Choral an der Grenze
Berlin, Hauptstadt der DDR, irgendwann in den Siebzigerjahren. Ein Sonntagmorgen am Grenzübergang Friedrichstrasse. Trotz der frühen Uhrzeit hat sich am Zoll bereits eine Schlange gebildet. Hans Jürgen Baller wird nervös. Er wartet gemeinsam mit zwölf anderen Besuchern aus Westdeutschland in den grauen Gängen auf die Einreise. „Wenn wir auch niemandem gesagt hatten, dass wir ein Chor sind, schienen das alle Kontrolleure des Zolls schon zu wissen“, wird Baller später in seinen Erinnerungen schreiben. Und dieser Chor wurde erwartet, er sollte um zehn Uhr im Gottesdienst der Adventgemeinde in Prenzlauer Berg singen. Selbstverständlich gab es keine offizielle Einladung oder Mitteilung, die die Grenzer beeindruckt hätte. Im Gegenteil, ein Kirchenchor aus dem Westen zu Besuch in einer Ostgemeinde - das konnte nur Probleme geben. Die gab es aber auch so schon. Die Gruppe musste alle Mitbringsel auf einen Haufen legen, die Personalien wurden festgestellt. Die Sänger wurden einzeln in einen Gang geschickt und mussten erneut warten. Reine Schikane, Baller riss der Geduldsfaden. „Ich flüsterte meinem Sängergrüppchen zu, es doch einfach zu wagen und ‚Lobe den Herren‘ zu singen. Den Bach-Satz beherrschten wir auswendig. Kaum war der erste Ton erklungen, wurden alle Türen in dem langen Gang aufgerissen, man schrie uns an: ‚Sofort aufhören!‘“
Baller ergriff das Wort: Die jungen Leute, für die er verantwortlich war, solle man doch einreisen lassen, ihn selber könne man ja dabehalten. Darauf ließen sich die Beamten ein, der Chor konnte weiter zur Adventkirche fahren, der Chorleiter wurde verhört. Ihm wurde gesagt, dass er wegen Verstoßes gegen das Zoll- und Devisengesetz der DDR nun als vorbestraft gelte. Dann durfte auch er einreisen und nahm den Bus Richtung Prenzlauer Berg. „Freudig empfing man mich in der Adventkirche. Der Gottesdienst hatte jedoch ohne mich schon lange vorher angefangen“, erinnerte sich Baller später.
Erlebnisse wie diese finden sich immer wieder in der langen Geschichte der Chorpartnerschaft zwischen den Chören in Advent-Zachäus sowie in Hamburg-Rissen und Rendsburg, den beiden Wirkungsstätten Ballers als Kantor. Bereits in den Fünfzigerjahren fuhr Baller mit seinen Chören in die DDR, ab 1958 auch in die Adventgemeinde in Ost-Berlin. Doch erst in den frühen Achtzigerjahren wurde aus diesen Kontakten eine Chorpartnerschaft. Denn auch in Berlin entstand durch die Arbeit der Kantorin Gabriele Meyer 1981 ein Chor, der bald mit den Chören aus Rissen und Rendsburg gemeinsam Werke aufführte. Wenn der Chor aus dem Westen seine Noten bei der Abreise bewusst vergaß, war das eine Hilfe für die Advent-Kantorei. Auch bei der Sanierung der Orgel halfen die Spenden aus dem Westen.
Aber natürlich ging es nicht nur ums Musizieren, sondern auch um Begegnungen, gemeinsame Ausflüge und Gespräche zwischen den Christen aus den doch so unterschiedlichen Kirchen in West und Ost. Die einen aus einer volkskirchlichen Westgemeinde mit all ihren Schattierungen, die anderen aus einem atheistischen Staat, in dem Kirche unterdrückt wurde und ein Bekenntnis zum Christentum politische Opposition bedeutete und nicht selten sanktioniert wurde. Nicht zu vergessen die unterschiedlichen materiellen Verhältnisse - sorgte das nicht für Barrieren? Gabriele Meyer schüttelt den Kopf: „Es gab keine emotionale Mauer.“ In einem Kirchenchor treffen sich Menschen eines bestimmten Typus, sagt sie. Und die würden zueinander passen, egal aus welchem System sie kommen: „Weil die Musik im Zentrum steht.“
Für Beate Ziegler, die seit 1981 in der Ost-Berliner Kantorei singt, waren diese Begegnungen mit den Chormitgliedern aus dem Westen immer ein „Blick über den Tellerrand“. Gerade auch für sie persönlich, denn im Studium hatte sie sich mit der Waldorf-Pädagogik beschäftigt, die in der DDR aber keine Anwendung fand. Im Chor aus Westdeutschland traf sie aber nun auf eine begeisterte Anthroposophin, die auch über die Waldorfschule in Rendsburg berichten konnte. „Das war natürlich für mich sehr spannend.“ Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden Sängerinnen, die bis heute hält.
