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Neue evangelische Sexualethik
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Trotz einiger Schwächen zeigt dieses Buch, in welche Richtung eine evangelische Sexualethik zu entwickeln ist.

Einen gemeinsamen Entwurf für eine zeitgemäße evangelische Sexualethik haben die fünf Autorinnen und Autoren vorgelegt. In drei Kapiteln möchten sie eine Ethik entwickeln, die aus der Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition und den Einsichten der Humanwissenschaften lebensnahe Orientierungen entwickeln und zudem kirchliche Handlungsfelder umreißen sollen.

Zunächst repräsentiert der Text den Mainstream gesellschaftlicher Meinungsbildung: Sexualität ist ein Feld menschlicher Selbstentfaltung und ein Bereich, in dem Glück und Erfüllung erfahren werden. Beides generiert die Kriterien, die über die Zulässigkeit und die Akzeptanz unterschiedlicher Praktiken entscheiden: Solange Sexualität auf Glück und Erfüllung ausgerichtet ist und auf gegenseitigem Respekt und Zustimmung erfolgt, ist gegen ihre Ausübung nichts einzuwenden.

Indem der Text im Wesentlichen diese Kriterien übernimmt, verabschiedet er sich zugleich von einem institutionen- oder ordnungsorientierten Zugang, der legitime Sexualität an die Ehe binden wollte. Die der Gewinnung von Kriterien vorgeschaltete biblische Grundlegung führt dabei etwas in die Irre: Während nämlich der Dialog mit den außertheologischen Wissenschaften vorrangig deskriptiv orientiert ist und so die herrschende Praxis analysierend nachvollzieht, scheinen die Passagen zur biblischen Grundlegung auf den ersten Blick normative Kriterien entwickeln zu wollen. In der Durchführung zeigt sich aber schnell, dass mit dem Bild von der Treue Gottes ein hermeneutischer Zugang gewonnen ist, der es ermöglicht, erkennbar von der Gegenwart geleitete Schwerpunktsetzungen in der Zusammenschau des Schriftzeugnisses zu legitimieren. Dabei ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Autorinnen und Autoren weit davon entfernt sind, unkritisch und vor allem unhistorisch Aussagen der Schrift in die Gegenwart übertragen zu wollen.

Es wäre aber vielleicht doch ehrlicher gewesen, diese Aneignung des emanzipatorischen Erbes der Neuzeit für die eigene Tradition der Schriftauslegung stärker als eine solche herauszustellen. Darüber hinaus sollte auch nicht verschwiegen werden, dass gerade die Texte des Neuen Testaments zwar nicht explizit, aber durch ihre Konzentration auf die Naherwartung und die dadurch gegebene Geringschätzung der Fortpflanzung durchaus auch einen leib- und sexualitätsfeindlichen Grundzug haben. Dennoch bleibt es das Verdienst der Studie, die Bedeutung der Gegenwart und die in ihr leitenden Orientierungsmaßstäbe Selbstbestimmung, Partizipation, Inklusion herausgestellt zu haben

So findet sich in den Einschätzungen zur Homosexualität, zur Sexualität im Lebenslauf, zur Pornografie und zur nicht mehr exklusiven Bindung der Sexualität an Ehe und Fortpflanzung viel Zustimmungswertes. Das kann aber nicht verdecken, dass es doch fragwürdig erscheint, ob eine so am Einzelnen orientierte Zugangsweise dem notwendig sozialen Phänomen der Sexualität wirklich gerecht wird. Es ist dabei sicherlich nicht zufällig, dass unter der Hand sich immer wieder ein an der Ehe orientiertes Kriterium in die Argumentation einschleicht, nämlich die Maßgabe, dass die Wahrnehmung von Sexualität an der gegenseitigen Liebe und der Dauerhaftigkeit der Beziehung orientiert sein sollte.

Auch hier ist dieser Erweiterung des Kriterienkatalogs vollumfänglich zuzustimmen, allerdings bleibt fraglich, ob die Distanzierung von einer institutionenorientierten Zugangsweise zur Sexualität dann noch in dem vorgestellten Maße aufrechterhalten werden kann.

Insgesamt scheint hier zu sehr eine Konzentration auf das selbstbestimmt handelnde, im Vollbesitz seiner Urteilsmöglichkeiten stehende Individuum gegeben zu sein – verbunden mit der Idee, dass sich soziale Beziehungen, in denen sich Sexualität immer abspielt, gleichsam von selbst durch die Ausrichtung am Selbstbestimmungsrecht durch alle ergeben. Dieser Grundgedanke hätte in seiner Plausibilität zumindest stärker begründet werden müssen. So aber bleibt eine häufig über das Ziel hinausschießende Glücks- und Liebesrhetorik, die von den Schwierigkeiten, Intimbeziehungen symmetrisch und ohne den von außen herangetragenen Druck, diffusen Erwartungen zu genügen, nur wenig berichtet

Dass es sich bei Intimbeziehungen um sehr verletzliche Beziehungen handelt, die nicht nur durch das Recht und die Moral, sondern auch durch die Modellierung der inneren Kriterien einer solchen Beziehung selbst geschützt werden müssen, bleibt zu wenig reflektiert. Insgesamt läuft sich die Diskussion immer wieder darin fest, gegen eine vermeintliche Leib- und Sexualitätsfeindlichkeit die Freiräume für deren Ausleben zu schaffen. Möglicherweise aber greift dieser – um es noch einmal zu betonen: sympathische! – emanzipative Grundzug, der vorrangig auf den Abbau von Schranken konzentriert ist, zu kurz, weil die Frage nach den Möglichkeiten der Verwirklichung von Selbstbestimmung, und damit die Frage nach deren sozialer Realität, zu sehr am Rande stehen.

So bleibt der Entwurf in manchen Punkten doch vage und versteckt Schwierigkeiten hinter einer nicht immer überzeugenden Wortwahl, die manchmal sehr technisch, dann aber wieder fast flapsig oder gewollt leger klingt – etwa wenn man es zwischen Rahel und Jakob knistern hört oder wenn davon die Rede ist, dass auch im Zeitgeist der Geist wehen kann. Schön wäre es gewesen, wenn die breiten, in der Sache aber nicht so weiterführenden Ausführungen zu den Humanwissenschaften stärker zurückgeschnitten worden wären und der Ausarbeitung der interessanten Ansätze und vor allem deren präziserer Zusammenschau mehr Platz eingeräumt worden wäre. Dennoch zeigen diese Ausführungen, in welche Richtung eine evangelische Sexualethik zu entwickeln ist.

PeterDabrock/Renate Augstein/Cornelia Helfferich/Stefanie Schardien/Uwe Sielert: Unverschämt – schön. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, 176 Seiten, Euro 14,99.

Reiner Anselm

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