Erst Gott, dann Christus

Der Kirchenhistoriker Karl Holl hat die Lutherforschung verändert
Der junge Karl Holl (um 1900). Foto: akg-images
Der junge Karl Holl (um 1900). Foto: akg-images
Karl Holl, der vor 150 Jahren geboren wurde, gilt als Begründer der so genannten Lutherrenaissance am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts. Georg Raatz, Theologischer Referent bei der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), erinnert an den bedeutenden Theologen und spannt den Bogen zum Reformationsjubiläum 2017.

Als Karl Holl 1866 in Tübingen geboren wurde, lagen eine kritische Lutherforschung im strengen Sinne und die dafür notwendige Textbasis der „Weimarer Ausgabe“ und anderer Editionen noch in weiter Ferne. Als Holl 1926 nur sechzigjährig in Berlin starb, waren nicht nur die Welt von gestern und das Kaiserreich untergegangen, sondern es hatte sich auch die theologische Gesamtlage gewaltig verschoben. Mit der so genannten Lutherrenaissance hatte Karl Holl eine theologische Schule begründet und zugleich deren ersten Gipfel erklommen, von dem aus seine Schüler weitergingen - unter anderen Emanuel Hirsch, Heinrich Bornkamm, Paul Althaus und Hanns Rückert.

Holls theologische Karriere begann nach seiner für einen Württemberger klassischen Ausbildung an den niederen evangelisch-theologischen Seminaren Maulbronn, Blaubeuren und am Tübinger Stift holperig: Vom akademischen Betrieb war er durch die schlechte Bewertung einer seiner Qualifikationsschriften ernüchtert und vom Pfarrdienst durch den Apostolikumsstreit 1891/92 um den Stiftsrepetenten Christoph Schrempf abgeschreckt. Schrempf war aufgrund seiner Verweigerung, bei Taufen das Apostolische Glaubensbekenntnis zu sprechen, aus dem Pfarrdienst entlassen worden. Auf Holl hatte dies einen nachhaltig deprimierenden Eindruck gemacht. Schienen in der Kirche doch immer stärker konfessio-nalistisch-konservative Kräfte die Oberhand zu gewinnen, die sich von historischer und theologisch-wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit verabschiedeten. Ein Amt in einer solchen Kirche zu bekleiden, war für ihn hinfort undenkbar. Er fand dann den Einstieg in die Wissenschaft über den Umweg des bisweilen staubigen Geschäfts der Quellenedition. Es war Adolf von Harnack (1851-1930), der Holl entdeckte und an die Preußische Akademie der Wissenschaften nach Berlin holte, um dort die Texte der griechischen Kirchenväter herauszugeben.

Holls Umsatteln auf Reformationsgeschichte und ihren Wittenberger Protagonisten verdankt sich dann vornehmlich der steilen Karriere Adolf von Harnacks. Zu dessen Entlastung wird 1906 an der Berliner Theologischen Fakultät eine weitere Kirchengeschichtsprofessur eingerichtet, auf die auf Harnacks Betreiben Holl, mittlerweile außerordentlicher Professor in Tübingen, berufen wird. Da Harnack die Alte Kirche und das Mittelalter übernehmen will, muss Holl nun mit der Reformationsgeschichte Neuland unterpflügen. Und dies tut er gründlich: In der Folgezeit legt er mit zahlreichen und umfangreichen Aufsätzen seine Forschungsergebnisse vor, die an historischer Gründlichkeit und Abgewogenheit, aber auch systematischer Grundierung ihresgleichen suchen. Wie er sich überhaupt für die großen Persönlichkeiten der Christentumsgeschichte interessiert, so widmet er sich auch hier insbesondere der Person und Theologie Martin Luthers.

Streng genetisch

Was ist das Neue und was macht die Faszination von Karl Holls Lutherdeutung aus?

