Angst vor religiösen Gegensätzen

Die EKD zieht falsche Schlüsse aus Martin Luthers Antijudaismus
Vor neun Jahren wurde das Turmkreuz der Bielefelder Paul-Gerhardt-Kirche entfernt, die in eine Synagoge umgewidmet wurde. Foto: dpa/ Robert B. Fishman
Vor neun Jahren wurde das Turmkreuz der Bielefelder Paul-Gerhardt-Kirche entfernt, die in eine Synagoge umgewidmet wurde. Foto: dpa/ Robert B. Fishman
Beim Reformationsjubiläum droht die Gefahr, dass Protestanten aus Erschütterung über Luthers Judenschriften die eigenen Traditionen abschmelzen, fürchtet Dorothea Wendebourg. Die Berliner Kirchenhistorikerin setzt sich kritisch mit einer Kundgebung der EKD-Synode auseinander und zeigt, an welchem Punkt sich Luthertum und Judentum fundamental unterscheiden.

Seit Jahren, seit das zum Lutherevent verengte Reformationsjubiläum die Kalender des offiziellen deutschen Protestantismus beherrscht, kommt das Thema „Luther und die Juden“ immer wieder auf den Tisch des Hauses, wird in Reden, Vorträgen, Tagungen, Büchern, wissenschaftlichen Aufsätzen und Zeitungsartikeln, auf Podien, Synoden und Bischofskonferenzen traktiert. Dabei ist unstrittig: Die judenfeindlichen Schriften des Wittenberger Reformators sind für den Protestantismus eine schwere Hypothek. Und wie die deutsche evangelische Kirche mit ihnen in verschiedenen Phasen ihrer Geschichte umging, vor allem in der dunkelsten, der Zeit des „Dritten Reiches“, kann nur ein Gegenstand der Scham sein. Doch all das ist mittlerweile hundertfach gesagt und allgemein bekannt. Das Pathos, mit dem mancher Redner und Autor das Thema noch immer im großen Gestus der Enthüllung präsentiert und sich selbst zum tapferen Ritter im Dienst der historischen Wahrheit stilisiert, kann bestenfalls erstaunen. Gewiss, in einzelnen Punkten der Einschätzung jener Schriften gibt es Unterschiede unter denen, die sich damit befassen. Auch in der genaueren Beschreibung der Schuldgeschichte der deutschen evangelischen Kirche herrscht unter den Historikern – einschließlich der Kirchenhistoriker – keine Einigkeit. Doch das sind Differenzen, die innerhalb der Klammer jenes unstrittigen und viele Male ausgesprochenen Konsenses stehen. Es spräche also alles dafür, das vielgeplagte Thema Spezialisten für Einzelfragen zu überlassen und sich stattdessen anderen Gegenständen zuzuwenden.

Aber an einer Stelle der Debatte besteht ein ungelöster Dissens von solcher Tragweite, dass trotz allem eine nochmalige Erörterung des Gegenstandes angemessen erscheint. Denn es geht hier um das für die evangelische Kirche entscheidende Problem, die Rolle der Theologie. Sind Martin Luthers destruktive Ausführungen gegen die Juden eine notwendige Frucht seiner Theologie, ist Antijudaismus ursächlich mit zentralen theologischen Einsichten der Reformation verbunden? Oder gehört beides auf verschiedene Ebenen?

Im Konzert der Antworten auf diese Frage hören wir Stimmen, die zu einer Rücknahme der reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung „allein im Glauben allein aus Gnade“ auffordern, die eine Revision der überlieferten Sicht des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament verlangen, ja, die konsequenterweise mit Blick auf das gesamtchristliche Erbe zur Revision der überlieferten Christologie und Trinitätslehre als einer wurzelhaft antijüdischen Tradition aufrufen.

Auch die Kundgebung, die die letzte EKD-Synode zum Thema beschloss, berührt die Frage nach der Bedeutung „zentraler theologischer Lehren der Reformation“ für das Verhältnis zu den Juden. Der Natur solcher Texte entsprechend, äußert sich die Synode nebelhaft. Sie verlangt ein „neues Bedenken“ von und einen „kritischen Umgang“ mit Überliefertem. Sie warnt vor „abwertenden Stereotypen“ – wer würde das nicht unterschreiben – und konstatiert ein „Erschrecken … über theologische Irrwege“. Wer sollte da nicht einstimmen? Aber offen bleibt, ob mit all dem Eingriffe in die „zentralen theologischen Lehren der Reformation“ gemeint sind, Revisionen der theologischen Einsichten, die in den reformatorischen Bekenntnisschriften zum Ausdruck gebracht und in den altkirchlichen Bekenntnissen fundiert sind, oder ob es um eine neue, gegenüber früheren Wegen kritisch reflektierte Präsentation dieser als solche festzuhaltenden Einsichten gehen soll.

