Verdampfte Träume

Das Tempo der kirchlichen Vereinigung ließ kaum Reflexion zu
Martin-Luther-Denkmal auf dem Transport durch Ost-Berlin von Weißensee zur Marienkirche am 29. Oktober 1989. Foto: epd-bild/Bernd Bohm
Martin-Luther-Denkmal auf dem Transport durch Ost-Berlin von Weißensee zur Marienkirche am 29. Oktober 1989. Foto: epd-bild/Bernd Bohm
Für Grundsatzdiskussionen war keine Zeit, und die Ereignisse überholten manch ehrenwerte Initiativen. Der Theologe und ehemalige zeitzeichen-Redakteur, Götz Planer-Friedrich, reflektiert in seinen Erinnerungen an die kirchliche Vereinigung Hoffnungen und Lebenslügen von damals.

Im Juni 1984 war der damalige Magdeburger Bischof Werner Krusche auf einem Friedenskongress der Nord-elbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche zu einem Vortrag nach Kiel eingeladen. Seinem Vortrag gab er den Titel: „Schuld und Vergebung - der Grund christlichen Friedenshandelns“. Der Text wurde zunächst nur von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste publiziert, weil er sowohl von ostdeutscher wie von westdeutscher Seite als anstößig empfunden wurde. Seine Aussagen passten weder in die Konfrontation des Kalten Krieges noch in die von westdeutscher Seite angestrebte Entspannungspolitik mit NATO-Doppelbeschluss.

Volkmar Deile, der spätere Generalsekretär von Amnesty International, schrieb damals im Vorwort zu der kleinen Publikation: „Der Vortrag Werner Krusches spricht von einer Tradition theologischen Denkens und Handelns nach 1945, das in der Kontinuität der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945 und des Darmstädter Wortes des Reichsbruderrates zum politischen Weg unseres Volkes von 1947 steht. Man hat den Eindruck, dass diese Tradition in den Kirchen der DDR lebendiger ist als in den Gliedkirchen der EKD. Das ist sicherlich auch eine Voraussetzung für die größere Klarheit und Eindeutigkeit des Friedenszeugnisses der Kirchen in der DDR.“ Auch ich fand die Aussagen dieses Textes bemerkenswert, weil sie sich keiner politischen Seite so einfach zurechnen ließen. Doch so etwas kam auch im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) selten vor. Und im Rat der EKD gab es damals wie heute ebenso Persönlichkeiten mit theologischer Bildung und politischem Verstand. Von Menschen aus der DDR aber erwartete man das in der BRD eher weniger. Vielen schienen die Brüder und Schwestern in der DDR im Durchschnitt etwas zurückgeblieben. Das ließen sie die Ostler dann auch im Wiedervereinigungsprozess spüren.

Und so falsch war das auch gar nicht! Seit den Sechzigerjahren hatten die Menschen in der DDR in der Regel keinen Zugang mehr zu westlicher Literatur - auch nicht zu wissenschaftlicher. Mit dem, was sie über Fernseh- und Radiokanäle von dort erfuhren, konnten sie sich nicht kritisch auseinandersetzen. Dass die Welt „drüben“ bunter und vielfältiger war, konnten sie auf diesem Wege erfahren. Woran das lag, erfuhren sie aber nicht - oder höchstens ansatzweise. Deshalb war die Überraschung groß, als plötzlich die gesamte dazugehörige Rechtsstruktur und Gesellschaftskultur auf die marode DDR übertragen wurde. Das passte ja auch überhaupt nicht zusammen.

Diese Ahnungslosigkeit machte auch das theologische Denken und kirchliche Handeln simpler, jedenfalls anders. Ich erinnere mich an eines der grenzüberschreitenden Treffen der Systematischen Theologen in Berlin, bei dem Eilert Herms und Wilfried Härle mit Zitaten amerikanischer und französischer Philosophen aufwarteten, von denen ich bisher nicht einmal die Namen gehört hatte.