Zum einen verfolgt Holl eine konsequent werkgeschichtliche Interpretation. Alle Themen sind streng genetisch durchgearbeitet. Große und kleinste gedankliche Entwicklungen werden beinahe kriminalistisch nachgezeichnet, ohne dass man einen Gesamteindruck verlieren würde. Dies hat nicht nur die Lutherforschung methodisch befruchtet, sondern betrifft in letzter Konsequenz auch die theologisch-systematischen, theologiepolitischen und kirchlichen Rekurse auf den Reformator. Seit Holl kann man nicht mehr leichthin von der Theologie Luthers sprechen. Wer sich auf Luther in legitimatorischer Absicht beruft, kommt zum einen nicht umhin, Texte und Kontexte präzise zu benennen. Und zum anderen muss er sich stets der eigenen Konstruktionsleistung bewusst sein, weil es eben die Theologie Luthers an sich nicht gibt, sondern nur jeweils eigene und mehr oder weniger anschlussfähige Deutungen.

Auf das Reformationsjubiläum 2017 angewendet wirkt diese Umkehrung der Fragestellung anregend: Aus der Frage, welche Impulse von Luther und der Reformation ausgegangen sind, wird die Frage: Welche Impulse leiten das jeweils eigene Luther- und Reformationsgedenken, wozu will sich Kirche und Theologie in Kontinuität setzen und wozu nicht? Diese Aufgabe ist nicht durch die einfache Formel „Schatten- und Lichtseite der Reformation“ zu lösen nach dem Motto „Wenn wir die Schattenseiten - wie Luthers späte Judenschriften - nur emphatisch genug benannt und verurteilt haben, leuchtet der Rest umso heller“. Vielmehr betrifft diese geschichtshermeneutisch komplexe Denkbewegung auch diejenigen reformatorischen Lehren, die man meint, ohne weiteres hochhalten zu können, wie zum Beispiel die Rechtfertigungslehre.

Luthers Gewissensreligion

Dies führt zum zweiten wichtigen Aspekt der Lutherforschung Holls: Sie bringt vor allem den frühen und frühesten Luther zum Leuchten, dessen Schriften Holl dank der seit 1883 erscheinenden Weimarer Lutherausgabe und anderer Editionen mehr und mehr zugänglich wurden. Im Anschluss an den damals prägenden Philosophen Wilhelm Dilthey (1833-1911) meinte auch Holl, dass die Frühzeit eines Autors deshalb von besonderer Relevanz ist, weil hier der Überschritt vom ethisch-religiösen Empfinden zum theologischen Ausdruck am unmittelbarsten nachzuvollziehen ist. Und da für Holl feststeht, dass Luthers Theologie nur dann Gegenwartsrelevanz beanspruchen kann, wenn sie auch als Ausdruck des religiösen Empfindens in der Moderne zur Geltung gebracht werden kann, geht es ihm in erster Linie um Luthers Religion. Und so lautet der Titel seines wohl bekanntesten Aufsatzes: „Was verstand Luther unter Religion?“ Für Holl geht es in Luthers Religion um das eigene Gewissen, ja um nichts weniger als die Ermöglichung der eigenen Subjektivität. Diese könne sich nur in einer persönlichen und unvertretbaren Verantwortung vor Gott begründen. Luthers Religion bringt Holl deshalb auf den Begriff der Gewissensreligion. In dieser Klammer steht auch seine Deutung von Luthers Rechtfertigungsglaube: In Bezug auf ihn gilt es, Luthers religiöses Empfinden zu ergründen, jedoch „nichts als religiös anzuerkennen, als was […] aus dem eigenen unmittelbaren Empfinden heraus wieder erzeugt werden kann“, - so bereits 1906 in seinem Vortrag „Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?“.

