Richtung Süden

Unter Papst Franziskus nimmt der Eurozentrismus schrittweise ab
Ureinwohner brachten die Gaben bei der Messe, die Papst Franziskus am 7. Juli in Quito/ Ecuador hielt. Foto: kna/ Osservatore Romano
Ureinwohner brachten die Gaben bei der Messe, die Papst Franziskus am 7. Juli in Quito/ Ecuador hielt. Foto: kna/ Osservatore Romano
Die Reisen und die Kardinalsernennungen des Papstes zeigen, wohin sich die römisch-katholische Kirche entwickeln könnte, meint Thomas Jansen, der das römische Büro der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) leitet. Und er erinnert daran, dass Franziskus als erster Papst eine Pfingstgemeinde besucht hat.

Es scheine so, sagt der Mann in Weiß auf dem Balkon des Petersdomes, als seien die Kardinäle, "fast bis ans Ende der Welt" gegangen, um ihn zu holen. So beschreibt der soeben gewählte Papst Franziskus am 13. März 2013 eine historische Zäsur: Erstmals in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche steht an ihrer Spitze ein Geistlicher, der von der Südhalbkugel der Erde stammt, der Argentinier Jorge Mario Bergoglio.

Die eingängigeren Superlative "erster Papst aus Lateinamerika", "erster Jesuit" und "erster Nichteuropäer seit mehr als 1.200 Jahren" auf dem Stuhle Petri lauteten die ersten Reaktionen auf die Papstwahl. Welche Folgen hat die Wahl eines Papstes von der Südhalbkugel für die Leitung der römisch-katholischen Kirche, die trotz aller Internationalisierung in den vergangenen Jahrzehnten immer noch europäisch dominiert ist? Gibt es eine allgemeine Drift gen Süden? Oder nur eine Lateinamerikanisierung? Ist der Einfluss der Katholiken von der Südhalbkugel im Vatikan, der Schaltzentrale der katholischen Kirche, seither größer geworden?

Zweieinhalb Jahre sind für ein Pontifikat zweifelsohne ein zu kurzer Zeitraum, um diese Fragen abschließend beantworten zu können. Aber einige Entwicklungen, Tendenzen und vorläufige Resultate lassen sich schon ausmachen. Offensichtlich ist, dass Europa in Franziskus' Denken und Handeln nicht mehr im Mittelpunkt steht und aus seiner Sicht für die Zukunft der katholischen Kirche keine zentrale Rolle spielt. Vor dem EU-Parlament in Straßburg beschrieb er den Alten Kontinent im vergangenen November als "Großmutter", die "nicht mehr fruchtbar und lebendig" sei. Freilich brachte der Papst auch seine Hoffnung auf eine Revitalisierung Europas zum Ausdruck, was in der Berichterstattung bisweilen unterging.

Franziskus' zentrale Forderung einer "armen Kirche für die Armen" ist grundsätzlich nicht auf den Norden oder den Süden des Planeten beschränkt. Gleiches gilt für sein Credo, dass die Kirche keine Nabelschau betreiben dürfe und in die Peripherien hinausgehen müsse. Gleichwohl sind diese programmatischen Aussagen unverkennbar von seinen Erfahrungen in Lateinamerika geprägt. Sie greifen zentrale Anliegen der Befreiungstheologie auf, auch wenn der Papst selbst kein Vertreter dieser Richtung ist. In diesem Sinne ist die Perspektive der Südhalbkugel seit Franziskus' Wahl in der Weltkirche durchaus präsenter geworden. Deutlich wird das auch an den konkreten Themen, die auf der Agenda des Papstes ganz oben stehen: Die Hilfe für Flüchtlinge, der Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit sowie der Klimaschutz. Dass er hier nicht nur Lateinamerika und besonders das Amazonasgebiet im Blick hat, zeigt sein Eintreten für die vom Klimawandel bedrohten Inselstaaten. Im Februar erhob Franziskus die Bischöfe der Inselstaaten Tonga und Kap Verde zu Kardinälen. Diesen ungewöhnlichen Schritt werteten Beobachter auch als Solidaritätsbekundung mit den von einem steigenden Meeresspiegel bedrohten Inseln.

