Mutig voran

Der christlich-jüdische Dialog muss Folgen für die Christologie haben
Auf dem Kruzifix der Prager Karlsbrücke steht seit 1669 auf Hebräisch das dreifache „Heilig“, das nach jüdischem Verständnis allein Gott zukommt. Ein Jude, der das Kreuz verhöhnt haben soll, musste die Inschrift bezahlen. Foto: dpa
Auf dem Kruzifix der Prager Karlsbrücke steht seit 1669 auf Hebräisch das dreifache „Heilig“, das nach jüdischem Verständnis allein Gott zukommt. Ein Jude, der das Kreuz verhöhnt haben soll, musste die Inschrift bezahlen. Foto: dpa
Die evangelische Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg äußerte in der Juli-Ausgabe die Befürchtung, die berechtigte Kritik an Luthers Judenhass könne in einer Überreaktion dazu führen, dass Einsichten der Reformation „abgeschmolzen werden“. Der liberale Rabbiner Walter Homolka setzt sich mit ihren Thesen auseinander und fordert, „allein Jesus Christus“ so zu denken, dass die Rolle des Judentums als Bundesvolk nicht beschnitten wird.

Keine Angst vor religiösen Gegensätzen zwischen Judentum und Protestantismus“, fordert Dorothea Wendebourg. Die Erschütterung über Luthers Judenschriften darf ihrer Überzeugung nach nicht zu einem „Abschmelzen der eigenen Traditionen“ führen. Und zielsicher macht die evangelische Kirchenhistorikerin den fundamentalen Unterschied zwischen Juden und Protestanten am „allein Jesus Christus“, dem solus Christus Martin Luthers fest, der „Antwort auf die Frage, ob Jesus von Nazareth Sohn Gottes und Erlöser aller Menschen ist“. Die „Ablehnung Jesu Christi durch die Juden“ sei die „entscheidende theologische Begründung“ Luthers für die von ihm geforderte „Zerstörung der religiösen und sozialen Infrastruktur der Juden, ihre Entrechtung und Vertreibung“ gewesen. Neben der Ablehnung von Gesetz und Werken als „Wege des Heils“ geht es dem Reformator nach Wendebourg vor allem um die unterschiedliche Bewertung der Person Jesu als Christus.

So sah es gegen Ende des 19. Jahrhunderts der „Allgemeine Rabbiner-Verband in Deutschland“: „Solange Christen an der Überlieferung der Inkarnation, der erlösenden Macht Jesu und an der Verwerfung des Gesetzes als grundlegendem geistigem und ethischem Prinzip festhalten, . wird das Christentum nicht frei sein von Elementen, die den Ansprüchen der Vernunft zuwiderlaufen, . und es ist unsere Aufgabe, aus dem Reichtum des reinen Monotheismus - und damit aus dem Reichtum reinster Sittlichkeit - etwas beizutragen zur menschlichen Kultur im allgemeinen und zu unserer deutschen Kultur im besonderen.“

Professorin Wendebourg stellt also zu Recht fest, dass die jüdische Theologie des 19. Jahrhunderts - soweit sie sich mit dem Christentum im allgemeinen und dem Protestantismus im Besonderen auseinandersetzte - die reformatorische Sicht auf Christus, Gnade und Glaube als der jüdischen Position unterlegen einstufte. Eine Folge der jüdischen Beschäftigung mit der christlichen Theologie war unter anderem die Entwicklung einer spezifisch jüdischen Leben-Jesu-Forschung. Sie entfaltete sich parallel zum christlichen Bemühen, das Bild des historischen Jesus plastisch werden zu lassen. Und dieses hat ja innerhalb der christlichen Theologie einen bahnbrechenden Perspektivwechsel vollbracht. Die Trennung des historischen Jesus und des kerygmatischen Christus ging weit über das hinaus, was sich einst Martin Luther erschlossen hatte. Auch die historisch-kritische Herangehensweise jüdischer Theologen an Jesus von Nazareth und das Urchristentum entfaltete eine enorme Wirkung. Die Folge waren eine Vielzahl von Jesusbildern, die an die Seite des dogmatischen Christus traten und diesen stark überlagerten.

Für mich stellen sich heute zwei grundlegende Fragen: Wie verhält sich der historische Jesus zum Christusdogma? Und können die Kirchen die Erträge des christlich-jüdischen Dialogs der vergangenen sechzig Jahre und der jüdischen Leben-Jesu-Forschung der vergangenen zweihundertfünfzig Jahre konstruktiv aufgreifen und in eine Christologie integrieren, die dem neuen Verhältnis von Juden und Christen gerecht wird?

Für den Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884-1976) und den Dogmatiker Karl Barth (1886-1968) war es noch kein Problem, den historischen Jesus im Kontext des Judentums seiner Zeit zu begreifen, ohne daraus dogmatische Rückschlüsse zu ziehen. Der christliche Glaube begann für sie mit Kreuz und Auferstehung, und damit hatte sich die spezifische Aufgabe Israels als Bundesvolk erledigt.

