Ausgrenzender Anachronismus

Das Reinheitsgebot für deutsches Bier gehört nach 500 Jahren ins Museum
Foto: privat
Bis heute ist unser kollektives Bewusstsein geprägt von der Auffassung, dass alles, was aus dem Ausland kommt, „unrein“ ist.

Am 23. April 1516 stellen die beiden bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. im frisch wiedervereinig-ten Bayern ein neues Gesetzbuch vor. Darin findet sich auch die Vorschrift, die zuvor nur im Gebiet um München gegolten hatte: Bier dürfe „allein“ aus „Gerste, Hopfen und Wasser“ hergestellt werden. Dieser Erlass wird als „ältestes Lebensmittelgesetz der Welt“ in diesem Jahr groß gefeiert. Dabei scherten die Herzöge sich nicht um den Verbraucherschutz: Was sie damals erreichen wollten, war, das wertvolle Getreide Weizen für die Fein- und Weißbäckerei zu reservieren. Das „Reinheitsgebot von 1516“ war schlichtweg ein Weizenbierverbot.

Von einer fünfhundert Jahre währenden Tradition kann zudem keine Rede sein. Schon knapp hundert Jahre später hob der bayerische Hof seine Verordnung faktisch auf: Ab 1607 wurden im ganzen Land Weizenbier-Bräuhäuser errichtet – von den herrschenden Wittelsbachern selbst. Sie hatten sich das Monopol auf das zuvor verbotene Brauen mit Weizen beschert und sanierten mit dem Weizenbierverkauf ihre Staatskasse.

Und die Reinheit? So pur musste ein altbayerisches Bier gar nicht sein. Wer beim Brauen etwa Kümmel in den Sud geben sollte, konnte das tun.

Der Begriff „Reinheitsgebot“ mit seinem quasireligiösen Beigeschmack kam erst vor etwas mehr als hundert Jahren auf. Es war der Geheime Regierungsrat im Reichsschatzamt Joseph Rheinboldt, zuständig für Biersteuer-Angelegenheiten, der im Reichstag zum ersten Mal vom „Reinheitsgebot“ sprach. Damit meinte er das Brausteuergesetz von 1906, in dem erstmals für ganz Deutschland die Bierzutaten festgeschrieben wurden. Erst seit 1918 werden diese Regelungen, die im großen Ganzen bis heute gelten, in einen Kontext mit dem herzöglichen Erlass von 1516 gestellt und als Tradition propagiert – weshalb spitzfindige Bierkenner derzeit nicht „500 Jahre Reinheitsgebot“ feiern, sondern „98 Jahre Reinheitsgebots-Kampagne“.

Ihre Zuspitzung fand diese in den 1980er Jahren, als die Bundesrepublik nach einer europäischen Klage das Importverbot ausländischer, nicht nach deutschen Vorschriften gebrauten Bieren aufheben musste. Die damalige Parole vom „Chemiebier aus dem Ausland“ hat sich ins Gedächtnis gegraben. Bis heute ist unser kollektives Bewusstsein geprägt von der Auffassung, dass alles, was aus dem Ausland kommt, „unrein“ ist. Nur wenige Deutsche kennen Bitter, Pale Ale, Stout, Porter, Tripel, Dubbel, Lambik oder Geuze.

Doch es werden mehr: Seit etwa fünf Jahren frischt die Craft-Bier-Bewegung, die vor über dreißig Jahren in den USA begann, unsere Kultur auf. Oft sind es Quereinsteiger, die ihre Liebe zum Handwerk (Englisch „craft“) ausleben, ausdrucksstark und qualitätsversessen. In den Neunzigern ist die Welle nach Europa geschwappt. Als neue Craft-Biere und -Brauer in Italien, Skandinavien, Österreich, England und Belgien die Konsumenten begeisterten, ließ dies die durchs „Reinheitsgebot“ bestens abgeschotteten deutschen Brauer unberührt. „Wenn sich in Deutschland nicht bald was bewegt, verliert es seinen Status als Braunation“, musste ich mir im Ausland oft anhören. In den vergangenen zwei, drei Jahren hat die Craft-Bier-Bewegung auch hierzulande Schwung aufgenommen. Die neue Brauwelt ist global, und Deutschland ist keine Insel. Das ab-, ein- und ausgrenzende „Reinheitsgebot“ wird zum Anachronismus.

„Gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot“ ist übrigens kein Gütesiegel: Die Billigmarke eines Discounters fällt ebenso darunter wie die tollsten Tropfen unserer traditionellen Privatbrauereien. Auch ist es kein Privileg der deutschen Brauer, nur mit Wasser, Malz, Hopfen und Hefe zu brauen. Weltweit werden Biere so bereitet, auch die meisten Craft-Biere. Einige jedoch werden anders gebraut, mit Salz und Koriander beispielsweise, um den Geschmack einer „Leipziger Gose“ zu heben oder mit Rosenblättern, um einem Imperial Stout Raffinesse zu verleihen.

Zugelassene oder geduldete Ausnahmen gibt es Gott sei Dank immer häufiger – außer in Bayern. Im Chiemgau wurde ein herrliches Milkstout, das traditionell mit einem Hauch Laktose zur Abrundung der Röstaromatik gebraut wird, für „nicht verkehrsfähig“ erklärt, die gesamte Produktion musste vernichtet werden. Der gleiche Bierstil, von einer amerikanischen Brauerei in Colorado gebraut und nach Deutschland exportiert, ist hierzulande völlig legal in Fachgeschäften erhältlich – auch in Bayern. Absurd, aber wahr. Die Ausnahmen ebenso wie die Absurditäten zeigen, dass das sogenannte Reinheitsgebot seine Daseinsberechtigung verloren hat. Es gehört ins Museum.

Sylvia Kopp ist Bier-Sommelière und Mitgründerin der Berlin Beer Academy. Zudem wurde sie vom Dachverband der kleinen US-Brauereien zur Botschafterin für amerikanisches Craft-Bier in Europa ernannt. 2014 erschien ihr Buch „Das Craft-Bier Buch“ im Gestalten Verlag.

Sylvia Kopp

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