Verleiblichte Gegenwart

Im Abendmahl wird Gott eins mit dem Menschen
„Wandelabendmahl“ in der Dresdner Frauenkirche: Die Teilnehmer empfangen die Oblate und gehen weiter, um aus dem Kelche zu trinken. Foto: dpa/ Matthias Rietschel
„Wandelabendmahl“ in der Dresdner Frauenkirche: Die Teilnehmer empfangen die Oblate und gehen weiter, um aus dem Kelche zu trinken. Foto: dpa/ Matthias Rietschel
Im Abendmahl findet die Kirche Grund und Gestalt ihres Wesens, betont Horst Gorski, Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes und Leiter des Amtes der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Er skizziert, was das lutherische Abendmahl auszeichnet. Die Sündenvergebung gehört dazu, sollte aber nicht von Gottes Gericht her gesehen werden, sondern von seiner Gnadenzusage. Dann könnte das Abendmahl etwas von der Schwere verlieren, die ihm oft noch anhaftet.

Bewusst in Gottes Gegenwart zu verweilen, ist schön. Ja, es ist für mich das Schönste, Tiefste, Sinnvollste, das ich mir vorstellen kann und das mein Leben ausmacht. Gottesdienst zu feiern, bedeutet für mich im Kern genau dies: Eine bestimmte, gestaltete Zeit in Gottes Gegenwart zu verweilen. Ich verstehe deshalb auch nicht, wenn häufig geklagt wird, ein Gottesdienst sei langweilig gewesen. Eine Predigt kann langweilig sein, ja. Aber wenn ein ganzer Gottesdienst deshalb als langweilig empfunden wird, ist für mein Empfinden das Koordinatensystem, worin der Gottesdienst seinen Ort hat, irgendwie verrutscht. Dann ist der Gottesdienst zu einer „Veranstaltung“ geworden.

Dabei ist er etwas ganz eigenes, das in keiner sonst bekannten Form aufgeht. Alle christlichen Konfessionen feiern im Gottesdienst die Gegenwart des dreieinigen Gottes. Die lutherische Tradition legt hierauf aber nicht nur ein besonderes Gewicht, sondern „verleiblicht“ diesen Gedanken in der Feier des Abendmahls. Nichts anderes ist mit dem berühmten „est“ gemeint, das Martin Luther 1529 beim Streitgespräch mit dem Züricher Reformator Ulrich Zwingli in Marburg auf den Tisch malte. Christus „ist“ anwesend in Brot und Wein.

Nun könnte man meinen, dann müsste die typisch lutherische Abendmahlsfeier ein fröhliches Fest sein, das die Kinder Gottes in der Gegenwart ihres Herrn feiern. Aber ganz so einfach geht die Gleichung nicht auf. Die Wirklichkeit ist vielmehr – wie so oft – vielschichtig.

Als Heranwachsender erlebte ich in einer evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Hamburgs das Abendmahl als etwas bedrückend Ernstes. Meiner Natur entsprechend versuchte ich andere Abendmahlsteilnehmer zu grüßen oder ihnen zuzulächeln. Aber das kam nicht gut an und wurde nicht erwidert. Abendmahl, so lernte ich, ist eine ernste Angelegenheit. Ihm nähert man sich mit Furcht und Zagen und allem zu Gebote stehenden inneren Ernst.

Irritierend fand ich auch die damals verbreitete Praxis, das Abendmahl im Anschluss an den Hauptgottesdienst zu feiern. Nur die ernstesten Christen, so schien es, blieben. Die anderen strömten dagegen schon einmal fröhlich hinaus in die Sonne.

Das ist lange her und heute in aller Regel ganz anders, zum Glück. Und mit dem Abstand und dem Wissen von heute kann ich vieles einordnen. Zum lutherischen Verständnis des Abendmahls gehörte damals eine Betonung der Vorstellung, man könne es sich „zum Gericht“ essen, wenn man „unwürdig“ teilnahm. Die Sündenvergebung stand im Mittelpunkt, nicht die Feier der Kinder Gottes an seinem Tisch. So wurde das Abendmahl in lutherischen Gemeinden auch nur selten gefeiert, regional unterschiedlich, vielerorts nur am Buß- und Bettag und am Karfreitag. Gerade Letzteres war theologisch eigentlich nicht gut zu begründen. Denn das Abendmahl gehört zum Gründonnerstag und wird erst wieder am Ostertag gefeiert.

