Leiden gehört zum Geschöpfsein

Paragraph 217: Warum das neue Gesetz zum assistierten Suizid keine Klarheit schafft
Raum der Stille in einem Münchener Hospiz. Foto: dpa
Raum der Stille in einem Münchener Hospiz. Foto: dpa
Mit deutlicher Mehrheit hat vor kurzem der Bundestag ein Strafgesetz beschlossen, dass die Beihilfe zum Suizid regeln soll. Der Bonner Theologieprofessor Ulrich Eibach kritisiert das neue Gesetz und fordert Klarheit, dass es kein Recht auf Suizid und Beihilfe dazu gibt.

Der Deutsche Bundestag hat im November vergangenen Jahres mit deutlicher Mehrheit ein Strafgesetz beschlossen, das die Beihilfe zur Selbsttötung in Paragraph 217 des Strafgesetzbuches regelt (siehe zz 9/15). Weil der Suizid in Deutschland nicht strafbar ist, ist es auch die Beihilfe zur Selbsttötung nicht - im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten. Ein Gesetzesentwurf, der die Beihilfe zum Suizid generell unter Strafe stellen wollte, erhielt im Bundestag die wenigsten Stimmen. Beschlossen wurde auf der Basis der Straffreiheit der Beihilfe zum Suizid ein Gesetz, das "die Entwicklung der Beihilfe zum Suizid ... zu einem (geschäftsmäßigen) Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung" verhindern will, um einer "Normalisierung" und einem "Gewöhnungseffekt" an Formen der organisierten Beihilfe zum Suizid zu wehren. Ebenso will man verhindern, dass schwerkranke und pflegebedürftige Menschen zum Suizid verleitet oder gar gedrängt werden. Ziel des Gesetzes ist es, die Selbstbestimmung des Menschen über sein Leben zu schützen und das Leben nur insofern, als es Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung ist. Zu ihr gehört nach Meinung der meisten Menschen auch, dass der Mensch ein Recht hat, den Todeszeitpunkt zu bestimmen, dass es also - wenn auch unausgesprochen - ein Recht auf Suizid und daher auch auf Beihilfe zum Suizid gibt.

Der Ansatz beim Schutz der Selbstbestimmung entspricht einer sich immer mehr durchsetzenden neuen, rein säkularen Interpretation des Begriffs Menschenwürde im Grundgesetz (Artikel 1.1.), nach der die Selbstbestimmung (Autonomie) ihr primärer Inhalt ist. Würde kommt nicht mehr dem ganzen leiblichen Leben, sondern letztlich nur der Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu. Die Achtung des leiblichen Lebens, ja auch das Recht auf Leben nach Artikel 2 des Grundgesetzes, ist demnach der Achtung einer mit der Selbstbestimmung gleichgesetzten Würde untergeordnet. Der Mensch ist also Herr und Besitzer seines Lebens, der über es uneingeschränkt verfügen darf, wenigstens sofern er anderen damit nicht deutlich schadet. Deshalb wird aus der Menschenwürde nicht nur eine Straffreiheit der Beihilfe, sondern zunehmend auch ein Recht auf Selbsttötung abgeleitet.

Der Paragraph 217 des Strafgesetzbuches geht davon aus, dass die Selbstbestimmung durch "geschäftsmäßige", das heißt auf Wiederholung angelegte Praxis und durch Gewinn erzielende Beihilfen zum Suizid bedroht wird. Sie werden daher strafrechtlich geahndet. Nicht strafbar machen sich "Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen ... , wenn sie lediglich Teilnehmer an der Tat sind und nicht selbst geschäftsmäßig handeln".

Die ausdrücklich genannte Straffreiheit für Angehörige wirft viele Probleme auf. Wenn es in erster Linie Ziel des Paragraphen 217 ist, dass niemand durch andere zur Selbsttötung verleitet wird, so ist es problematisch, wenn diejenigen Personen von einer Strafbarkeit ausgenommen werden, die dem Kranken nahestehen. Sie können doch am ehesten einen solchen Druck ausüben. Kranke Menschen können aber auch einen Druck auf Angehörige ausüben, dass diese ihren Wunsch nach Beihilfe zum Suizid erfüllen.

