Spielen und Schweigen

Muße braucht ungejagte Zeit
Hat das Schweigen noch Platz im Gebet? Foto: dpa/ Pascal Deloche
Hat das Schweigen noch Platz im Gebet? Foto: dpa/ Pascal Deloche
Die Muße hat es schwer in einer Zeit, in der der Glaube an Gott durch den Glauben an die Effizienz ersetzt wurde, meint der Religionspädagoge und Publizist Fulbert Steffensky. Er beschreibt Momente der Muße in der Literatur und im Gebet und wünscht sich mehr Absichtslosigkeit im Gottesdienst.

In den Abenteuer des Tom Sawyer von Mark Twain finde ich folgende Geschichte: Der Knabe Tom wird von seiner Tante bestraft, weil er mit einem zerrissenen Hemd nachhause kommt. Er muss an einem herrlichen Frühlingsmorgen einen Zaun anstreichen. Lustlos ist er an seiner Strafarbeit, als sein Altersgenosse Ben Rogers auftaucht und ihn wegen seiner Zwangsarbeit verspottet: „Hallo, alter Junge, musst wohl heute feste ran, was?“ Tom beachtet den Spott nicht und tut listig, als sei das Anstreichen ein höchstes Vergnügen. Ben will Anteil an diesem Vergnügen und bittet darum, ebenfalls pinseln zu dürfen. Scheinbar widerwillig und ungern überlässt Tom seinem Freund den Pinsel und die Arbeit. Vergnügt und befreit von der Pflicht schaut er zu, wie Ben an seiner Stelle den Auftrag der Tante erledigt. Was für Tom lustlose Pflichterfüllung ist, ist für Ben Spiel und Vergnügen. Ben ist ein Müßiggänger, obwohl er arbeitet. Er handelt aus freiem Willen, ohne ein Ziel zu verfolgen. Das nennt man Muße.

Was ist der Unterschied zwischen beiden Arbeitern? Toms Arbeit ist erzwungen, die Tante hat sie befohlen, sie ist seine Strafe. Ben hat um die Arbeit gebeten und ist damit auf andere Weise Subjekt und Souverän seines Tuns. Toms Tätigkeit erfüllt Zwecke: Die Strafe soll abgebüßt und der Zaun durch den Anstrich gerettet werden. Bens Tätigkeit zielt nicht auf Zwecke. Der Erfolg seiner Arbeit ist seine Arbeit selbst. Seine Arbeit ist sinnvoll und reines Spiel. Sie ist kein Geschäft, das er betreibt des Lohnes und des Ergebnisses willen. Tom verrichtet seine Arbeit mechanisch. Seine Seele ist bei ganz anderen Dingen, er liebt die Arbeit nicht, und ihn kann nur erfreuen, dass diese irgendwann getan und vorbei ist. Die Arbeit trägt seine Handschrift nicht, weil er sie nicht liebt und nur darauf wartet, bis sie vorbei ist. Ben liebt jeden Pinselstrich; er geht auf und ist versunken in sein Tun. Was Tom erzwungenes Anstreichen ist, ist bei Ben Malen, es ist Arbeit seiner Phantasie, es ist Kunst, er malt nicht nur mit seinem Pinsel, sondern mit seinem ganzen Herzen. Lustlosigkeit bei Tom, Freude an der Arbeit bei Ben. Genau genommen arbeitet Ben nicht, sein Tun ist Muße, es ist Spiel. Ein Lob der Muße im „Kleinen Prinz“ von Antoine de Saint Exupéry, eine Geschichte, erzählt gegen die reine Effizienz. Der Kleine Prinz kommt zu einem Händler, der seine Durst stillenden Pillen anpreist. Er lobt den Vorteil der Zeitersparnis, da dass Trinken entfällt. Er rechnet dem Prinzen vor: „Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man erspart dreiundfünfzig Minuten in der Woche.“ Der Kleine Prinz aber antwortet mit geradezu jesuanischem Humor, wenn er diese Zeit gewönne, „würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen.“