Kurz und gut: Das Leben und Denken war in der DDR weniger komplex, nicht einfacher zwar, doch nicht so high sophisticated. Mit der Wiedervereinigung wurde auf einmal das ganze Leben komplizierter; vielseitiger und bunter zwar - und freiheitlicher, würde unser Bundespräsident hinzufügen - aber auch anstrengender und unübersichtlicher. Wer hatte sich in der DDR schon mit Steuern beschäftigt; jetzt war einem ständig der Fiskus auf den Fersen. Dass man Ansprüche durchsetzen muss und soziale Leistungen nicht zugeteilt bekommt, musste man regelrecht lernen. Das galt auch für Pastoren und andere kirchliche Verantwortungsträger.

Gemeinsam mit Hermann Goltz (aus der DDR) und Volkmar Deile (aus der BRD), die wir damals gleichzeitig im Ökumenischen Zentrum in Genf beschäftigt waren, verfassten wir schon Anfang 1990 ein Memorandum, in dem wir die kirchlichen Autoritäten baten, den Zusammenschluss der beiden Kirchenhälften nicht so Hals über Kopf, sondern mit Geduld und nach gegenseitigem Zuhören zu vollziehen. Aber in all der Hektik hat man uns kaum wahrgenommen. Immerhin wurde ich wenig später von einem mir schon vorher bekannten Kollegen aus der EKD-Zentrale gefragt, was ich denn eigentlich aus einer „Kirche im Sozialismus“ für bewahrenswert halten würde. Das hat mich damals im wahrsten Sinn des Wortes sprachlos gemacht.

Was mit dem Staatskirchenrecht der Bundesrepublik auf uns zukam, konnten wir uns kaum vorstellen. Dass bereits die über das Finanzamt einbezogene Kirchensteuer viele unserer Nominalchristen zum alsbaldigen Kirchenaustritt veranlassen würde, war noch voraussehbar. Umso mehr schreckte man natürlich davor zurück. Denn nur wenige bildeten sich ein, dass sich nun auch die Kirchen im Osten der Republik damit allein finanzieren könnten. Über Jahrzehnte hatte die EKD die ostdeutschen Landeskirchen alimentiert - und zwar mit Wohlwollen der SED-Regierung in stärkerem Maße, als es selbst den einzelnen Pfarrern und Pfarrerinnen bewusst war. Wenn es ums Geld ging, waren wir völlig unbedarft. Nach außen hin legitimierte zwar das schmale Pfarrergehalt die christliche Überzeugung bei der Berufswahl. Doch in vielen Pfarrfamilien musste ganz ordentlich geknausert werden - wenn es denn nicht noch andere Hilfsmittel gab; und die kamen meistens „aus dem Westen“.

Gemeinsam mit Hermann Goltz (aus der DDR) und Volkmar Deile (aus der BRD), die wir damals gleichzeitig im Ökumenischen Zentrum in Genf beschäftigt waren, verfassten wir schon Anfang 1990 ein Memorandum, in dem wir die kirchlichen Autoritäten baten, den Zusammenschluss der beiden Kirchenhälften nicht so Hals über Kopf, sondern mit Geduld und nach gegenseitigem Zuhören zu vollziehen. Aber in all der Hektik hat man uns kaum wahrgenommen. Immerhin wurde ich wenig später von einem mir schon vorher bekannten Kollegen aus der EKD-Zentrale gefragt, was ich denn eigentlich aus einer „Kirche im Sozialismus“ für bewahrenswert halten würde. Das hat mich damals im wahrsten Sinn des Wortes sprachlos gemacht.