Moralischer Druck

Die Straffreiheit darf dahingehend verstanden werden, dass es ein Recht auf Beihilfe zum Suizid durch nahestehende Personen gibt. Damit wird das sensible Verhältnis zwischen pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen mit Erwartungen belastet. Denn ob gewollt oder ungewollt entsteht ein gegenseitiger psychischer und moralischer Druck, die rechtlich erlaubte Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen beziehungsweise sie zu gewähren. Gerade bei langfristig schwer kranken Menschen kommen nahestehende pflegende Personen leicht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, so dass sich die Beihilfe zum Suizid als "Ausweg" aufdrängt.

Viele pflegebedürftige Menschen empfinden, dass sie anderen eine Last sind. Dieses Gefühl kann schnell in den Wunsch umschlagen, das Leben möge beendet werden. Auch wird der anonyme gesellschaftliche Druck nicht bedacht, der dadurch entsteht, dass Menschen, die unheilbar sind und aufwändiger Pflege bedürfen, immer mehr unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten gesehen werden und ihr Leben als "lebensunwertes" Leben eingestuft wird. Im Zuge dieser gesellschaftlichen Wertvorstellungen könnte der Suizid der Menschen, die für sich, andere und die Gesellschaft nur eine "Belastung" sind, gesellschaftlich wünschenswert werden. Nicht zuletzt um das zu vermeiden, hat das britische Unterhaus im September 2015 mit überwältigender Mehrheit gegen eine Abschaffung der Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid entschieden.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Ziele des deutschen Gesetzes erreicht werden, eine Gewöhnung an die Beihilfe zum Suizid zu verhindern und Menschen vor einem Wunsch nach Suizid zu bewahren. Denn das Gesetz geht davon aus - wenn auch nicht ausdrücklich so doch implizit - , dass es ein Recht auf Selbsttötung gibt, der Suizid also nicht nur nicht strafbar ist, sondern Ausdruck des Rechts auf Selbstbestimmung ist. Eine rechtliche Klarheit, dass es kein Recht auf Suizid und Beihilfe zu ihm gibt, hätte den jetzt eingetretenen Verunsicherungen im Verhältnis von Kranken und den ihnen nahestehenden Personen wehren können.

Ein Recht auf Suizid impliziert, dass - wie in den Benelux-Staaten - der Mensch wählen darf, ob er eines natürlichen Todes oder den Tod durch Menschenhand sterben will. Damit sind die Türen zur Beihilfe zum Suizid und zur Tötung auf Verlangen weit geöffnet und nicht mehr zu schließen, zumal der grundsätzliche Unterschied zwischen Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen ein praxisfernes juristisches Konstrukt ist.

Das Gesetz nennt außer den nahestehenden Personen keine Berufsgruppen, die für eine Beihilfe zur Selbsttötung aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation am ehesten in Frage kommen, also die Ärztinnen und Ärzte und die Pflegekräfte. Laut Gesetz wäre ihnen eine Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt, sofern sie nicht auf Gewinn zielend betrieben wird. Andere begrenzende Kriterien wie Schwere der Krankheit oder Todesnähe werden nicht genannt. Ausschlaggebend ist letztlich der Wunsch und Wille von kranken Menschen. Ärzte und Pflegekräfte sind aber nicht primär Erfüllungsgehilfen der Wünsche von Patienten. Sie sind eigenständig handelnde Personen mit eigenen moralischen Verpflichtungen, eigenem Gewissen und Berufsrecht. Für ihr Handeln sind nicht in erster Linie die Wünsche von Menschen, sondern die medizinische Indikation und die ärztlichen und pflegerischen Verpflichtungen ausschlaggebend. Sie müssen sich fragen, ob zu ihrem Auftrag, zu heilen, das Leiden zu lindern und das Leben zu pflegen, auch die Tötung von Leben hinzugehört; ob das und unter welchen Umständen das für sie zumutbar ist; und wenn ja, wie es mit ihrem Berufsethos vereinbar ist.