Schöner kann das reine Effizienzdenken nicht ironisiert werden. Der Händler mit den Durst stillenden Pillen raubt den Menschen die Umwege, die Langsamkeit und den Genuss der Wege. Die Lebensvorgänge werden begradigt, wie unsere Flüsse begradigt werden und dabei viel von ihrer Schönheit einbüßen. Die effiziente Direktheit hat ihren Charme gefressen. Könnte es sein, dass die Vorherrschaft des Effizienzdenkens auch auf menschliche Verhältnisse abfärbt? Wird das schöne Wort Liebesspiel verschwinden, weil auch jede Erotik begradigt wird auf grobe sexuelle Direktheit? Was wird aus den Behinderten, den Alten und den schwer und lange Kranken, die zu nichts mehr nütze sind und sich nicht mehr durch ihre Effizienz ausweisen können. In einem Rechenbuch aus der Nazizeit lese ich folgende Aufgabe: „Ein Geisteskranker kostet die Volksgemeinschaft täglich 11 Reichsmark. Berechne, wie viel 13 Geisteskranke die Gemeinschaft in 5 Jahren kosten. Berechne weiter, wie viele Siedlungshäuser man dafür bauen könnte, wenn ein Haus 22?000 RM kostet.“ So weit gehen unsere Rechenmeister nicht. Aber wenn Sinn nichts mehr anderes ist als Zweck und Nutzen, dann ist der Charme des Lebens in Gefahr. Eine andere charmante Geschichte gegen die Effizienzversessenheit lese ich im Markusevangelium (14, 2-9). Jesus ist Gast im Hause Simons des Aussätzigen. Als sie zu Tische sitzen kommt eine Frau, sie hat ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl. Sie zerbricht das Glas und salbt sein Haupt. Die Tischgenossen ärgern sich und sagen: „Was soll diese Vergeudung! Man hätte das Öl für mehr als 300 Silbergroschen verkaufen und das Geld den Armen geben können.“ 300 Silbergroschen sind in jener Zeit etwa der Jahresverdienst eines Landarbeiters, sofern er Arbeit hatte. Lukas beschreibt diese Geschichte noch drastischer und erotischer. Bei ihm ist die Frau eine bekannte Sünderin. Auch sie bringt das kostbare Öl und salbt ihn. Sie benetzt seine Füße mit ihren Tränen und trocknet Jesus mit ihren Haaren. Was soll die Vergeudung? Was soll diese nutzlose Geste? Was soll diese zwecklose Schönheit? So fragen jene Männer, die etwas von Kosten und Nutzen verstehen. Wer würde ihnen nicht zustimmen! Das Geld hätte man tatsächlich den Armen geben können. Die Schönheit kann sich nicht rechtfertigen, sie ist, weil sie ist. Die Zwecke haben immer die Argumente für sich. Das Spiel hat kein Argument. Es ist, weil es ist.

Keine Argumente

Diese kleine Geschichte ist die Erzählung eines Liebesspiels, einer nicht begründbaren Zärtlichkeit. Es ist eine graziöse Geschichte. Graziös kommt von gratia, welches Gnade bedeutet. Gnade ist das Liebesspiel zwischen Gott und dem Menschen, zwischen dem Menschen und Gott. Sie bedeutet das ungeschuldete Überfließen des einen zum anderen. Ihr schönstes Bild findet sie in der Geschichte dieser wehrlosen Frau, die sich zum Gespött der Männer macht, weil sie das Unsinnige wagt. In deren Augen hat Sinn nur das, was Zweck hat.