Was mit dem Staatskirchenrecht der Bundesrepublik auf uns zukam, konnten wir uns kaum vorstellen. Dass bereits die über das Finanzamt einbezogene Kirchensteuer viele unserer Nominalchristen zum alsbaldigen Kirchenaustritt veranlassen würde, war noch voraussehbar. Umso mehr schreckte man natürlich davor zurück. Denn nur wenige bildeten sich ein, dass sich nun auch die Kirchen im Osten der Republik damit allein finanzieren könnten. Über Jahrzehnte hatte die EKD die ostdeutschen Landeskirchen alimentiert - und zwar mit Wohlwollen der SED-Regierung in stärkerem Maße, als es selbst den einzelnen Pfarrern und Pfarrerinnen bewusst war. Wenn es ums Geld ging, waren wir völlig unbedarft. Nach außen hin legitimierte zwar das schmale Pfarrergehalt die christliche Überzeugung bei der Berufswahl. Doch in vielen Pfarrfamilien musste ganz ordentlich geknausert werden - wenn es denn nicht noch andere Hilfsmittel gab; und die kamen meistens „aus dem Westen“.

Nun spielte auf einmal Geld eine ganz wichtige Rolle - oftmals die entscheidende. Das löste gerade bei vielen evangelischen Christen moralisches Unbehagen aus. Einige Kollegen wollten das auf einmal so üppig erscheinende Gehalt gar nicht in Anspruch nehmen; bis sie rasch feststellten, dass das unter den veränderten Lebensbedingungen durchaus angebracht war. Doch man war um den ethischen Anspruch besonderer Bescheidenheit gebracht.

Eine Ideologie, wie sie die SED vertrat, erzeugte auf der einen Seite Resistenz oder Langeweile. Jugendliche zumal suchten in Kirchen und Pfarrhäusern immer wieder nach alternativen Denk- und Lebensmaximen. Sie konnten auch Verständnis und Einfühlungsvermögen erwarten, wo die gewalthaltigen Erziehungsmethoden des Staates nicht fruchteten. Zum anderen hinterließ die fest gezurrte Ideologie Lücken, die sie nicht auszufüllen gewillt war, Bereiche, die sie einfach ignorierte. So war beispielsweise der Tod bis kurz vor der Implosion des Systems kein Thema. Der wurde durch Zukunfts- und Fortschrittsmetaphern überspielt und verdrängt. Dabei ging es aber immer nur um die Klasse, das Kollektiv, die sozialistische Staatengemeinschaft; der Einzelne als endliches Wesen spielte ideologisch keine Rolle. Ob die Menschen unser Heilsversprechen verstanden - das sozialistische jedenfalls konnten wir ihnen vermiesen. Hinterher erging es uns wie der Nato, der mit dem Fall der Mauer der Feind abhandengekommen war.

Rudolf Bahro hatte in seinem Buch Die Alternative dem ökonomischen System in der DDR schon 1977 „organisierte Verantwortungslosigkeit“ attestiert. Verständlich, dass die SED anlässlich des Luther-Gedenkens, das 1983 auch seitens des Staates mit großem Aufwand begangen wurde, auf einmal auf das lutherische Berufsethos zurückgriff. Aber die Parole lautete unverdrossen: So wie ihr heute arbeitet, werdet ihr morgen leben. Die Angesprochenen meinten dagegen, wenn wir so weiter arbeiten, werden wir morgen nicht mehr leben können. Die innerweltliche Eschatologie versagte angesichts des objektiven Versagens der politisch Handelnden. Hier gab es gute Ansatzpunkte und - in Grenzen - auch eine gewisse Nachfrage nach christlicher Verkündigung. Auferstehungsglaube und christliche Endzeithoffnung schienen gefragt zu sein - auch wenn sich damit keine missionarischen Erfolge erzielen ließen.