Differenz zum Judentum

Als Gegenstand des notwendigen kritischen Bedenkens nennt die Kundgebung die rechtfertigungstheologischen Unterscheidungen „Gesetz und Evangelium“ und „Glaube und Werke“. Was Luther betrifft, sind diese Unterscheidungen für seine Sicht des Judentums zweifellos von großem Gewicht – wie sie es auch für seine Sicht des römischen Katholizismus und des sogenannten Linken Flügels der Reformation sind. Handelt es sich doch um Grundkategorien seiner theologischen Einsichten.

Der letztlich springende Punkt für seine Haltung gegenüber dem Judentum sind jene Unterscheidungen aber nicht. Entscheidend ist hier ein Gegensatz, den er an anderer Stelle sieht und der sich in der Auseinandersetzung mit Katholiken und „Schwärmern“ so nicht stellt: der Gegensatz in der Einschätzung Jesu Christi, konkret: die gegensätzliche Antwort auf die Frage, ob Jesus von Nazareth Sohn Gottes und Erlöser aller Menschen ist, auch, sogar an erster Stelle der Juden. Diese spezifische Differenz im Verhältnis zum Judentum spielt denn auch die Hauptrolle in Luthers sogenannten Judenschriften, jenen Schriften, in denen er sich zur Frage des richtigen Umgangs mit der jüdischen Minderheit äußert. Das gilt für die positive, ein ungehindertes Zusammenleben fordernde Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei von 1523 und ebenso für die rasenden antijüdischen Schriften aus Luthers letzten Lebensjahren. Auch hier geht es in erster Linie um die Bedeutung Jesu Christi. So ist die Ablehnung Christi durch die Juden auch die entscheidende theologische Begründung für die in dem Traktat Von den Juden und ihren Lügen geforderten destruktiven Maßnahmen, die Zerstörung der religiösen und sozialen Infrastruktur der Juden, ihre Entrechtung und Vertreibung. Rechtfertigungstheologische Argumente haben in all diesen Schriften nur marginales oder gar kein Gewicht. Im Mittelpunkt steht das solus Christus, nicht das sola gratia, sola fides.

Von großer Bedeutung für die theologische Abgrenzung gegenüber dem Judentum ist die in der letztgenannten Doppelformel zusammengefasste Rechtfertigungslehre für Luther gleichwohl. Das zeigen insbesondere seine exegetischen Werke. Die Rechtfertigungslehre bildet die gnadentheologische Kehrseite des „Christus allein“. Dazu gehört die Ablehnung des „Gesetzes“ und der „Werke“ als Weg des Heils. Wenn die EKD-Synode gerade an diesem Punkt ein „neues Bedenken“ fordert und verlangt, „abwertende Stereotypen zu Lasten des Judentums“ zu revidieren, wird man sich leicht darauf einigen können, dass „Abwertungen“ im Sinne verächtlich machender Urteile zu vermeiden sind und Luther sich solcher an mehr als einer Stelle schuldig gemacht hat.

Mit „Stereotyp“ ist wohl die Rede vom Judentum als „Gesetzesreligion“ und Religion der „Werkgerechtigkeit“ gemeint. Doch ist die Feststellung, dass das „Gesetz“ und die „Werke“ des Menschen im Judentum einen anderen theologischen Stellenwert innehaben, als es der vom solus Christus herkommenden reformatorischen Theologie entspricht, schon ein „abwertendes Stereotyp“?

Namhafte jüdische Gelehrte wie Abraham Geiger, Hermann Cohen und Leo Baeck haben mit großem Selbstbewusstsein einen Vorzug des Judentums darin gesehen, dass es eine Religion ist, die das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zu Gott durch das „du sollst“ bestimme, sei es in der Tat wesenhaft „Gesetzesreligion“, ja, „die einzige in der Geschichte der Menschheit“ (Baeck). Dieselben Männer haben folgerichtig die reformatorische Sicht, die um Christus, Gnade und Glaube kreist und das Handeln als daraus erst entspringende Folge bestimmt, gegenüber der jüdischen ausdrücklich als unterlegen eingestuft. Ist das nun umgekehrt ein „abwertendes Stereotyp“ zu Lasten des Protestantismus? Liegen hier nicht vielmehr einander widersprechende religiöse Überzeugungen vor, die zur Kenntnis zu nehmen und auszuhalten sind?

