deutsche Kanzlerin. Seitdem tritt Merkel spät in der Nacht oder früh am Morgen vor die Presse, um stets die Erste zu sein – und sich als Siegerin zu präsentieren.

Die anderen machen es genauso. Es geht nicht mehr darum, ob Europa vorankommt, sondern darum, dass das eigene Land gewinnt. „Renationalisierung“ nennen das die Diplomaten, die in Brüssel arbeiten. Mit der Eurokrise hat es begonnen, und seit der Flüchtlingskrise haben sich regelrechte Gräben aufgetan. Plötzlich spricht man von Nord und Süd, Willigen und Unwilligen, Sündern und Oberlehrern.

Der Gemeinschaftsgedanke ist dabei verloren gegangen. Nicht nur die Politiker, auch die Diplomaten und Journalisten haben sich in ihre nationalen Zirkel zurückgezogen. Zwar gibt es immer noch ein paar Kneipen, vorwiegend irische Pubs nahe des Rond-Point Schuman, in denen man sich trifft. Und einmal im Jahr gibt es sogar eine Comedy-Show, bei der Journalisten die Kommission aufs Korn nehmen.

Doch im Alltag geht jeder seine eigenen Wege. Was sollen britische Diplomaten, die gegen den drohenden „Brexit“ (EU-Austritt) kämpfen, auch noch mit den Griechen gemeinsam haben, die von Schulden- und Flüchtlingskrise überwältigt werden? Was haben sich Polen, die partout keine Migranten aufnehmen wollen, und Deutsche, die für Solidarität werben, noch zu sagen?

Nur die EU-Kommission und das Europaparlament versuchen noch, Europa zu leben und gemeinsame Interessen der 500 Millionen Europäer zu formulieren. Das Parlament unter Leitung des deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz versteht sich seit der Wahl von Kommissionschef Juncker als Königsmacher und als Stimme des Volkes – auch wenn Juncker nur von einer Minderheit gewählt wurde.

Und die Kommission ist schon qua Amt damit beschäftigt, Regeln und Gesetze für alle 28 EU-Staaten auszuarbeiten und nationale Egoismen zu überwinden. Allerdings gelingt ihr das kaum noch – wie die Flüchtlingskrise zeigt. Der erste Vorschlag, 40?000 Migranten auf die EU-Länder umzuverteilen, griff zu kurz. Der zweite Versuch mit weiteren 120 000 Flüchtlingen kam zu spät und wurde nie umgesetzt. Und auch im Parlament gibt es Probleme. Dort sitzen mehr EU-Gegner und Populisten denn je. Der französischen Rechtsauslegerin Marine Le Pen gelang es sogar, eine eigene Fraktion zu bilden. Auch die britischen Konservativen, die dem „Brexit“ zuneigen, haben eine eigene Gruppe. Als Reaktion sind Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale in einer großen Koalition zusammengerückt.

Das führt dazu, dass es in der Straßburger Kammer kaum noch eine vernehmliche, proeuropäische Opposition gibt. Linke, Grüne und Unabhängige können sich nur selten Gehör verschaffen, über demokratische Alternativen zum heftig umstrittenen EU-Kurs wird kaum noch diskutiert. Dies führt dazu, dass die europafeindlichen Populisten und Nationalisten noch mehr Zulauf bekommen – ein Teufelskreis.

Außerdem liegt die Macht in der EU nur noch in ganz wenigen Händen. Den engsten Zirkel bilden Juncker und Schulz, die sich eine für Brüsseler Verhältnisse ungewöhnliche Treue geschworen haben. Juncker hat eine de-facto-Garantie, dass das Europaparlament ihm keine Probleme bereitet; im Gegenzug darf Schulz öfter in der ersten Reihe sitzen, als dies früher üblich war.

Um den Deal abzusichern, haben die beiden EU-Chefs noch Junckers Kommissionsvize Frits Timmermans sowie die beiden Vorsitzenden der größten Fraktionen, Manfred Weber (Konservative) und Gianni Pitella (Sozialdemokraten), eingebunden. Mindestens einmal im Monat trifft sich der „most exclusive dining club“ (so das US-Portal Politico) in einem sündhaft teuren Hotelrestaurant im Europaviertel. Dabei wird nicht nur die Agenda abgesteckt, sondern es werden auch „die besten Witze der Stadt“ erzählt, berichten Insider. Die informelle G-5 hat unter anderem erreicht, dass ein Misstrauensantrag gegen Juncker wegen der Steueraffäre in Luxemburg abgeblockt wurde. Sie steckt auch die großen Linien für neue EU-Gesetze ab; Timmermans sorgt dann dafür, dass die Kommission mitzieht.

