Die rohe Botschaft

Über die Schwierigkeit der Predigt am Heiligabend
Heiligabendgottesdienst in der Berliner Sophienkirche. Foto: epd/ Rolf Zöllner
Heiligabendgottesdienst in der Berliner Sophienkirche. Foto: epd/ Rolf Zöllner
Am 23. Dezember 2015 schrieb Marc Baumann im Magazin der Süddeutschen Zeitung, wie mutlos und nichtssagend Weihnachtspredigten auf ihn wirken. Er bat die Leserschaft, ihm gelungene Heiligabendpredigten zuzusenden und bekam 250 davon. In zeitzeichen verrät der Redakteur des SZ-Magazins, ob sich seine kritische Sicht ein Jahr danach verändert hat.

Ich kenne die Antwort schon, trotzdem frage ich jedes Jahr aufs Neue, spätabends am 24. Dezember: „Möchte jemand mit mir in den Mitternachtsgottesdienst gehen?“ Dann blicke ich in die müden Augen meiner Familie, die ermattet vom deftigen Weihnachtsessen und lauten Bescherungstrubel tief in die Sofas versunken ist. „Wir waren doch schon im Kindergottesdienst“, sagt meine Schwägerin, „es ist so kalt draußen“, findet meine Freundin, „mir ist das jetzt zu spät“, entschuldigt sich mein Schwiegervater. Stimmt, bequemer wäre es, im Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer zu bleiben. Alle Geschenke sind ausgepackt, die Kinder schlafen bereits, das Essen liegt schwer im Magen, der Tag scheint vorbei, aber mein Weihnachten beginnt erst jetzt. Ich finde das besinnlich: sich so spät noch einmal aufzumachen, hinaus in die Kälte und durch die leeren Straßen zu laufen, bis zu der alten, erleuchteten Kirche inmitten der schlafenden fränkischen Kleinstadt. Der Nachmittagsgottesdienst ist für viele die Pflicht vor der Kür unterm Tannenbaum, aber wer zum Mitternachtsgottesdienst geht, der kommt aus Überzeugung.

Am Eingang nicke ich mir unbekannten Menschen freundlich zu und setze mich als doppelt Fremder unter sie: als Münchner und Katholik. Seit sieben Jahren feiere ich bei der Familie meiner Freundin, auf evangelischem Boden. Denn eigentlich komme ich aus einer katholisch geprägten Gegend nahe München. Meine Großmutter wollte an Heiligabend immer noch in den Mitternachtsgottesdienst in der großen, wunderbaren, barocken Klosterkirche Fürstenfeldbruck. Als Abiturient habe ich sie Ende der Neunzigerjahre mit dem Auto hingefahren und dabei zum ersten Mal einen Gottesdienst erlebt, der mich wirklich berührt hat, auf den ich mich jedes Mal gefreut habe. Der Höhepunkt war für mich immer dasselbe Lied, das nie so schön klingt, wie in dieser Nacht, mit kleinen Hauchwolken im kalten, bis auf einen großen Weihnachtsbaum abgedunkelten Kirchenschiff gesungen. Stille Nacht, heilige Nacht. Wie gut diese Strophe in einen Spätgottesdienst passt: Alles schläft, einsam wacht. Und dann: Christ, der Retter ist da, Christ der Retter ist da. Bald 200 Jahre alte Strophen, die mich immer wieder ergreifen.

Die Predigt? Ich erinnere mich an keine mehr. Nicht damals in der prächtigen Klosterkirche, nicht heute in der protestantischen Dorfkirche und auch nicht an die der zwei, drei Gottesdienste in Kassel, wo wir Weihnachten bei Verwandten gefeiert hatten. Offenbar bin ich nicht der Einzige, dem es so geht. Im Januar 2015 schlug mein Chefredakteur in der Themenkonferenz des Magazins der Süddeutschen Zeitung vor, einmal über das Dilemma der Weihnachtspredigt zu schreiben. Den meisten ging es so wie mir - die Predigten ließen sie kalt. Aber warum? Der Artikel sollte bewusst nicht vom Kirchenexperten der SZ geschrieben werden, entschied die Konferenzrunde, sondern von mir, einem Folklore-Christen und Gelegenheitskirchgänger. Beinahe könnte ich mich als Atheisten bezeichnen, wenn ich nicht so gerne in Kirchen gehen würde, nicht zum Gottesdienst, sondern einfach so, zwischendurch, beim Einkaufen oder in Urlauben. Immer habe ich das Gefühl, einen besonderen Ort zu betreten, aber nie wird daraus der Wunsch, sonntags wiederzukommen zum Gottesdienst. Das ist kein Vorwurf, sondern ein Bedauern. Im Februar 2015 hat Papst Franziskus über die Predigtkultur seiner Kirche geklagt, es sei traurig, dass Priester und Gläubige dabei „oft leiden müssen - die einen beim Zuhören, die anderen beim Predigen“.