Muße und freies Spiel setzen die Zuversicht voraus, dass die Welt nicht von uns geschaffen und vollendet werden muss. Ich erzähle eine Anekdote solcher Zuversicht aus dem Jahr 1983, dem Höhepunkt der Friedensbewegung. Der vor einigen Monaten verstorbene amerikanische Jesuit und Bürgerrechtler Daniel Berrigan, der viele Jahrzehnte für den Frieden und für soziale Gerechtigkeit gearbeitet hat und wegen dieser Arbeit mehrmals im Gefängnis war, wollte sich nach einem solchen Gefängnisaufenthalt und nach einer längeren Vortragsreise bei Freunden ausruhen. Es kam ein Anruf aus einem Friedenscamp, in dem einige hundert Jugendliche zusammen waren. Sie wollten ihn hören, und seine Freunde meinten, er sei unentbehrlich, er müsse kommen und für den Friedensgedanken werben. Er, der so viel gearbeitet hat, entzog sich dem Zwang der Aktivität. Er ging ins Theater, er besuchte Konzerte, er kochte für seine Freunde und Freundinnen und aß und sang mit ihnen. Man sagte ihm, jetzt in dieser kritischen Zeit der Friedensbewegung sei keine Zeit für Theater und Kochen. Seine Antwort: „Wenn die Friedenssache an mir allein hängt, dann ist sie sowieso verloren.“ Er war fähig, etwas zu tun, er war fähig, etwas zu lassen. Mitten im Trubel seiner Arbeit gelang ihm eine lustvolle Gelassenheit. Er war ein Prophet des Friedens, aber er gehörte nicht zu den Propheten mit Schaum vor dem Mund, die auf nichts anderes setzen als auf die eigene Arbeit. Vielleicht heißt dies an die Gnade glauben. Er glaubte nicht, dass er mit seiner Arbeit der Grund des Lebens und der Welt ist. Die Welt ist von Gott geschaffen und wird durch ihn vollendet. Er konnte sich dem Zwang der Geschäfte entziehen, weil er wusste, dass er nicht Gott war. Gnade hat etwas zu tun mit Gewaltlosigkeit, auch mit der Gewaltlosigkeit sich selbst gegenüber.

Ich vermute, dass das Lassen, die Gelassenheit, die Muße und das freie Spiel so schwer gelingen, weil der Glaube an Gott und der Glaube an den Sinn des Lebens ersetzt wurde durch den Glauben an die pure Effizienz und Effektivität. Kein Gott fordert mehr Opfer als der Gott Effizienz und Produktivität.

Unter der Hand geschieht bei der Effizienzversessenheit noch etwas anderes. Die Jagd nach Produktivität wird zur lustvollen Gejagtheit. Die Atemlosigkeit wird zum Statussymbol. Mit dem vollen Terminkalender bestätigt man sich die eigene Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit. Davon sind Kirchenleute keineswegs verschont. Bei meiner Arbeit mit Pfarrern und Pfarrerinnen stelle ich gerne eine Gewissenfrage: Was musst du nicht tun, was kannst du lassen? Zum besinnungslosen Werkeln kommt es, wo man von der eigenen Unentbehrlichkeit überzeugt ist und sich darum nicht fragen kann, wo man entbehrlich ist.

Hat die Geschäftigkeit inzwischen nicht auch unsere Gottesdienste erreicht? Gottesdienste sind die schönsten Stellen der freien Absichtslosigkeit, der Muße und des Spiels; jedenfalls sind sie es an erster Stelle. Gewiss gibt es Gottesdienste mit unerlässlichen Absichten. Wenn ein Gottesdienst das Elend der Flüchtenden bedenkt, dann hat er natürlich zu Recht Absichten. Aus dem Spiel wird Ernst. Aber unsere Gottesdienste und Gebete sind nicht nur Orte der moralischen Zurichtung. Sie sind auch das interessenfreie Lob Gottes. Ich habe gelegentlich Probleme damit, dass moralische Absichten in unseren Gottesdiensten die Überhand gewinnen und ihnen alles unterworfen wird. Alles bekommt einen moralisch-appellativen Charakter: die Gebete, die Fürbitten, die Präfation, der Segen am Ende. Alles könnte den Charakter eines sozialpolitischen Avanti Populo! annehmen. Mit der Allgegenwart des Moralisch-Ethischen zerstören wir gerade die moralische Aufnahmefähigkeit. Wir brauchen auch die absichtslose Schönheit unserer Gebete und Lieder; vor allem das absichtslose Lob Gottes. Nicht jede Stelle unserer Gottesdienste ist ethisch verwendbar. Wenn wir das nicht beachten, enden wir im moralischen Kitsch.