Es gibt aber noch einen anderen, kaum bekannten Macht-Zirkel: Den Parteivorstand der spd. Denn auch hier hat Parlamentschef Schulz Sitz und Stimme. Als Europabeauftragter der deutschen Sozialdemokraten trägt er Brüsseler Themen nach Berlin – und Berliner Beschlüsse nach Brüssel. So kommt es, dass die Große Koalition in Europa oft so klingt und handelt wie jene in Deutschland.

Nationale Brille

Als ich vor mehr als zehn Jahren in Brüssel ankam, war Deutschland noch nicht der heimliche Hegemon. Damals sprach man in Europa noch französisch – und nicht deutsch, wie cdu-Fraktionschef Volker Kauder 2011 triumphierend tönte. Das Europaviertel war eine Bastion französischer Diplomaten, danach kamen die Briten, weit abgeschlagen die Deutschen.

Die ersten Jahre waren besonders spannend. Plötzlich war die Stadt voller Polen, Balten oder Bulgaren, die nach den EU-Beitritten 2004 und 2006 nach Brüssel strömten. Auch die Amerikaner begannen, die EU ernst zu nehmen. Brüssel wurde zu einem kosmopolitischen Ort, der an manchen Tagen aufregender war als Paris oder Berlin. Und das Europaviertel war sein Zentrum.

Seit der Finanz- und Eurokrise hat sich das spürbar verändert. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich plötzlich nach New York und Athen, Brüssel machte nur noch mit endlosen Krisensitzungen und schier unlösbaren Problemen Schlagzeilen. Nach und nach fielen immer mehr Entscheidungen in Berlin, die Franzosen verloren rasant an Einfluss. Auch mein Freundeskreis hat sich verändert. Denn die meisten Diplomaten und Journalisten sind nur für ein paar Jahre in Brüssel. Viele haben einen so genannten Drei-plus-zwei-Vertrag: Sie werden für drei Jahre nach Brüssel entsandt, und wenn es gut läuft haben sie nochmal zwei Jahre. Danach geht es zurück in die nationale Hauptstadt oder in die große weite Welt. So kommt es, dass ich viele Freunde an Paris, Berlin oder Washington verloren habe.

Natürlich kommen immer wieder „Expats“ nach. Doch die neue Generation hängt nicht so sehr an Europa wie die alte. Sie betrachtet die EU durch die nationale Brille, nicht durch eine (imaginäre) europäische. Bei den Journalisten macht sich zudem ein größerer Druck bemerkbar. Sie werden schlechter bezahlt, müssen mehr arbeiten und sollen noch dazu schneller und „exklusiver“ sein.

Und so kommt es, dass immer mehr echte und falsche Scoops, also Exklusivmeldungen, verbreitet werden. So kommt es auch, dass US-Dienste wie Politico in Brüssel Platz greifen können. Statt für die versprochene Politisierung sorgen sie vor allem für eine Skandalisierung der Berichterstattung. Gleichzeitig werden alteingesessene Insiderdienste wie Europolitics eingestellt.

Und wie reagieren die EU-Politiker auf diesen Trend? Sie machen mit – und treiben ihn auf die Spitze. Vor zehn Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass Kommissare ihre Weltsicht in der Bildzeitung verbreiten – heute ist es die Regel. Juncker hat sogar einen exklusiven Draht zur Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dort kann man fast unredigiert lesen, was der Kommissionschef plant.

So ist es hektischer geworden in Brüssel. Die Terror-Attentate im März haben das Klima noch weiter aufgeheizt. Plötzlich ist überall von Versagen die Rede – Belgien wird als failed state dargestellt, die EU als gescheitertes Projekt, die EU-Kommission als überflüssige Bürokratie. Vielleicht reagieren die Pressesprecher deswegen so gereizt. Sie sind in der Defensive.

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Eric Bonse

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