Einen besseren Einstieg in die Recherche hätte man nicht haben können, der Papst selber stimmt der These zu. Im Laufe des Jahres habe ich mit vielen Pfarrern gesprochen, mit Autoren von Predigtbüchern und mit der Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur. Alle waren sich einig, dass Predigten kurz sein sollen. Ein katholischer Geistlicher sagt zu mir, schon acht Minuten würden reichen. Das fand ich erstaunlich, die Sorge, die Zuhörer bloß nicht zu langweilen.

Nur noch ein Ritual

Im November 2015 besuchte ich ein Predigtseminar in München, in dem die Predigten von Romano Guardini besprochen wurden. Einen Vormittag lang saß ich mitten unter Theologen und hörte zum ersten Mal, wie viel Tiefe schon in einer einzigen Predigtzeile stecken kann. Für eine zweistündige Erörterung ist an Heiligabend in einer Kirche voller Familien keine Zeit, natürlich, aber ebenso falsch wie Überforderung scheint mir Unterforderung von Zuhörern. Viele Weihnachtspredigten zitieren die immer selben drei, vier Bibelstellen, der Heiland ist geboren, freuet euch, da ist man nicht überrascht, da bleibt kein neuer Gedanke hängen, da diskutiert man beim Abendessen nicht weiter. Dann bleibt der Kirchenbesuch nicht viel mehr als ein Ritual, der Segen zu einem Fest, dessen Deutung längst die Kaufhäuser und der Versandhandel übernommen haben.

Müsste ich einen Lieblingspfarrer nennen, wäre es Don Camillo aus der italienischen Buch- und Filmreihe Don Camillo und Peppone. Der furchtlose, die Ärmel zum Faustkampf hochkrempelnde Dorfpfarrer, der sich mit dem kommunistischen Ortsvorsitzenden Peppone anlegt und seinen Mitbewohnern derart kräftig die Leviten liest, dass er regelmäßig bei Gott zum Rapport antreten muss. Leben wir nicht, wie der fiktive Don Camillo, in einer Zeit, in der die Pfarrer die Ärmel hochkrempeln sollten? Wenn Populisten weltweit die Meinungshoheit für sich beanspruchen, Politikverdrossenheit die Demokratie gefährdet und das Internet uns in unserer immer kleineren Meinungsblase festhält, wie nötig wäre da eine neutrale, von allen anerkannte, höhere Stimme. Es erfordert Mut, Meinung zu beziehen, trotzdem wäre es wichtig. Ich habe im Sommer für die Süddeutsche Zeitung mit Priestern gesprochen, die sich für Flüchtlinge eingesetzte haben und danach bedroht oder gar verprügelt wurden. Auf das Haus eines Pfarrers wurde ein Brandsatz geworfen, einem anderen Hakenkreuze ins Auto geritzt. Wenn religiös begründeter Terror die Weihnachtsmärkte bedroht und auf dem Weg zur Kirche ein umstrittenes Flüchtlingsheim liegt, dann kann auch die Weihnachtspredigt der richtige Ort sein, um neben aller Besinnlichkeit und Krippenspielidylle kurz ernste Themen anzusprechen. Denn nur am Weihnachtsabend hört dem Pfarrer die ganze Gemeinde zu, Konservative, Liberale, Alte, Junge, Menschen, die oft miteinander nicht mehr reden, aber gemeinsam in den Bänken sitzen.

Mein Artikel erschien einen Tag vor Heiligabend. Als ich in der folgenden Nacht zur Kirche lief, stand an der Eingangstür ausgerechnet jene Pfarrerin, deren Predigt ich im Text - ohne Namensnennung - deutlich kritisiert hatte. Ich hatte eine Passage der Apostelgeschichte erwähnt, Kapitel 20, Vers 9-11, in der Paulus so lange predigt, bis ein vom Schlaf überwältigter Zuhörer namens Eutychus in den Tod stürzt und von Paulus zum Leben erweckt wird. Dann merkte ich zu der Predigt des Jahres 2014 in meiner kleinen Kirche an: „Die Pfarrerin redete nicht mal eine Viertelstunde, aber hätte es wie bei Paulus Plätze auf dem Fenstersims gegeben, es wären wohl einige Zuhörer ermüdet hinabgestürzt. Paulus' heutige Nachfolger können oft nicht einmal die Lebenden unter ihren Zuhörern erwecken.“ Ein harter Satz. Ich weiß nicht, ob ich froh bin oder es bedauere, dass die Pfarrerin meiner Weihnachtsgemeinde ihn nicht gelesen hat, oder mich nicht als Verfasser erkannt und angesprochen hat.