Jedenfalls hatten sich inzwischen zwei Generationen von Pastoren und andere kirchlich Mitarbeitende in diese Verhältnisse und Gedankengänge eingearbeitet. Damit hatte man gelernt umzugehen, Abwehr zu leisten und Ersatz anzubieten. Nun war damit Schluss und zwar gerade in dem Moment, wo die erlernte Strategie in der protestantischen Revolution Früchte trug. Natürlich stellte sich später heraus, dass der Anteil der Kirche an diesem politischen Geschehen gar nicht so groß war. Aber vorübergehend durchdrang die kirchliche Szene eine ungeahnte Genugtuung. Damit sollte sofort wieder Schluss sein, weil die Kirchenleitungen - insbesondere von westlicher Seite aus - auf Vereinheitlichung drängten. Frustration und Enttäuschung seitens vieler Gemeinden und ihrer Leitungen begleiteten diesen Prozess. Gerade die im Umbruch moralisch Gestärkten scheuten die Heimkehr in eine reiche und selbstbewusste Kirche.

Hinzu kam noch etwas anderes: Nirgends war der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, den der Ökumenische Rat der Kirchen Ende der Achtzigerjahre ins Leben gerufen hatte, so ernst genommen worden wie in den evangelischen Kirchen der DDR. In drei aufeinander folgenden Ökumenischen Versammlungen wurden gediegene Texte verfasst, in denen auf theologisch durchdachten Grundlagen eine bessere Zukunft anvisiert wurde. Die schien mit dem rasanten Umbruch in der DDR Ende 1989 angebrochen zu sein.

Den Protagonisten des Konziliaren Prozesses erging es allerdings kaum anders als Bärbel Bohley, deren Bonmot weltbekannt wurde: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Die ökumenisch bewegten Christen in der DDR wollten eigentlich die Welt retten und landeten im neoliberalen Kapitalismus. Da half es wenig, wenn man ihnen ermutigend versicherte, in der Bundesrepublik gäbe es gar keinen Kapitalismus; die sei doch der „sozialen Marktwirtschaft“ verpflichtet.

Wie dem auch sei - die Wiedervereinigung Deutschlands nach Artikel 23 und nicht nach Artikel 146 des Grundgesetzes zeichnete sich immer deutlicher ab. Schon die Währungsumstellung im Juni 1990 veränderte das Gesamtgefüge der DDR so nachhaltig, dass alle darüber hinausgehenden Träume in evangelischen Gemeinden und Pfarrhäusern verdampften. Wolfgang Uhlmann arbeitete mit einigen Getreuen noch eine Zeit lang am Entwurf einer neuen Verfassung, in der wenigstens einiges von den Ideen der Ökumenischen Versammlung bewahrt werden sollte. Doch die Ereignisse überholten einfach solche ehrenwerten Initiativen. Die evangelischen Kirchen wanderten mit der gesamten DDR in ein für sie neues Gesellschaftssystem ein, in dem die EKD bereits heimisch war.

Ökonomie und Rechtswesen, Schule und Universität nahmen einen anderen Charakter an. Vieles davon hatten die evangelischen Christen in der DDR ersehnt. Das wogen keine „Errungenschaften der DDR“ auf. Damit war jetzt kein Staat mehr zu machen. Mit den gesellschaftlichen Erfahrungen aus der DDR war auch keine kirchliche Arbeit mehr zu machen. Gleichzeitig war man sich doch mit den Gemeinden und Kollegen in der EKD immer einig gewesen, dass man unter dem Evangelium beieinander bleiben wolle. Am Inhalt der Verkündigung musste sich nichts ändern, wenn die Kirchenstrukturen sich änderten. Immer mehr Betroffene mussten einsehen, dass sie mit der Übernahme in die gemeinsame EKD genauso gut aufgehoben sein würden, wie die DDR-Bevölkerung als solche in der Bundesrepublik Deutschland. Die Thüringer Landeskirche trat noch schnell der VELKD (West) wieder bei, deren Pendant im Osten bereits aufgelöst worden war. Den Konsolidierungsprozess innerhalb der vereinigten EKD hat das nicht beeinflusst.

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Götz Planer-Friedrich

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