Dogmatischer Panzer

Anders als Bultmann oder Barth hatten protestantische Theologien wie David Friedrich Strauß und Adolf von Harnack im 19. Jahrhundert kein Problem damit, den dogmatischen Christus durch den historischen Jesus zu ersetzen. Für sie bestand die Relevanz Jesu für das zeitgenössische Christentum nicht in seiner Göttlichkeit, seinem Kreuzestod und Erlösungshandeln. Entscheidend sei, wie Jesus zu glauben, nicht an ihn.

Harnack sprengte den dogmatischen Panzer, der die Person Jesu jahrhundertelang umgeben hatte und zeichnete das Bild eines Jesus, der individualistisch, undogmatisch, schöpferisch, reformerisch gewesen war. Und damit sich dieser von seiner Umwelt leuchtend abhebt, zeichnete Harnack das Bild eines erstarrten, pharisäischen Judentums, das ganz dem Gesetz verhaftet ist und das auch nicht in die Moderne passt. Harnacks Argumentation beruht auf der These des evangelischen Alttestamentlers und Orientalisten Julius Wellhausen vom Verfall Israels seit der Zeit der Propheten. Aus dieser Prämisse schloss Harnack, das Judentum stelle eine Vorstufe des Christentums dar, die mit dem Kommen des Messias Jesus ihre Legitimität verloren habe.

Nun haben die jahrzehntelangen Gespräche zwischen Judentum und Christentum im Zwanzigsten Jahrhundert neue Verhältnisse geschaffen. Zu erinnern ist an den Beschluss, den die bayerische Landessynode 1997 fasste und der den programmatischen Titel trägt: „Christen und Juden - Einladung zu einem Neuanfang“.

Dort heißt es: „Sowohl Aussagen Martin Luthers als auch bestimmte Ausprägungen lutherischer Theologie haben antijüdische Wirkungen hervorgerufen. Über die notwendige inhaltliche Distanzierung hinaus sind deren Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte zu erforschen und für eine künftige lutherische Theologie im Blick auf das christlich-jüdische Gespräch zu überdenken und zu kritisieren.“

Aber wie sieht eine künftige Christologie aus, die ohne eine Herabwürdigung des Judentums auskommt, wie sie Martin Luther betrieb?

Einige Stimmen, wie die des Katholiken Richard Heinzmann, der an der Universität München Christliche Philosophie lehrte, gehen davon aus: Die Botschaft Jesu und ihre Wirkung in der Kirche ist durch eine hellenistische Überformung ihrer Ursprünglichkeit beraubt worden. Und die Theologie muss sich aus dieser Ummantelung befreien: „Die wesentlich durch den Hellenismus geprägte Realisierung von Christsein ist nicht die ursprüngliche, sondern eine abgeleitete, sekundäre Inkarnation der Botschaft Jesu und darf deshalb nicht absolut gesetzt werden ... Die theologischen Systeme des Mittelalters, von denen auch heutige Theologie noch lebt, sind große und bleibende Zeugen der Begegnung von christlichem Glauben und griechischem Denken ... Diese Form war einmal angemessen und der damaligen Zeit gemäß. Mit jener Zeit ist aber auch jene Gestalt des Glaubens vorübergegangen, sie ist nicht mehr zeitgemäß.“ Fraglich bleibt aber, ob der Rückgriff auf vermeintlich ursprünglichere Perioden eine größere Authentizität des Bildes Jesu verspricht. Das Judentum der hellenistisch-römischen Epoche war jedenfalls ein äußerst vielschichtiges Phänomen, das vielerlei Einflüssen ausgesetzt war und sich in eine große Anzahl von Strömungen auffächerte. Es erscheint deshalb wenig plausibel, durch eine Enthellenisierung des frühen Christentums und Judentums einen besseren Blick auf den wahren Jesus zu bekommen.

Soweit zum Versuch, sich von Luther aus zurück zum vermeintlichen Ursprung des historischen Jesus zu bewegen. Die Stellungnahme der lutherischen Kirche Bayerns ermuntert dagegen, von Luther aus weiterzudenken und mutig nach vorne zu schreiten: „In den deutschen evangelischen Kirchen haben wir im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu der für uns wichtigen Erkenntnis gefunden, daß wir einen Neuanfang machen müssen. [.] Es ist deshalb Aufgabe der christlichen Theologie, das Selbstverständnis der Kirche so zu formulieren, daß dasjenige des jüdischen Volkes dadurch nicht herabgesetzt wird. [.] Der christliche Glaube hält an der bleibenden Erwählung Israels fest. Sie hat ihren Grund in der Treue Gottes zu seinen Verheißungen.“

Dies ist eine Zielbestimmung, die mit der Erkenntnis Ernst machen will, dass die Reformation nicht abgeschlossen ist, sondern stets neue, zeitgemäße Ausdrucksformen finden muss. So ist Luthers solus Christus im Kontext zeitgenössischer Theologie zu verstehen. Und viele christliche Theologen sind sich darin ja einig: Die Tatsache, dass Jesus Jude war, muss zu theologischen Konsequenzen führen, die die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes unangetastet lassen.