Nicht anders steht es mit einer weiteren von der EKD-Synode zum „kritischen Bedenken“ aufgegebenen Unterscheidung, der von „Verheißung und Erfüllung“ samt dem wesentlich durch sie bestimmten „reformatorischen Erbe in der Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere des Alten Testaments“. Gemeint ist offensichtlich, dass die Reformation, ja schon die Kirche vor ihr und das Neue Testament, das Erscheinen Jesu Christi und das Leben der Gemeinde, die sich auf ihn beruft, als irdisches Ziel der im Alten Testament bezeugten Geschichte und Erfüllung seiner Weissagungen verstehen. In dieser Überzeugung liegt der Grund dafür, dass die frühe Christenheit das „Alte Testament“ dem Evangelium als ihre „Schrift“ zugeordnet hat und die Heilige Schrift der Christen zweiteilig ist. Bekanntlich hielt Luther mit besonderer Hartnäckigkeit am Alten Testament fest und widmete ihm den größten Teil seiner Tätigkeit als Ausleger der Bibel. Seine Auslegung ist, gerade auch im Angesicht ihm bekannter jüdischer Exegese, durch und durch von Jesus Christus her bestimmt. Heutige Exegese kann ihm dabei im Einzelnen sicher schwerlich folgen. Doch wollten christliche Theologie und Verkündigung aufhören, das Alte Testament auf das Neue und damit auf Jesus Christus und die Kirche hingeordnet zu sehen und es entsprechend auszulegen, gäbe es für sie keinen Grund an ihm festzuhalten. Sie täten besser daran, dem Humanisten Erasmus zu folgen. Er war von der Herausforderung der jüdischen, des Christusbezugs ledigen Auslegung des Alten Testaments eher überzeugt als sein Gegner Luther und empfahl der Kirche, sich von diesem Buch zu distanzieren.

Theologische Harmlosigkeit

Gleichwohl besteht in einer Hinsicht ein grundsätzlicher Anlass, Luthers Umgang mit dem Alten Testament kritisch zu bedenken: Der Wittenberger Reformator war überzeugt, dass sich die Hinordnung des Alten Testaments auf Jesus Christus rational und zwingend beweisen lasse. Daraus folgte, dass die Ablehnung dieses anscheinend evidenten Sachverhalts durch die Juden nur als schuldhaftes moralisches Versagen zu betrachten war. Aber diese Einschätzung war nicht neu. So hatten Generationen christlicher Theologen und Kirchenmänner vor Luther gedacht und damit die Benachteiligung und Unterdrückung der Juden begründet. Nur – Luther hätte es besser wissen können. Der Theologe der Rechtfertigung „im Glauben allein“ hätte sehen können: Es ist eine unverfügbare Einsicht des christlichen Glaubens, in Jesus Christus das Alte Testament erfüllt zu finden. Und es kann niemandem als schuldhaftes Versagen angerechnet werden, wenn er diese Einsicht nicht teilt. Das aber heißt: Was an diesem Punkt zu fordern wäre, ist nicht die Revision des reformatorischen Erbes, sondern dessen vom Reformator selbst nicht geleistete konsequente Wahrnehmung. Ist sie gegeben, geht es am Ende auch in der Einschätzung des Alten Testaments nicht um „Abwertungen“ in der einen oder anderen Richtung, sondern um einen Gegensatz religiöser Überzeugungen, der auszuhalten ist.

Eben das hat Luther in seiner ersten sogenannten Judenschrift "Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei gefordert". Unverrückbar gewiss, dass Jesus Christus der Erlöser aller Menschen und an erster Stelle der Juden sei, auch mit der Hoffnung, dass „vielleicht einige der Juden“ sich dieser Gewissheit anschließen würden, gesteht Luther zugleich realistisch ein, dass er nicht mit großen Zahlen rechnet. Doch so sehr dieser Sachverhalt zu bedauern ist, wird er nur mit dem lakonischen Satz kommentiert: „Was liegt daran?“ Unter den Mitgliedern der Kirche seien ja „auch nicht alle gute Christen“. Mit anderen Worten, wie in der Kirche das Nebeneinander von „guten“ und „nicht guten“ Christen auszuhalten ist, so in der Gesellschaft das Nebeneinander derer, die im christlichen Glauben die allen Menschen geltende Wahrheit erkannt haben, und jener, die ihm widersprechen. Am Ende, so Luther einige Jahre früher, ist das Ganze ein Problem Gottes und nicht der Christen.

Luther hat diesen gotteszentrierten Gleichmut bekanntlich nicht durchgehalten. Vielmehr meinte er später, die Auflösung jenes religiösen Nebeneinanders in die eigene Hand nehmen zu müssen – mit der Forderung nach Gewalt. Wie es scheint, können evangelische Theologie und Kirche auch heute nicht ertragen, dass es neben den von ihnen vertretenen Einsichten andere konfessionelle und religiöse Überzeugungen gibt, die ihnen und denen sie in zentralen Punkten widersprechen. Nur soll die Auflösung dieser Unerträglichkeit jetzt dadurch bewerkstelligt werden, dass die spezifischen Einsichten der eigenen Tradition abgeschmolzen werden, bis kein fundamentaler Widerspruch anderer und zu anderen mehr übrig bleibt. So soll ausgerechnet das Reformationsjubiläum an allen Fronten zur großen Feier ihrer theologischen Harmlosigkeit werden. Als ob nicht für die Zukunft einer gewiss noch ungleich größeren religiösen Pluralität in unserem Land aus den Einsichten der Reformation – leider weniger aus ihrer Praxis – eine ganz andere Lektion zu lernen wäre: Friedliches Zusammenleben und religiöser Gegensatz schließen einander nicht aus.

Dorothea Wendebourg

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