Für das Reformationsjubiläum 2017 sollte daraus die harte Frage folgen: Stellt die Rechtfertigungslehre in der spezifischen Form bei Luther überhaupt die zentrale Botschaft der Reformation dar, wie gebetsmühlenartig behauptet wird, oder präziser: Trägt die Rechtfertigungslehre als Deuteschema für eine protestantische Frömmigkeit der Gegenwart überhaupt noch etwas aus? Sowohl die anthropologischen Transformationen, wie auch die Umformungen von Gotteslehre und Christologie seit der Aufklärung lassen hier einigen Zweifel aufkommen. Und trotz Holls Bemühen um eine anerkennungstheoretische Reformulierung besteht sein größeres Verdienst wohl darin, Luther als Entdecker der Subjektivität und Unvertretbarkeit der Religion gewürdigt zu haben.

Der Ansatz bei Luthers Religionsverständnis hat Holl schließlich - und das ist der dritte neue Aspekt - zu der These geführt, dass es Luther in erster Linie um das persönliche Gottesverhältnis ging. Holl versteht daher den Reformator als theozentrischen Theologen, ohne die christologische Dimension von Luthers Theologie zu marginalisieren. Allerdings komme dieser lediglich eine funktionale Dignität zu: Der Glaube richtet sich auf Gott und nur auf Gott, aber auf den, von dem wir ein Bild nur über den Menschen Jesus als dem Christus haben. Ganz in diesem Sinne versteht Holl auch Luthers Bibelverständnis als ein funktionales. Auf das Reformationsjubiläum 2017 und die Vorliebe mancher Protagonisten desselben für die vier oder mittlerweile fünf Allein-Formeln bezogen, ist festzuhalten: Für Karl Holl hat der Glaube an Gott (sola fide) und das Vertrauen auf die Gnade Gottes (sola gratia) Vorrang vor dem „allein Christus“ (solus Christus) und dem „allein die Schrift“ (sola scriptura). Auch vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, das Reformationsjubiläum als Christusfest zu feiern. Die Ökumene sollte wenigstens zum Reformationsfest - und das gilt auch für 2017 - ein wenig Differenzhermeneutik aushalten.

Steht eine je aktuelle Reformations- und Lutherhermeneutik in der Spannungseinheit von Kontinuität und Aneignung auf der einen und Kritik, Diskontinuitäts- und Fremdsetzung auf der anderen Seite, so können wir auch deren Deutungsgeschichte und mithin Holl nur in dieser Weise rekonstruieren. Holl hatte es in seiner Aneignungsemphase noch nicht wie Albrecht Ritschl, Harnack und Ernst Troeltsch vor und neben ihm und sein Schüler Emanuel Hirsch nach ihm vermocht, methodologisch klar und explizit zu unterscheiden, welche Ideen Luthers er für modernitätstauglich hält und welche nicht.

Das bleibende Verdienst Holls dürfte deshalb auch nicht so sehr in seinem Bemühen um die Aneignung von Luthers Rechtfertigungslehre bestehen. Vielmehr kann die darin liegende tiefere Struktur des Verhältnisses von Theologie zur Religion unser heutiges Reformations- und Lutherverständnis anregen: nämlich prinzipiell die Anschlussmöglichkeiten an die theologischen Begriffsschemata der Reformation immer nur nach ihrer Bezugsmöglichkeit auf die je aktuellen Signaturen religiösen Empfindens, Erlebens und Deutens bewerten und vollziehen zu können.

Wenn Holl uns im Reformationsjubiläum 2017 auf diese Linien führen hilft, dann gehört er sicherlich in die „vorderste Linie deutscher Gelehrter“ (Harnack). Die historischen und systematischen Protagonisten des Reformationsjubiläums scheinen überhaupt gut beraten, sich stärker als bisher an ihre bedeutenden Vorgänger zu erinnern, Johann Gottfried Herder, Johann Salomo Semler, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ritschl, von Harnack, Troeltsch, Paul Tillich und eben auch an Karl Holl. Die heutigen Akteure, die meinen, direkt zurückspringen in die Zeiten Luthers zu können, sollten sich der zurückliegenden und geschichtshermeneutisch reflektierten Reformationsdeutungen mit-erinnern, um nicht alles wieder neu zu erfinden oder unter deren Niveau zu bleiben.

Georg Raatz

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