Auch wenn es gute Gründe dafür gibt, im Gesetz keine Eingrenzungen zu nennen, ist das doch ein erheblicher Mangel, der Gefahren für den Schutz des Lebens aufwirft. Will man nicht nur den Willen eines Patienten als hinreichenden Grund für eine Beihilfe zum Suizid akzeptieren, so sind begren-zende medizinische, ethische und rechtliche Kriterien unverzichtbar. Es muss wenigstens deutlich ersichtlich werden, welche begrenzende Rolle das Berufsethos und Berufsrecht bei solchen Entscheidungen spielt. Da der Paragraph 217 sie nicht benennt, hängt alles davon ab, welche verbindlichen Begrenzungen im Berufsrecht der Ärzte und Pflegekräfte vorgenommen werden. Nach der Berufsordnung einiger Landesärztekammern ist es den Ärzten verboten, Menschen auf ihr Verlangen hin zu töten und Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten, nach anderen Landesärztekammern sollen sie das nicht tun, was nicht heißt, dass sie es nicht tun dürfen. Dabei ist entscheidend, ob man von einem Recht auf Suizid ausgeht.

Absicht des Gesetzgebers ist es nicht, die Beihilfe zur Selbsttötung den Menschen als Wahlmöglichkeit anzubieten. Dies geht jedoch aus dem Gesetz selbst nicht hervor. Es ergibt sich nur aus dem gleichzeitig verabschiedeten Gesetz zur Verbesserung der palliativen Versorgung. Dessen Ziel ist es auch, die Beihilfe zum Suizid und die Tötung auf Verlangen durch die Hilfen der Palliativmedizin nicht mehr notwendig werden zu lassen, um das Leiden an Krankheiten erträglich zu gestalten.

Das Gesetz zur palliativen Versorgung wird nicht verhindern, dass auch in Deutschland vermehrt ein Recht auf Tötung auf Verlangen gefordert wird. Dabei geht es nicht primär um die Hilfe für leidende Menschen, sondern um die Beseitigung eines der letzten religiös begründeten Tabus. Der Mensch, der nach dem Philosophen Friedrich Nietzsche Gott getötet hat, will sein eigener Schöpfer und Herr sein und deshalb auch selbst bestimmen, wann er sich von dieser Welt verabschiedet. Er soll den schicksalhaft-naturbedingten Tod durch eine Tat der Freiheit ersetzen.

Die Christenheit betont, dass das Tötungsverbot auch gegenüber dem eigenen Leben gilt, und begründet dies damit, dass der Mensch Geschöpf Gottes und sein Leben "anvertraute Leihgabe Gottes" ist. Das Leben zu nehmen ist nur Sache Gottes, "der es dem Menschen gegeben" hat (Karl Barth). Weil der säkulare Mensch aber nicht mehr glaubt, dass er sein Leben Gott verdankt, betrachtet er sein Leben als seinen Besitz, über den er nach seinem Ermessen verfügen darf. Daher stellt sich im säkularen Staat die Frage, ob man einem Recht auf Suizid nicht stattgeben muss.

Die empirische Autonomie (Selbstbestimmung) ist nicht der primäre Inhalt der Menschenwürde. Sonst würde ein Leben ohne Autonomie würdelos. Die Menschenwürde ist nach christlicher Sicht überhaupt keine immanente empirische Qualität, sondern ein transzendentes, von Gott dem ganzen Leben von seinem Beginn bis zu seinem Tod zugesprochenes und daher unverfügbares Prädikat, das durch Krankheit und Behinderung nicht in Verlust geraten kann. Das Leben des Menschen wird selbst dann nicht "menschenunwürdig", wenn er durch Krankheit seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung beraubt wird und in jeder Hinsicht auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Deshalb kann es kein "menschenunwürdiges" und "lebensunwertes" Leben geben, sondern nur Lebensumstände, die der Würde des Menschen widersprechen, und menschenunwürdige Behandlungen von Menschen durch Menschen.

