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Herrnhuter in der Literatur
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"Von Goethe bis Grass" hebt Schätze und sichert Spuren der Herrnhuter weltweit.

Herrnhut und seine Brüdergemeine zog Exulanten, Verfolgte und Suchende an. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) nahm sich ihrer an und bot ihnen neue Heimat. Die 1722 gegründete Stadt strahlt bis heute als Ursprung der erneuerten Brüder-Unität weltweit aus. Sie geht auch auf die Böhmischen Brüder (1457) und den Reformator und Märtyrer Jan Hus zurück. Schriftsteller und Literaten nahmen darauf Bezug.

Was ist bekannt? Peter Vogt, Gemeindepfarrer und Studienleiter der Brüder-Unität, sammelt über 25 Jahre Texte mit Bezügen zur Herrnhuter Brüdergemeine. Der Roman Die Entdeckung der Langsamkeit des deutschen Schriftstellers Sten Nadolny spornt an: Sein Protagonist ist der englische Kapitän und Polarforscher John Franklin. Seefahrer um Franklin begegnen auf ihrer Fahrt dem Missionsschiff „Harmony“, das die Herrnhuter Mission nutzt. In den Blick geraten Goethes Dichtung und Wahrheit (1812), Wilhelm Meisters theatralische Sendung (1780) und Bekenntnisse einer schönen Seele (1795). Autobiographisch hält Goethe, unter dem Einfluss Katharina von Klettenbergs, über die Herrnhuter fest: „Die trefflichen Männer, die ich […] kennen lernte, hatten meine ganze Verehrung gewonnen, und es wäre nur auf sie angekommen, mich zu dem Ihrigen zu machen.“

Wie hätten Goethe und die Herrnhuter zusammengewirkt? In einem Brief an Goethe berichtet Carl Friedrich Zelter von einem „Besuch in Herrnhut“ (1822); Madame de Staël von einem „Besuch in Neudietendorf“ (1813) und die Mutter Arthur Schopenhauers von einem „Besuch in Neuwied“ (1818). Gerhart Hauptmann, der die Herrnhuter in „Der Narr in Christo“ (1910) kritisch beurteilt, zählt sie irrtümlich zu den Wiedertäufern; aber auch der Roman Die blaue Blume (1995) der englischen Schriftstellerin Penelope Fitzgerald zu Novalis spiegelt Wirkungsgeschichte.

Vertreten sind auch Theodor Fontane, Jean Paul oder die herrnhutisch geprägte ehemalige Sklavin Mary Prince von der Karibikinsel Antigua. Von ihrem Besitzer wurde Mary Prince mit nach England genommen, wo sie die Freiheit erlangte. Ihr Lebensbericht war das erste autobiographische Zeugnis einer schwarzen Autorin in England, die sich in den Dienst der Antisklaverei-Bewegung stellte (1831). Ihr Text liegt jetzt erstmals in deutscher Sprache vor. Auch Gottfried Keller, Dostojewkski, Leo Tolstoi, Franz Kafka, Stefan und Arnold Zweig wie Hermann Hesse geraten in den Fokus.

Ist „Der Herrnhuterhut“ ein alter Hut, wie Hermann Kant persifliert (1965)? Literaturnobelpreisträger Günter Grass (1927-2015) schlägt den Bogen in die jüngste Vergangenheit. Sein Roman Ein weites Feld (1995), beschreibt die Vorgänge in der Wendezeit aus der Sicht des DDR-Büroboten Theo Wuttke, der sich das Leben und Werk Fontanes angeeignet hat. Sohn Friedel Wuttke, der als junger Mann aus der DDR floh, wittert jetzt als Verleger in Wuppertal ein neues Geschäftsfeld: „Deshalb wollen wir unsere Reihe ‚Mission heute‘ in Richtung Osteuropa öffnen und bei den verdienstvollen Tätigkeiten der Herrnhuter anknüpfen.“ Friedel fährt aus der Haut, als bei der Hochzeitsfeier seiner Schwester Mete Lieder aus dem real-existierenden Sozialismus nostalgisch angestimmt werden.

Was bleibt über die Zeit? Von Goethe bis Grass hebt Schätze und sichert Spuren der Herrnhuter weltweit: Gedruckt liegen vierzig Texte von 37 Autoren aus 15 Ländern und 220 Jahren vor: Literarische Miniaturen verkörpern Zeit-, Kultur- und Theologiegeschichte in nuce!

Matthias Meyer

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