Ich wüsste gerne, was sie zu meinem ja ganz bewusst etwas provokanten Vorwurf sagt, dass ihre Predigten farblos sind. Mir ist klar, wie schwer eine gute Predigt ist, wie viel dazugehört, wie die Sätze sitzen müssen, wie die Körperhaltung stimmen muss, wie kompliziert es ist, 2000 Jahre alte Sprache und Themen in heutige zu übersetzen.

Am Ende des Artikels über die schwachen Weihnachtspredigten hatte ich im Autorenkasten meine E-Mail-Adresse geschrieben und Leser darum gebeten, mir das Gegenteil zu beweisen - Beispiele für gute Predigten zuzusenden. Mehr als 250 E-Mails haben mich bis heute erreicht, die letzte noch Mitte Oktober. Ja, es waren gute Predigten dabei, sogar sehr gute, auch mäßige, wobei mir klar ist, dass mir zur Predigtkritik das theologische Rüstzeug fehlt.

Was mir selbst als Kirchenlaie auffiel, war die Unsicherheit über die Qualität der eigenen Predigten, die aus vielen Mails herauszulesen war. Fast immer wurde ich um ein Feedback gebeten, eine Einschätzung, eine Bestätigung, dass das doch nun wirklich eine gute Predigt wäre. Als Journalist versteht man den Wunsch nach freundlicher Leserpost übrigens sehr gut, gerade in Zeiten des Facebook-Wut-Posts.

Ich mochte die Predigten, die mich überrascht haben, bei denen ich den nächsten Satz nicht schon erahnen konnte. Predigten, die in der Ansprache ungewöhnlich waren, die sehr persönlich waren, oder sehr meinungsstark. Predigten, die die gewohnten Pfade verlassen, laufen immer Gefahr, zu weit vom Weg abzukommen und zu verunglücken. Das fände ich aber nicht schlimm, selbst eine missglückte Predigt würde doch für mehr Gesprächsstoff daheim sorgen als eine Nullachtfünfzehn-Bibelauslegung. Wenn ich nicht weiß, was der Pfarrer am nächsten Sonntag vorhat, weckt das meine Neugier. Vielleicht liegt es auch an mir, an uns als Kirchengängern, dem Pfarrer dabei zu helfen, packender Predigten zu halten und uns mit seinen Predigten zu erreichen. Wie viele Menschen gehen nach einer Predigt zu den Pfarrern und reden mit ihm darüber? Warum habe ich über Jahrzehnte nie mal gesagt, dass mir bei der Predigt etwas gefehlt hat? Ist das Feedback der Gemeinde an den Pfarrer nicht beschränkt auf die Wortmeldungen der wenigen sehr aktiven Mitglieder - bei zeitgleichem Schweigen des Restes?

Verwirrend beim Vorlesen

Es gibt keine einfache Lösung für bessere Predigten. Ich habe keine Musterpredigt, die ich hier abdrucken könnte, die nach Formel X aufzeigt, was wann wie gesagt werden sollte, um von der Gemeinde auf Händen getragen zu werden. In einer der E-Mails hat mich eine Pfarrerin eingeladen, mit ihr zusammen eine Weihnachtspredigt zu schreiben. (Falls sie das liest: Ich hoffe, wir schaffen das 2017.) Ein toller Vorschlag, dachte ich, und merkte gleich, wie schwer das ist. Müsste ich 2016 die Predigt in der Abendmesse am 24. Dezember halten, was würde ich denn sagen? Ich habe das im Frühjahr mal ausprobiert, den Zettel habe ich noch. Mein erster Predigtentwurf hatte den Gedanken, dass Weihnachten eine Verpflichtung ist. Dass kein Abend so sehr zeigt, wie gut es uns geht, als der, an dem die Müllcontainer überquellen vor Geschenkverpackungsmaterial. Dass der Satz „Wir schaffen das nicht“ unglaubwürdig klingt, wenn man ihn von einem Berg aus Geschenken herunterruft. Klang ein bisschen nach erhobenem Zeigefinger. Mein zweiter Predigtentwurf war im Stil eines Facebook Posts und der darunter folgenden Kommentarleiste - wurde dann aber etwas zu verwirrend beim Vorlesen. Die letzte notierte Idee war: Wenn ich Pfarrer wäre, würde ich meine E-Mail-Adresse aushängen und jedes Gemeindemitglied bitten, mir einen Satz zu schreiben, den ich nächsten Sonntag in meiner Predigt vorlesen werde, egal, was darauf steht. Ich vermute, der Gottesdienst wäre überdurchschnittlich gut besucht. Das ist die frohe Weihnachtsbotschaft, die bei der Predigt zu oft vergessen wird: Wir sind an den anderen 364 Tagen auch für Sie da.

Marc Baumann

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