In der Personalpolitik des Papstes ist eine Stärkung der Südhalbkugel vor allem in der Auswahl neuer Kardinäle erkennbar. In mehreren Fällen überging er traditionelle Anwärter auf diese Würde im Vatikan, in Italien und im übrigen Europa bislang. Von den bislang 39 neuen Kardinälen, die er kreierte, kommen beinahe die Hälfte aus Ländern der Südhalbkugel oder in Äquatornähe. Etwa das gleiche Verhältnis ergibt sich für die 31 wahlberechtigten Kardinäle unter ihnen, jene also, die das 80. Lebensjahr noch nicht überschritten haben. Aber vor allem die Kardinalsernennungen im Februar wurden von Beobachtern als kirchenpolitische Aufwertung der südlichen Hemisphäre gewertet.

Noch allerdings handelt es sich lediglich um kosmetische Effekte. Denn betrachtet man das Kardinalskollegium insgesamt, stellen Europa und Nordamerika auch im Pontifikat von Franziskus weiterhin die absolute Mehrheit des Kardinalskollegiums: Zusammen waren es im Juli 68 von 120 wahlberechtigten Kardinälen. Und das ist im Vergleich zur Zahl der in Europa und Nordamerika lebenden Katholiken überproportional.

Im Kardinalsrat, dem offiziellen Beraterkreis, den Franziskus kurz nach seiner Wahl schuf, sind alle Kontinente vertreten. Von der Südhalbkugel im geographischen Sinne stammen drei Mitglieder, ein Lateinamerikaner, ein Afrikaner und ein Australier. Über den informellen Beraterkreis des Papstes ist dagegen nach wie vor wenig bekannt. Fest steht nur, dass viele von ihnen - aber längst nicht alle - Südamerikaner sind. In der Zentrale der römisch-katholischen Kirche, im Vatikan selbst, lässt sich in den Spitzenpositionen bislang keine nennenswerte Verschiebung der Gewichte zwischen Nord- und Südhalbkugel feststellen. Hier dominieren nach wie vor die Europäer und Nordamerikaner, und unter ihnen wie seit Jahrhunderten vor allem die Italiener. Sie stellen etwa Dreiviertel der Leiter vatikanischer Ministerien, der Kongregationen und Päpstlichen Räte und der sonstigen vatikanischen Behörden.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Aussage eines engen Beraters von Franziskus, der Papst könnte die katholische Kirche ebenso gut von Bogota regieren wie vom Vatikan aus. Die Kurie in Rom sei dafür "nicht wesentlich", sagte der argentinische Erzbischof Victor Manuel Fernandez vor einigen Monaten einer italienischen Tageszeitung. Theologisch ist diese Aussage im Grundsatz nicht revolutionär, aber ihre konkrete Zuspitzung schon. Auch wenn Beobachter diese Aussage weniger als ernstgemeinten Vorschlag zur Dezentralisierung der römischen Kurie sehen, sondern eher als Reaktion auf eine theologische Überhöhung derselben durch konservative kirchliche Kräfte, dass ein enger Berater des Papstes in der Öffentlichkeit diesen Gedanken überhaupt äußerte, ist deutet zumindest Indiz auf einen Klimawandel.

Ein weiterer Gradmesser für das Augenmerk, das ein Papst einer bestimmten Weltregion schenkt, sind traditionell seine Auslandsreisen. Nachdem Franziskus zunächst gesagt hatte, dass er nicht gerne reise, reist er mittlerweile ungefähr so häufig wie seine beiden Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Auch hier hat Franziskus Akzente gesetzt. Um die großen traditionell katholischen Nationen Europas hat er bislang einen Bogen gemacht. Von seinen sechs mehrtägigen Auslandsreisen führten ihn drei auf die Südhalbkugel, zuletzt im Juli nach Ecuador, Bolivien und Paraguay. Im Januar waren Sri Lanka und im Juli 2013 Brasilien dran gewesen. Letztere Reise galt allerdings dem Besuch des Weltjugendtages und war somit ein Pflichttermin. Ende November will der Papst die Zentralafrikanische Republik und Uganda besuchen.

