Mehr Hummer im Stall

Weihnachten heißt, das Fremde lieben
Foto: Rolf Zöllner
Keiner soll draußen bleiben, alle sind willkommen. Naiv? Mag sein. Aber immerhin habe ich die Weihnachtsgeschichte auf meiner Seite.

In der Weihnachtskomödie „Tatsächlich Liebe“ von 2003, die auch in den kommenden Wochen wieder im Fernsehen zu sehen sein wird, gibt es eine kleine Szene, in der ein aufgeregtes Mädchen zuhause von ihrer Rolle im Krippenspiel der Schule erzählt: Sie sei der erste Hummer. Erstaunte Rückfrage der Mutter: „Es gab mehr als einen Hummer bei der Geburt Jesu?“ Ich mag diesen Dialog, und wie er in wenigen Sätzen die Weihnachtsgeschichte neu erzählt. Am Ende des Films wird dann noch ein Junge im Oktopuskostüm auftauchen, der auch auf dem Weg zu diesem Krippenspiel ist.

Das ist nicht biblisch, ich weiß. Vieles von dem, was die Weihnachtsbildsprache unserer Kirche und unserer Kultur prägt, was unsere Art Weihnachten zu feiern ausmacht, ist nicht biblisch. Natürlich nicht. Sogar Ochs und Esel kamen erst später dazu. Oder Adventskranz, Weihnachtsbaum, Weihnachtsgans und „Jauchzet, Frohlocket“. Der Glaube, dass Gott Mensch wurde, hat Erstaunliches hervorgebracht. Das ist Kultur. Sie wandelt sich. Ihre Erfinder sind Männer und Frauen, die dichten, malen, schreiben, die komponieren, kochen, singen, gestalten, schmücken und noch viel mehr konnten und können. Menschen, die sich inspirieren ließen und lassen von den alten Worten der Bibel, von ihrem Glauben. Auch von der irdischen Verheißung, dass sich mit der Weihnachtssehnsucht viel Geld verdienen lässt.

Die Krippenfiguren vorne am Altar, die Weihnachtsmärkte, Weihnachtsmänner, der Weihnachtshit oder -film gehören zur unübersichtlichen Weihnachtswelt in Kirche und Gesellschaft: Glaube, Glitzer, Glühwein, Gebete und Geschenke. Es ist nicht immer klar, wo das eine anfängt und das andere endet. Manches bleibt mir fremd - in Kirche und Fußgängerzone. Ich halte es aber für falsch, das, was mir fremd ist, abzulehnen. Die Weihnachtswucherungen pauschal zu kritisieren, bringt nicht weiter. Im Gegenteil: Ich wünsche mir den Hummer in den Stall.

Mag sein, meine Weihnachtsvision sprengt den Stall: Rund um das Kind in der Krippe drängt sich eine Menschenmenge. Pelzmanteldamen und Penner, die Hirten und die mit einer anderen Religion, die Sterngucker aus dem Morgenland. Oktopus und Hummer, Ochs und Esel. Weihnachten zu feiern oder für manche auszuhalten, gehört in Deutschland dazu - selbst bei vielen Menschen, die mit der Kirche nichts zu tun haben. Weihnachten könnte heißen: Keiner soll draußen bleiben, alle sind willkommen. Ob andächtig oder angeheitert, nachdenklich oder genervt. Weihnachten als große Inklusion Gottes. Weihnachten als Fest in einer offenen, vielfältigen Gesellschaft.

Naiv? Mag sein. Aber immerhin habe ich die Weihnachtsgeschichte auf meiner Seite: Sie legt den Menschen ein Neugeborenes ans Herz - und mit ihm Furcht und Freude, Hoffnung und Sorge. Jedes Menschenkind hat eine unsichere Zukunft und braucht den Frieden auf Erden, von dem Lukas die Engel singen lässt. Darum dürfen wir uns alle an der Krippe treffen - Abendland und Morgenland, Kind und Kegel, Oktopus und Hummer. Es gibt nur eine Regel: Wir sollten uns so benehmen, dass das Neugeborene schlafen kann.

Ulrich Lilie

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Foto: Rolf Zöllner

Ulrich Lilie

Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.


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