Wechsel zur Weltoffenheit

Ein Plädoyer für ein neues Paradigma in der Einwanderungspolitik
Franklin Nde aus Kamerun arbeitet bei der Metallfirma Reuther stx in Fürstenwalde (Brandenburg). Foto: dpa
Franklin Nde aus Kamerun arbeitet bei der Metallfirma Reuther stx in Fürstenwalde (Brandenburg). Foto: dpa
Deutschland braucht Einwanderung, um seine Wirtschaftskraft zu sichern. Doch bei der Debatte um einen neuen gesetzlichen Rahmen sollte es um mehr gehen als um Visa und Arbeitserlaubnisse, meint Katharina Stamm, Referentin für Migrationsrecht bei der Diakonie Deutschland. Es gehe um einen Paradigmenwechsel hin zu einer weltoffeneren Gesellschaft, die Migration als Normalität begreift.

Vor einem Jahr entbrannte eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, ob Deutschland ein modernes Einwanderungsgesetz benötige. Was in Fachkreisen schon länger diskutiert wurde, bekam Rückenwind quer durch die Parteien und wurde als ein migrationspolitisches Wahlkampfthema für die Bundestagswahl 2017 gehandelt. Doch die Debatte ist durch die gegenwärtig hohe, nicht gesteuerte humanitäre Zuwanderung nahezu verstummt. Dabei sollte sie unbedingt geführt werden. Wenn es dabei gelänge, Migration, egal von welchem Kontinent, nicht als Bedrohung, sondern als Normalität zu begreifen, wäre ein großes Ziel erreicht. Denn bei flexiblen und unbürokratischen Rahmenbedingungen, die Durchlässigkeit und echte Chancen ermöglichen, kann ein Triple-Win-Effekt entstehen, von dem die Einwandernden selbst, Deutschland und ihre Herkunftsländer profitieren. Es braucht dazu allerdings nicht weniger als einen profunden Paradigmenwechsel. Hauptmotor der begonnenen Debatte waren durchaus nachvollziehbare Nützlichkeitserwägungen: Der Bedarf der Wirtschaft nach spezialisierten Fachkräften und der Rententräger nach Menschen, die den demografischen Wandel aufhalten helfen, gilt als hoch. Der Deutsche Sachverständigenrat Wirtschaft hat bereits 2011 unmissverständlich dargestellt: "Durch Migration kann der demografische Wandel abgefedert, aber vermutlich nicht aufgehalten werden. Wollte man die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2050 stabilisieren, würde dies eine jährliche Nettozuwanderung von 350.000 Personen erfordern (...). Zur Aufrechterhaltung der Altersstruktur müsste der jährliche Wanderungssaldo rund zehnmal so hoch sein." Deutlicher ausgedrückt: Um das deutsche Rentensystem aufrechtzuerhalten, wäre eine Nettozuwanderung von 3,5 Millionen Menschen jährlich erforderlich. Ein Einwanderungsgesetz will in erster Linie Arbeitsmigration nach Deutschland steuern. Doch auch wenn dies von der Innenpolitik gerne anders suggeriert wird, ist der ganz überwiegende Teil der derzeitigen Einwanderung nach Deutschland weder begrenzbar noch steuerbar. Dies betrifft vor allem die Binnenmigration von mobilen EU-Bürgern, die ihre Chance auf dem europäischen Arbeitsmarkt ergreifen wollen, die Familienzusammenführung von Kindern und Ehegatten zu hier lebenden Deutschen, EU-Bürgern und Drittstaatsangehörigen. Besonders trifft dies aber auf die Zuwanderung von Asylsuchenden zu. Die Obergrenzendebatte beim Recht auf Asyl ist abschließend geführt. Es kann verfassungs-, europa- und völkerrechtlich keine geben. Auch stellt sich die Frage, inwieweit Migration durch Öffnung des Rechts und durch Abbau bürokratischer Hürden überhaupt konkret steuerbar ist. Die Entscheidung über die Migration selbst wird individuell getroffen und betrifft einen Menschen und sein persönliches Umfeld in seiner Ganzheit, nicht nur als Arbeitskraft. Hier kann staatliche Steuerung nur Anreize und gute Rahmenbedingungen schaffen, ob Einwanderung zur Erfolgsgeschichte wird, hängt von vielen Faktoren ab. In Deutschland fällt das Ausländerrecht traditionell in das Innenressort. Diese Festlegung muss grundsätzlich in Frage gestellt werden. "Fremdenrecht" ist seit jeher Ordnungsrecht, und dies haftet den Gesetzen, Ministerien, den nachgeordneten Polizei- und Ausländerbehörden bis heute zum Teil an. Wer als Innenminister über ein Einwanderungsgesetz, über Integrationsmaßnahmen und Teilhabemöglichkeiten von Zuwandernden entscheidet oder auch in den Dialog mit muslimischen Verbänden eintritt und zu einer Islamkonferenz einlädt, tut dies unter einem völlig anderen Blickwinkel als es Vertreter eines Integrations-, Arbeits-, Familien- oder auch des Wirtschaftsministeriums tun würden. Die Nähe zum Recht der Gefahrenabwehr und zur Terrorismusbekämpfung hindert möglicherweise entscheidend daran, Migration und Einwanderung anders und neu zu denken. Neben einem grundsätzlichen Ressortwechsel für die Initiative eines Einwanderungsgesetzes sollten daher auch noch andere politische und zivilgesellschaftliche Akteure, Kommunen, Migrantenorganisationen und Wirtschaftsverbände, an den Verhandlungstisch gebeten werden. Bevor man sich ans Werk eines neuen Einwanderungsrechts macht, müssen zudem außergesetzliche Faktoren erkannt werden, die Einwanderung nach Deutschland fördern und hindern. Selbst hier geborene und aufgewachsene Deutsche erleben immer wieder, dass sie wegen ihres Namens, ihrer Hautfarbe oder Religion im Alltag oder institutionell benachteiligt werden, etwa keinen Miet- oder Ausbildungsvertrag bekommen. Hier gilt es, neben der neuen Willkommenskultur mindestens auch eine Anerkennungskultur und -struktur zu schaffen, die diskriminierungsfreie Zugänge zu Teilhabe sichert.