In den beiden wichtigsten größeren Schreiben von Franziskus, "Evangelium Gaudii", in der er das Programm seines Pontifikats entwirft, und der jüngst erschienenen Enzyklika "Laudato si", ist der Perspektivwechsel mit Händen zu greifen, auch wenn kaum je ausdrücklich vom "Süden" und vom "Norden" die Rede ist. Aber die scharfe Kapitalismuskritik, die Franziskus hier übt, ist unverkennbar von persönlichen Erfahrungen mit der schweren Wirtschaftskrise in Argentinien geprägt.

In "Laudato si" macht sich Franziskus ausdrücklich zum Anwalt der ausgebeuteten Länder der Südhalbkugel. Der "Norden" habe gegenüber dem "Süden" eine "ökologische Schuld", weil er dessen Rohstoffe ohne Rücksicht auf die Bevölkerung ausbeute und deren Umwelt zerstöre, heißt es in einer zentralen Passage. Zugleich ruft der Papst die reichen Industrieländer dazu auf, zugunsten einer Verbesserung der Verhältnisse in den ärmeren Ländern eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung in Kauf zu nehmen.

Auch auf anderen Handlungsfeldern, etwa dem ökumenischen Dialog, gibt es seit Franziskus' Amtsantritt bei aller Kontinuität einen neuen Akzent, der sich nur mit seiner Herkunft von der Südhalbkugel erklären lässt. Pfingstkirchen und evangelikale Kirchen galten aus katholischer Sicht oft als theologische Leichtgewichte und blieben im Gespräch mit den anderen christlichen Konfessionen Außenseiter, obwohl es bereits seit 1972 eine gemeinsame katholisch-pfingstkirchliche Kommission gibt. Doch unter Franziskus sind sie ins Zentrum des Interesses gerückt. Offenkundig spielen hierbei seine Erfahrungen aus Lateinamerika eine entscheidende Rolle, wo Pfingstkirchen und evangelikale Kirchen nach der katholischen Kirche die zweitgrößte christliche Konfession bilden. In den vergangenen Jahrzehnten sind sie dort besonders stark gewachsen und werden oft als größte Konkurrenten der katholischen Kirche wahrgenommen.

Vor einem Jahr besuchte Franziskus als erster Papst in der Geschichte eine pfingstkirchliche Gemeinde. Der Vatikan deklarierte den Besuch im süditalienischen Caserta zwar als "privat", doch die Gemeinde, die ein Freund des Papstes leitet, lud auch Vertreter von Pfingstkirchen andere Ländern ein und gab der Begegnung damit einen durchaus offiziellen Charakter. Franziskus empfing als erster Papst auch eine Delegation der Heilsarmee. Und: In seiner Ansprache würdigte er sie als Vorbild für christliches Engagement dar.

Der Papst verdrängt die auch weiterhin bestehenden theologischen Differenzen nicht. Aber sie dürfen aus seiner Sicht das "Zeugnis unserer gemeinsamen Liebe zu Gott und den Nächsten" nicht behindern.

Ob Franziskus der katholischen Kirche nachhaltig und unumkehrbar den Stempel der Südhalbkugel aufdrückt, dürfte sich erst in einigen Jahren sagen lassen. Aber Tendenzen in diese Richtung sind unverkennbar. Soviel steht allerdings schon jetzt fest: Die Zukunft der katholischen Kirche liegt für den Papst weder allgemein auf der Nord- noch auf der Südhalbkugel, sondern - wie er mehrfach sagte - auf einem Kontinent, in Asien.

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Thomas Jansen

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