Das Lob Gottes und die Muße im Gottesdienst finden ihre deutlichste Stelle im Singen und im Schweigen. Schweigen verstehe ich nicht nur als Wortlosigkeit, sondern als die Grundform der Absichtlosigkeit. „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige“, singt Gerhard Tersteegen (1697-1769). Das Schweigen ist die Weise, die Gottes Größe und sein Geheimnis am meisten respektiert. Aber Schweigen ist das, was unseren Gottesdiensten am meisten fehlt. Das Schweigen wird an allen möglichen Stellen aufgesucht, in der Meditation, in Schweigeseminaren, in Schweigekursen. Nur in den Gottesdiensten hat es wenig Platz. In Heinrich Bölls Dr. Murkes gesammeltes Schweigen schneidet sich der Rundfunkredakteur Dr. Murke das seltene Schweigen aus den geschwätzigen Vorträgen von Bur-Malottke heraus und spielt es sich am Abend zu seiner geistigen Sanierung vor.

Das Tonband mit den Schweigeschnipseln aus unseren Gottesdiensten wäre kurz. Sie sind zu Mitteilungsveranstaltungen geworden. Auch unsere Gebete sind oft wortgewaltige Mitteilungen an Gott. Ich wünsche mir wenigstens ab und zu Gottesdienste, in denen wir Gott nichts mitteilen und nichts von ihm wollen. Religionen sind oft große narzisstische Petitionsveranstaltungen. Es ist richtig, dass wir unsere Schreie des Glücks und der Schmerzen im Gottesdienst nicht verbergen. Aber wo hat die große Absichtslosigkeit einen Platz? Wo hat das reine Lob, der reine Gesang auf „aller Dinge Grund und Leben“ (Tersteegen) seinen Platz? Wo wollen wir einmal nichts von Gott, außer, ihn zu loben und zu ehren? Wo ist Gott einmal nicht unsere Milchkuh, in deren Stall wir nur steigen, wenn wir sie melken wollen? Sich jemandem ohne Absichten und Hintergedanken zu nähern, heißt ihn lieben. Kann der Gedanke, Gott zu lieben, noch einmal gedacht werden? Muße heißt, aus freiem Willen handeln, ohne ein Ziel zu verfolgen.

Der Zwang, Gottesdienste interessant und spannend zu machen, ist ein Anderes, was das Moment der Muße stört. Muße braucht Sammlung, Ruhe, Entspannung, ungejagte Zeit und eine lange Weile. Wo Interessantheit Ziel wird, da geht es rasch zu, Kurzfristigkeit, Spannung und Wechsel sind die Mittel einer zweifelhaften Interessantheit. Man braucht Gottesdienste ja nicht mit Gewalt langweilig machen, aber man muss sie auch nicht mit Gewalt interessant machen.

Ich kenne den Einwand und nehme ihn ernst: Die Momente der Muße, die ich genannt habe, gehen gegen den kulturellen Trend unserer Zeit und Gesellschaft. Spannung und Interessantheit sind die angebeteten Götter. Könnte es aber sein, dass unsere Gottesdienste auch Gegenveranstaltungen sein könnten gegen die Diktate einer Gesellschaft? Die besten Köpfe merken schon lange, wie unsere Seelen veröden in der Zeitraffermentalität und im Beschleunigungswahn. Inzwischen überlegt man, was gegen eine pure Leistungsideologie Muße in der Schule bedeuten kann. Muße ist Thema an Akademien und in Rundfunksendungen. An der Universität Freiburg ist ein Sonderforschungsprojekt zum Thema Muße eingerichtet. Wir merken, wir haben keine Zeit mehr, die Umwege des kleinen Prinzen zu seinem Brunnen zu vermeiden.

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Fulbert Steffensky

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Fulbert Steffensky

Fulbert Steffensky ist Theologe, Religionspädagoge und Autor. Er war von 1954 bis 1968 Benediktinermönch und konvertierte 1969 zum evangelisch-lutherischen Bekenntnis.


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