Rechtliche Flexibilisierung

Sensibilisierung für Rassismus muss nach der Devise "name it und shame it" auf vielen gesellschaftlichen Ebenen stattfinden und darf nicht vor institutionellen Strukturen halt machen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist dazu nicht das einzige Instrument. Es fängt bei der Sprache und Bildern an - in Politik und Medien. Ebenso müssen Migrantenselbstorganisationen so gestärkt werden, dass ihnen ein gleichberechtigter Platz in den Reihen des sozialen Wohlfahrtsstaates eingeräumt werden kann. Der Anteil von Menschen mit familiären Wurzeln im Ausland in allen öffentlichen Institutionen ist noch stärker zu fördern. Die Liste ließe sich weiter führen. Das gesellschaftliche Klima ist für Menschen, die eine bewusste Einwanderungsentscheidung für Deutschland fällen, ebenso wichtig wie die rechtliche Flexibilisierung. Die offen rassistische und menschenfeindliche Stimmung, wie sie sich 2015 neben den bundesweit über 270 Attacken gegen Flüchtlingsunterkünfte in einer Stadt wie Dresden manifestierte, hat bereits Auswirkungen: Auch das beste deutsche Einwanderungsgesetz wird nicht mehr verhindern können, dass der gute Ruf als Wissenschaftsstandort dort auf Jahre hin geschädigt sein wird. Es bestehen bereits verschiedene Ansätze, Arbeitsmigration gesetzlich zu fördern, wie die deutschen Anwerbeverträge über die Entsendung von so genannten Gastarbeitern in den Sechziger- und Siebzigerjahren, die kanadische Variante eines Punktesystems für Einwanderer oder die an der amerikanischen Green Card angelehnte europäische Blue Card, die eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte bei konkreter Arbeitsplatzzusage ermöglicht. Eine Neuauflage der Anwerbeverträge mit einzelnen Staaten kommt jedoch nicht in Betracht, auch die so genannten Mobilitätspartnerschaften mit einzelnen Ländern, die erleichterte Schengen-Visa vorsehen und im Gegenzug zur Migrationskontrolle für Europa verpflichten, sind für Migrationspolitik ungeeignete Instrumente. Das kanadische Punktemodell selbst ist 2015 reformiert worden, das System, das Einwanderung nach konkret freien Arbeitsstellen organisieren wollte, wurde als zu bürokratisch und unflexibel angesehen. Inzwischen wird nach dem australischen "Express Entry System" verfahren, wonach eine direkte Bewerbung beim Ministerium möglich ist. Die Blue Card der EU wird bisher nur wenig in Anspruch genommen, nur 7.000 Menschen nutzten die Möglichkeit, in den Anfangsjahren 2012 und 2013 damit nach Deutschland zu kommen. Grund dafür sind die Hürden bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Hürden bei dem Familiennachzug. So mussten Ehegatten bereits vor der Einreise für das Visum Deutschnachweise erbringen und hatten bis vor kurzem keinen sofortigen eigenen Arbeitsmarktzugang. Sinnvoll erscheint hingegen die neue Initiative, für Menschen aus Europäischen Drittstaaten erleichterte legale Wege zur Arbeitsmigration zu öffnen: Ehemalige Asylbewerber aus den Westbalkanstaaten haben bei freiwilliger Ausreise seit Ende Oktober die Möglichkeit, unter erleichterten Bedingungen ein Arbeitsvisum für jede Beschäftigung zu beantragen, wenn sie ihren Asylantrag zurücknehmen und zunächst ausreisen. Einige europäische Länder folgen einem liberaleren Modell und verzichten auf erneute Ausreise und Visumverfahren. Der Statuswechsel zum Arbeitsmigrant kann im Land geschehen, sofern Asylsuchende die entsprechenden Zulassungskriterien erfüllen. In Schweden ist dies sogar noch für abgelehnte Asylantragsteller möglich, wenn sie einen Arbeitsplatz gefunden haben. Ein Einwanderungsgesetz kann und darf außerdem nicht isoliert von der Vielzahl der bestehenden Vorschriften und europarechtlichen Pflichten