Kein Recht auf Selbsttötung

Es gibt demnach auch kein Recht, getötet zu werden, um das Leben von Leiden oder angeblich menschenunwürdigen Lebenszuständen zu "erlösen". Deshalb sind auch das natürliche Sterben und die Tötung durch die eigene oder die Hand anderer Menschen keine gleichrangigen Optionen des Sterbens. Dem Menschen muss daher nicht die moralische und rechtliche Möglichkeit eröffnet werden, zwischen beiden wählen zu dürfen. Selbsttötung und Tötung auf Verlangen sind keine sich aus der Menschenwürde ergebende Menschenrechte.

Zu keiner Zeit mussten Menschen so wenig an schweren Krankheiten leiden wie in der Gegenwart, nicht zuletzt dank der Fortschritte der Palliativmedizin. So gesehen gibt es keine Notwendigkeit, gerade heute die Geltung des Tötungsverbots aufzuheben, um Menschen durch aktive Sterbehilfe von schwerem Leiden zu "erlösen". Es gibt ein Recht auf Leben für alle Menschen, ohne Einschränkung, aber kein Recht auf ein leidfreies Leben, denn das kann niemand garantieren, weil Leiden immer mit dem Leben verbunden sind. Christen müssen daher in dieser Gesellschaft zeigen: Leiden an abnehmenden Lebenskräften im Alter, an Krankheiten und im Sterben gehören zum "Geschöpfsein" des Menschen in einer "gefallenen", nicht nur von Gott, sondern auch zu einer von zerstörerischen Mächten bestimmten Schöpfung. Leiden sind zu lindern, soweit es in menschlichen Möglichkeiten steht. Leiden fordern aber auch zur Bewährung des Glaubens an Gott und der Hoffnung auf Gottes Heil heraus. Und es fordert im Sterben, sich endgültig mitsamt seiner Autonomie der Fürsorge Gottes und von Menschen zu übergeben.

Es gibt kein Recht auf Selbsttötung und Beihilfe zur Selbsttötung, aber es gibt ein Menschenrecht auf palliative Fürsorge, deren Grundlage die palliativmedizinische Versorgung ist. Sie schließt ebenso die pflegerische, mitmenschliche, seelische und seelsorgerlich-geistliche Fürsorge ein. Nur dadurch können den Menschen die Ängste vor einem leidvollen und menschenunwürdigen Leben und Sterben genommen werden. Und nur so wird der Ruf nach Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen überflüssig.

Es stellt sich die Frage, ob es nicht Situationen gibt, in denen auch die Palliativmedizin keinen erträglichen Zustand ermöglichen kann. Kann es dann nicht ein Gebot der Barmherzigkeit und Liebe sein, den Menschen durch Tötung von seinem leidvollen Zustand zu erlösen? Dabei ist zu beachten, dass Liebe Leben ermöglicht und fördert, aber nicht zerstört. Das Leben zu nehmen, um das Leiden zu beenden, kommt einem Akt der Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Übermacht der Krankheit und des Todes gleich.

Es hat immer seltene "tragische Grenz- und Konfliktfälle" gegeben, in denen Hilfen zum Tode von anderen als letzter Ausweg erwogen und ergriffen wurden. Ärzte haben das in der Vergangenheit getan, obgleich ihr Berufsrecht dies untersagt. Und sie haben das auch im Wissen getan, dass man diesen Ausnahmefällen meist überhaupt nicht mit normativ ethischen und rechtlichen Regeln gerecht werden kann.

Hier sind sie zu Gewissensentscheidungen vor Gott und Menschen herausgefordert, die nicht an objektivierbaren Sachverhalten und moralischen und rechtlichen Normen überprüfbar sind. Solche "tragischen Einzel- und Grenzfälle" setzen die unbedingte Geltung des Tötungsverbots jedoch nicht außer Kraft.

Ulrich Eibach

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