Christoph Schwöbel, Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Herausgeber von zeitzeichen, sieht die hergebrachte Christologie in einer Krise, die nach neuen Erklärungsmustern verlangt. Die Chris-tologie leiste gegenwärtig kein integrales Bild der historischen Vergangenheit Jesu Christi und seiner Präsenz für die Kirche und den Kosmos („Christology and Trinitarian Thought“). Schwöbels Ansatz ist eine konsequent trinitarische Hermeneutik der Christologie. Das heißt: Von Christus allein darf nicht gesprochen werden, ohne zugleich auch den Vater und den Heiligen Geist einzubeziehen. Christologische Aussagen bezögen sich nicht auf den historischen Jesus, sondern auf Gottes Handeln in Bezug auf Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Damit bietet Schwöbel statt einer chris-tozentrischen Betrachtung Gottes (solus Christus) eine konsequent trinitarische an, die sich dem Primat der monotheistischen Prämisse verbunden weiß („Radical Monotheism and the Trinity,” Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 43).

Wenn sich christliche Theologen bemühen, die Kluft der Feindschaft zwischen Judentum und Christentum zuzuschütten, kann natürlich umgekehrt von uns Juden erwartet werden, die Wirkungsgeschichte Gottes im Christentum einer differenzierten Würdigung zu unterziehen.

Dies tat der jüdische Theologe Schalom Ben-Chorin, geboren 1913 in München, gestorben 1999 in Jerusalem, bereits 1941 in seinem Aufsatz „Die Christusfrage an den Juden“. Er warnt uns Juden davor, die Einsicht zu trivialisieren, dass Gott auch im Christentum gegenwärtig ist und handelt: „Das hochentwickelte Judentum, über ein verzweigtes theologisches System, ein noch verzweigteres kanonisches Recht und eine uralte religiöse Tradition verfügend, und die junge Gemeinde, die noch kaum ein geschriebenes Buch, sondern nur den Glauben an die Frohe Botschaft besaß, die ihr im gekreuzigtem und Auferstandenen geworden war, standen einander gegenüber und rangen - einen Atemzug Gottes lang - um die Herrschaft des bekannten Erdkreises. Sie fiel der Kirche Christi zu, dass kann keine jüdische Orthodoxie leugnen. Aber Israel verschwand nicht von der Erde mit dem Machtantritt des Christentums. Das kann keine christliche Orthodoxie leugnen . Dass Israel und die Kirche in der Welt bestehen, das kann nur heißen, dass Gott Israel durch die Kirche fragen will und das derselbe einzige, wahre und lebendige Gott die Kirche durch Israel fragen will. Und das heißt, dass sie einander Rede und Antwort stehen müssen - um Gottes Willen.“

Hier und jetzt

Dorothea Wendebourg will die theologischen Anliegen Martin Luthers sichern und die Einzigartigkeit Jesu im Blick behalten - das ist verständlich. Aber ihre Argumentation ist retrospektiv. Dabei findet doch in jeder Generation ein Prozess der Neuaneignung und Neuinterpretation von Glaubenstraditionen statt. Und dies ist für jede lebendige Glaubensgemeinschaft wesentlich. Daher sollte in der evangelischen Theologie für eine zeitgemäße Christologie - neben der historischen Retrospektive - der Blick auf den Weg Gottes mit seiner Schöpfung im Hier und Jetzt geweitet werden. Angesichts der schrecklichen Wirkungsgeschichte, die das solus Christus im Verhältnis von Christen zu Juden hervorgerufen hat, gilt meiner Ansicht nach, was die bayerische Synode 1997 formulierte: „Es ist für die lutherische Kirche, die sich dem Werk und Erbe Martin Luthers verpflichtet weiß, unerläßlich, auch seine antijüdischen Äußerungen wahrzunehmen, ihre theologische Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken. Sie hat sich von jedem Antijudaismus in lutherischer Theologie zu distanzieren. Hierbei müssen nicht nur seine Kampfschriften gegen die Juden, sondern alle Stellen im Blick sein.“

Professorin Wendebourg hat in zz 7/2016 gut herausgearbeitet, dass das solus Christus eine zentrale Rolle für den protestantischen Antijudaismus spielte. Deshalb muss eine Christologie heute neue Antworten finden, wie über Jesus von Nazareth und sein Wirken in der Kirche so gesprochen werden kann, dass das Judentum nicht herabgewürdigt und seines priesterlichen Amtes als Bundesvolk, als erste Liebe Gottes entkleidet wird.

Walter Homolka

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