betrachtet werden. In Deutschland gibt es bis zu 170 verschiedene Aufenthaltstitel, die zugehörigen Verwaltungsvorschriften umfassen fast vierhundert Seiten. Rechtsklarheit und Rechtsvereinfachung wären notwendig, um ein kohärentes Gesetzessystem zu schaffen, in das sich eine neue Einwanderungspolitik anpassen kann. Das jetzige Aufenthaltsgesetz durchweht nach wie vor der Geist der Abschottung, der Unterstellung von Rechtsmissbrauch und der irrigen Grundannahme, der Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme müssten vor Einwanderung geschützt werden. Das ist anhand der eingangs beschriebenen Szenarien nicht mehr zeitgemäß und geradezu kontraproduktiv. Konkret führten diese Grundannahmen aber den deutschen Gesetzgeber zur Einführung von Integrationshemmnissen, wie der Senkung von Sozialleistungen und Arbeitsverboten im Asylrecht und das in allen Bereichen des Aufenthaltsgesetzes vorherrschende Nachrangigkeitsprinzip für Drittstaatsangehörige. Dabei prüft die Bundesagentur für Arbeit, ob nicht ein Deutscher oder EU-Bürger die Arbeitsstelle antreten kann und bewertet die Beschäftigungsbedingungen, bevor der Bewerber aus einem Drittstaat die Stelle antreten kann. Ein bürokratisches Verfahren, das ebenso wie die Arbeitsverbote abzuschaffen ist. Kostenlose Sprachschulen inklusive Bewerbungstraining ähnlich dem Vorbild Kanadas wären ebenso nachahmenswert. Ein ganz entscheidender Faktor ist auch die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. In Deutschland wird viel zu stark auf eine formelle Gleichwertigkeit geachtet ohne Erfahrungsstufen ausreichend zu berücksichtigen. Das Anerkennungsverfahren ist langwierig, kostenpflichtig und bleibt in vielen Fällen erfolglos. Das führt zu überqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Niedriglohnbereich, deren Potenziale nicht genutzt werden. Eine Reihe junger Migrationsrechtlerinnen und Migrationsrechtler macht derzeit den visionären Versuch, Migrationsrecht dogmatisch neu zu denken, das Konzept der Einwanderung unter andere Paradigmen zu fassen. Dazu entstehen erste Überlegungen, wie im EU-Binnenraum praktiziert, auch allen Drittstaatsangehörigen freie Einreise und Aufenthalt zu gewähren, um dann nach einer bestimmten Zeit der Orientierung, Information oder Arbeitsuche unter bestimmten Bedingungen ein längerfristiges Aufenthaltsrecht erhalten zu können. Diese Rechte könnten dann bei Vorliegen von Ausschlusstatbeständen eingeschränkt und die Sozialleistungsrechte müssten darauf abgestimmt werden. Auch sollten eine schnelle Einbürgerung und ein frühes Wahlrecht möglich sein. In einer intensiv verbundenen Welt, in der digitale Daten sekundenschnell um den Erdball gesendet werden, in der ganz real durch privaten Konsum und Industrie ausgelöste Emissionen den grönländischen Eispanzer zum Schmelzen bringen und dadurch wiederum am anderen Ende des Planeten Bewohner der Marshallinseln ihre Heimat verlassen müssen, wäre es eigentlich an der Zeit, das Konzept Staatengrenze in Frage zu stellen. Soweit muss und wird ein Einwanderungsgesetz im Jahr 2017 nicht gehen, aber wenn es gelänge, den Paradigmenwechsel zu vollziehen, das Aufenthaltsgesetz zu vereinfachen und sich dabei vor allem nicht mehr von falschen und überkommenen Grundannahmen leiten zu lassen, Einwanderung müsse begrenzt, bürokratisiert und erschwert werden, damit Arbeitsmarkt und Fiskus nicht belastet würden, wären wir dem Ziel ein Stück näher.

Katharina Stamm

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Foto: privat

Katharina Stamm

Katharina Stamm ist Expertin für Europäische Migrationspolitik des Zentrums Migration und Soziales der Diakonie Deutschland .


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