Hansjörg Hillgruber aus Rendsburg war einer derjenigen, die schon in den Siebzigern mit in die DDR fuhren - als die Chorpartnerschaft noch eine Patenschaft war. Auch er erinnert sich an unangenehme Situationen an den Grenzübergängen, an den Geruch von Zweitakter-Motoren und Braunkohle. Vor allem aber an eine sehr beeindruckende Gastfreundschaft: „Die Wohnungen waren ja oft viel kleiner als bei uns in Rendsburg. Aber es war selbstverständlich, dass unsere Gastgeber ihr Schlafzimmer räumten und auf das Sofa zogen.“
Offiziell erlaubt war eine solche Chorpartnerschaft nicht. Deshalb übernachtete der Westchor bis zu den Achtzigern stets in West-Berlin und reiste dann in kleineren Gruppen tageweise über verschiedene Grenzübergänge ein. Einige Male musste er auch getarnt als „Rissener Sportverein“ die Mauer überwinden. Später entspannte sich die Situation, die West-Chöre konnten im Prenzlauer Berg bei ihren Mitsängern und -Sängerinnen übernachten. Aber stets mussten diese Besuche als private Besuche von einzelnen Personen getarnt werden, jeder Gastgeber musste seinen Gast bei der Volkspolizei anmelden. Michael Meyer, Ehemann der Kantorin Gabriele Meyer und damals Pfarrer in der Adventgemeinde, ist sich rückblickend sicher, dass die Behörden Bescheid wussten, diese Partnerschaft aber inoffiziell duldeten. Für ihn waren diese gemeinsamen Wochenenden „ein Stück Friedensarbeit, ein Stück Versöhnung“.
Nach der Wende
Dann kam die Wende, und endlich konnte der Chor aus der Adventgemeinde zum Gegenbesuch nach Rendsburg starten. Am 19. April 1990 um 22.45 Uhr traf der Zug in Rendsburg ein, wo die eine Kantorei die andere erwartete. Gegenseitig begrüßten sich die Chöre musikalisch. Vom Westen erklang die Volksliedzeile „Ein Band soll uns umschließen, das sich um Land und Lande schlingt“, der Chor aus dem Osten antwortete mit den selbstgedichteten Zeilen „Wir danken Euch für Eure Treu‘, in vielen schweren Jahren, so lasst uns unsere Freundschaft nun auch künftig stets bewahren.“
Die Beschreibung dieses Moments in Hans Jürgen Ballers aufgeschriebenen Erinnerungen berühren noch immer: „Man umarmte sich, jubelte und drückte sich. Soviel Glück hat unser Bahnhof bestimmt noch nicht erlebt. Die in den Jahren der Unfreiheit aufgestaute Energie entlud sich schon hier. In den Familien, die Freunde aus Berlin aufgenommen hatten, wurde bis zum frühen Morgen gefeiert.“ Am nächsten Tag ging es dann in einer langen Reihe von Bus und PKWs nach St. Peter Ording an die Nordsee, die für die Ost-Berliner Sänger und Sängerinnen über viele Jahrzehnte nicht erreichbar gewesen war.
Nach diesem emotionalen Höhepunkt änderte sich vieles, vor allem für die Mitglieder der Advent-Kantorei. Ein neues politisches System, die Vereinigung mit der Landeskirche aus West-Berlin, neue Gemeindemitglieder aus dem Westen. Ganz zu schweigen von den Herausforderungen, die die Wende für die persönliche Biographie bedeutete. Hinzu kamen auch personelle Wechsel, Hans Jürgen Baller wurde 1991 pensioniert und ist mittlerweile sehr von Krankheit geschwächt. Auch das Ehepaar Meyer ist im Ruhestand.
Doch anders als andere Partnerschaften mit Gemeinden und Chören aus dem Westen existiert die Partnerschaft mit der St. Marien-Kantorei in Rendsburg noch immer. „Es gab damals mehrere Chorpartnerschaften, und mir war klar, dass wir nicht alle aufrecht erhalten können“, sagt Isabel Pauer, die Nachfolgerin von Gabriele Meyer als Kantorin in der Prenzlauer-Berg-Gemeinde. „Der Chor hat sich dann für die Partnerschaft mit den meisten persönlichen Freundschaften entschieden.“
Doch der Charakter hat sich geändert. Man trifft sich nur noch alle zwei Jahre, und statt in Ost-Berliner Wohnungen übernachten immer mehr Rendsburger während ihres Besuches im Hotel - auch weil die Gastgeber älter geworden sind und niemand ihnen mehr eine Nacht auf dem Sofa zumuten will, sagt Hillgruber. „Aber ich habe die Entwicklung schon ein wenig bedauert.“ Nach der Wende sind nur sehr wenige neue Freundschaften entstanden, die Chöre musizieren gemeinsam und machen Ausflüge, verbringen nette Stunden miteinander, aber das Ost-West-Thema ist eigentlich keines mehr. Stattdessen, so Isabel Pauer, geht es vor allem um die Musik - „und um eine Tradition, die es zu bewahren gilt, solange die Chöre das wollen“.
Stephan Kosch