Schaffner des Jahrhunderts

Punktum
Gibt es denn gar nichts Positives bei der Bahn? Natürlich gibt es das...

„Herr Kästner, wo bleibt das Positive?“ So wurde einst der gleichnamige Schriftsteller mit Vornamen Erich gefragt – jedenfalls wenn wir seinem gleichnamigen Gedicht von 1930 glauben dürfen.

Die Frage, wo das Positive bleibt, muss auch ich mir gefallen lassen, denn meist, nein, eigentlich immer, habe ich mich hier über bedauerliche, groteske, aber real vorkommende Pannen, Fehlleistungen und Skurrilitäten der Deutschen Bahn ausgelassen, deren guter Kunde ich bin. Gibt es denn gar nichts Positives bei der Bahn?

Natürlich gibt es das. Erst vor einigen Monaten durfte ich etwas erleben, was alle lästigen Verspätungen, kuriose Fehlansagen und verkehrte Wagenreihungen in den Schatten stellt. Ich fuhr mit einem Regionalzug von Berlin-Zoo nach Berlin-Spandau, um dort in den ICE nach Hamburg umzusteigen. Ich stieg aus, der Regionalzug fuhr weg, und auf einmal bemerkte ich ein so „leichtes Gefühl“ in der Hosentasche. Oh weh, mein Portemonnaie war weg! Es durchzuckte mich heiß und kalt, denn darin befand sich neben Bargeld, sämtlichen Ausweispapieren, EC- und Kreditkarten auch mein Fahrschein, und das war eigentlich das Allerwichtigste, die Eintrittskarte für das Spiel des FC St. Pauli gegen Eintracht Braunschweig, das ich abends am Hamburger Millerntor mit einem Freund live erleben wollte.

Da klingelte mein Mobiltelefon. Am anderen Ende meldete sich ein Herr B. – der Zugbegleiter aus meinem Regionalzug. Ja, er habe mein Portemonnaie gefunden und darin meine Visitenkarte mit der Mobilnummer, und er habe sich gedacht, es sei doch gut, mich mal anzurufen. Herr B. hatte sofort eine Lösung parat: Er würde in zehn Minuten am Bahnhof Nauen mein Portemonnaie an die Kollegin aus dem Gegenzug, der gen Spandau fahre, übergeben und dann könnte ich um 16:20 Uhr meine Börse in Spandau wieder in Empfang nehmen: „Rühren Sie sich einfach nicht von der Stelle!“ Exakt so geschah es – wie wunderbar! Ich erwischte zwar eine Stunde später als geplant den ICE nach Hamburg, kam aber trotzdem noch rechtzeitig zum Fußballspiel. Per sms – er hatte ja meine Nummer – wünschte mir der famose Herr B. sogar noch einen Sieg für meine Mannschaft, der übrigens auch eintraf.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein, aber genauso war es. Eigentlich sollte ich also nie mehr etwas gegen die Deutsche Bahn vorbringen, oder? Doch jetzt die ganze Wahrheit: Der famose Herr B. war gar kein Zugbegleiter der Deutschen Bahn, sondern ein Zugbegleiter der privaten Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft, kurz ODEG. Insofern, so leid es mir tut, gehen die Meriten für diese Großtat nicht an die Deutsche Bahn, sondern an einen ihrer Mitbewerber. Ob es bei der Deutschen Bahn auch solche Jahrhundert-Schaffner wie Herrn B. gibt? Ich hoffe schon. Aber ausprobieren, mit Verlaub, möchte ich es dann lieber doch nicht …

Reinhard Mawick

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