Große Veränderungen

Dass sich beim lutherischen Abendmahl viel verändert hat, ist auch der Feierabendmahlspraxis der Kirchentage zu verdanken. Lutherisches Abendmahl ist heute stärker vom Gemeinschaftsgedanken getragen und kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. Und die „Wandelkommunion“, die früher als „katholisch“ galt, hat inzwischen auch Eingang in die lutherische Praxis gefunden.

Dass man heute ein lutherisches Abendmahl an der äußeren Gestalt kaum eindeutig ausmachen kann, ist vielleicht sogar seine Stärke. Denn es lebt von seinem Kern, der Gegenwart Gottes in Jesus Christus, dem „est“, der „Realpräsenz“, wie man sagt. Und wenn der Kern stimmt, kann die Gestalt, in der gefeiert wird, unterschiedlich sein. Eine vertiefte Bedeutung des lutherischen Abendmahls für die Gegenwart verbindet sich für mich mit dem Stichwort der „Kondeszendenz“ Gottes. Das heißt wörtlich: Gott ist in Jesus Christus in die Welt herabgekommen (lateinisch descendere) und ist auf diese Weise mit (lateinisch cum) den Menschen. Für Luther hing der ganze Trost des Glaubens daran, dass Gott nahe beim Menschen ist. Ganz im Sinne des Pauluswortes „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ So wie in Christus Gott und Mensch eins geworden sind, wird im Glauben an Christus Gott auch eins mit jedem Menschen. Dies geschieht im Leben und im Sterben, in Freude und im Leid, im Glück und im Unglück. Und genau dieses Herabkommen Gottes und Einswerden mit dem Menschen geschieht im Abendmahl. Deshalb und nur deshalb ist es so tröstlich.

Daran muss ich denken, wenn mir Leid nahegeht, ich Bilder aus Kriegsgebieten sehe, von Erdbeben oder Überschwemmungen, von weinenden, flüchtenden oder getöteten Menschen. Aber auch wenn ich jemanden in seiner Trauer um einen geliebten Menschen begleite, wenn Scheitern oder Versagen auszuhalten sind, auch mein eigenes.

Der Trost, den unser Glaube gibt, deckt nichts zu, beschönigt nichts. Und dass er das nicht nötig hat, ist seine Stärke. Er gibt die Kraft, zu trösten ohne zu lügen, das Leben ohne Beschönigung anzusehen und sich dennoch mit ihm zu versöhnen und handeln zu können. Diese Kraft gibt Gott dadurch, dass er da bei uns Menschen ist, einfach da, in Freud und Leid. Und die Aufgabe der Kirche kann deshalb keine andere sein, als genau dies zu tun: da zu sein bei den Menschen.

Im Abendmahl findet die Kirche Grund und Gestalt ihres Wesens. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft wird sie natürlich auf ganz unterschiedliche Weise da sein. Aber alles, was sie tut, sollte sich darauf rückbeziehen lassen, ob sie bei den Menschen ist und tröstet, wie es Gott tut, eben nichts beschönigt, nichts zudeckt. Dass dies mal unbeschwert und fröhlich und mal nachdenklich gefeiert wird, gehört zum Leben. Und das lutherische Abendmahlsverständnis ist weit genug, um die Fülle des Lebens zu integrieren. Entscheidend bleibt die leibliche Erfahrung der Gegenwart Gottes mitten unter uns, mitten in dieser Welt.

Die Sündenvergebung hat im Abendmahl nach wie vor ihren Platz, wird heute aber weniger vom Gericht Gottes her gesehen, als vielmehr vor dem Hintergrund der Zusage seiner Gnade. Und mit dieser Akzentverschiebung dürfte die gegenwärtige Praxis dichter bei Luther und seinem Trost spendenden Gottvertrauen sein. Das ist das Pfündlein, das wir Lutheraner in die Gemeinschaft der christlichen Kirchen einbringen, nicht mehr abgrenzend, sondern als Teil des Reichtums der vielfältigen Tradition christlichen Glaubens.

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Horst Gorski

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Horst Gorski

Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. 


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