Anschaulich

Über das evangelische Pfarrhaus
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Dieses Buch ist kein weiterer Überblick über die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses von Luther bis heute. Stattdessen veranschaulicht es diese Geschichte an einem einzelnen, zeitlich und örtlich beschränkten Beispiel.

Bücher über das evangelische Pfarrhaus gibt es viele. Im selben Maße, wie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Pfarrhauskultur verloren ging, ist eine – nicht selten verklärende – Erinnerungskultur rund um das evangelische Pfarrhaus entstanden. Das Buch des Journalisten Cord Aschenbrenner reiht sich in diese Erinnerungskultur ein. Es fügt ihr aber auch eine neue, ungewöhnliche Facette hinzu, die das Buch aus der übrigen Pfarrhausliteratur heraushebt: Aschenbrenner erzählt die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses im Spiegel einer deutsch-baltischen Familiengeschichte – der Geschichte der im 18. Jahrhundert von Thüringen nach Estland verpflanzten Familie Hoerschelmann.

Aus den reichen familiengeschichtlichen Quellen und unter Hinzuziehung der einschlägigen Forschungsliteratur zur Geschichte des Pfarrhauses und des deutschen und baltischen Protestantismus formt Aschenbrenner eine eingängige Erzählung, die den Leser unterhält, belehrt und bewegt. 1768 siedelte der erste Hoerschelmann nach Estland über und begründete zusammen mit seinem Bruder eine verzweigte Pastorendynastie, die bis ins 20. Jahrhundert im Baltikum lebte. Das Buch folgt den Schicksalen der Familie in den Umbrüchen der Moderne bis in die Gegenwart. In einer Reihe von persönlichen Porträts werden einzelne Hoerschelmanns – Männer wie Frauen – mit ihrem Leben und Wirken vorgestellt und in ihre Lebenswelt eingeordnet. Deutlich wird, wie schnell die Hoerschelmanns Teil der deutsch-baltischen Kultur wurden und sich zugleich um die Öffnung dieser Kultur für die Moderne und um die Verständigung mit Esten und Russen bemühten. Auch das Familienschicksal im 20. Jahrhundert, vor allem in den Weltkriegen, die das östliche Europa völlig umgestalteten, wird ausführlich behandelt. Historische Exkurse geben Hintergrundinformationen, die ein vertieftes Verständnis der Familiengeschichte ermöglichen. Dazu tragen auch Bilder, Karten und eine Stammtafel bei.

Leider verzichtet der Verfasser darauf, zusammenfassend über seine Quellenbasis zu informieren und seine Verarbeitung der Quellen kritisch zu reflektieren. Gerade aber, wenn es um familiengeschichtliche Nachrichten geht, muss man sich bewusst sein, dass diese Quellen oftmals nur einen Ausschnitt zeigen und zudem die Erinnerung aus bestimmter Perspektive wiedergeben und geradezu konstruieren. Wenigstens ein paar, die Danksagung und Auswahlbibliographie erläuternde Bemerkungen zur Quellenlage und zur Quellenkritik hätte es darum geben müssen.

Was den Titel Das evangelische Pfarrhaus und die Werbung auf dem Buchumschlag betrifft, die behauptet, es gehe im Buch um „Macht und Mythos des deutschen Pfarrhauses von Luther bis in die Gegenwart“, so ist zu bemerken, dass das Buch von einer einzelnen Pastorenfamilie und ihrer Verflochtenheit mit dem Schicksal des deutsch-baltischen Protestantismus von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts handelt. Gerade das ist die Stärke des Buchs: Nicht einen neuen Überblick über die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses von Luther bis heute zu geben, sondern an einem einzelnen, zeitlich und örtlich beschränkten Beispiel diese Geschichte zu veranschaulichen. Dadurch wird deutlich, welche historische und kulturelle Bedeutung das Pfarrhaus und der deutsch-baltische Protestantismus hatten – und welchen Verlust ihr Verschwinden bedeutet.

Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus. Siedler Verlag, München 2015, 368 Seiten, Euro 24,99.

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