Tief erschüttert

Roman über den Wandel Irlands
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Dass Boynes als Ire den Missbrauch von Kindern durch Priester thematisiert, liegt nahe. Denn dessen Aufdeckung hat Irlands Gesellschaft tief erschüttert.

Heinrich Böll notierte in seinem Irischen Tagebuch , das 1957 erschien, dass im Kino einer Stadt, die er besuchte, die Filmvorführung erst begonnen habe, nachdem die römisch-katholischen Ortsgeistlichen eingetroffen waren. Diese Episode spiegelt, welche Autorität die römisch-katholische Kirche in Irland besaß. Dass das nicht mehr der Fall ist, wurde im vergangenen Mai deutlich. Die Iren, die zu 84 Prozent römisch-katholisch sind, machten den Bischöfen eine lange Nase: 62 Prozent der Wahlberechtigten stimmten - bei einer Wahlbeteiligung von 61 Prozent - dafür, die Ehe für Schwule und Lesben zu öffnen. Wer John Boynes Roman liest, kann nachempfinden und verstehen, warum sich das Land so tiefgreifend verändert hat. Seine Hauptfigur, der römisch-katholische Pfarrer Odran Yates, erzählt aus ihrem Leben und schlägt dabei einen Bogen von 1964 bis 2013. Dass Boynes ihn 1973 ins Priesterseminar eintreten lässt, mag Zufall sein. Aber im selben Jahr wurde Irland Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, heute: EU. Und dies dürfte die Öffnung des Landes und die Befreiung von klerikaler Bevormundung befördert haben.

Die Mutter hat entschieden, dass Odran zum Geistlichen berufen ist. Also bezieht er mit 17 Jahren das Priesterseminar. Dort gefällt ihm "das geruhsame Leben". Sexuelle Bedürfnisse hat er anscheinend nicht. Und so hält Yates schon als Student den Zölibat ein. Nur einmal fühlt er sich stark zu einer Frau hingezogen.

27 Jahre arbeitet Yates in einem Internat als Seelsorger und Bibliothekar - und ist zufrieden. Aber eines Tages teilt ihm der Erzbischof mit, er müsse die Gemeinde seines Zimmergenossen aus dem Priesterseminar übernehmen. Der wurde wieder einmal nach kurzer Zeit versetzt, was in den vergangenen 25 Jahren regelmäßig geschehen war. Während der Leser die Gründe ahnt, macht sich Yates keine Gedanken. Umso mehr ist er erschüttert, als rauskommt, dass der Studienfreund Kinder missbraucht hat.

Odran Yates ' Lethargie hat zwei Sei ten: Zum einen lässt er viel mit sich machen. Und im Alter von 56 Jahren muss er sich eingestehen, dass er - wie andere katholische Iren - "die Wahrheit verdrängt" und sich "standhaft geweigert" hat, "ihr ins Gesicht zu sehen". Zum anderen sind ihm aber Fanatismus und Dogmatismus fremd. So pflegt er auch mit dem Neffen, der sich als schwul outet, ein gutes Verhältnis.

Dass Boynes als Ire den Missbrauch von Kindern durch Priester thematisiert, liegt nahe. Denn die Aufdeckung nach jahrzehntelanger Vertuschung hat Irlands Gesellschaft und die Stellung der römischen-katholischen Kirche tief erschüttert. Aber der Roman ist mit Problemen überfrachtet. So ist Odran Yates in seiner Familie mit Selbstmord, Mord und Alzheimer konfrontiert. Während eines Studienaufenthaltes in Rom wird der 22-Jährige als Diener zu Johannes Paul I. abgeordnet, ist aber ausgerechnet, als der Papst stirbt, nicht auf seinem Posten, sondern bei einer Frau.

Boynes, der durch den Roman Der Junge im gestreiften Pyjama weltweit bekannt geworden ist, schreibt flüssig und fesselnd. Und unsympathische Figuren wie der Kinderschänder und der Erzbischof, der ihn deckt, geraten nicht zu Karikaturen.

Sonja Finck hat den englischen Text gut übersetzt - mit Ausnahme kirchlicher Begriffe. Katholische Priester werden im englischen Sprachraum mit Father angeredet. Das muss mit "Pfarrer" übersetzt werden und nicht mit "Pater" wie Finck es tut. Im Deutschen wird nur ein Ordenspriester als "Pater" tituliert, nicht Weltpriester wie Odran Yates und die anderen Pfarrer im Roman. Falsch ist auch die Formulierung, die Seminaristen seien "zum Komplet" zusammengekommen. Es muss "zur" heißen, denn Komplet ist grammatikalisch gesehen weiblich.

John Boyne: Die Geschichte der Einsamkeit. Piper Verlag, München 2015, 416 Seiten, Euro 16,99.

Jürgen Wandel

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