Stark

Über das Sichtbarmachen
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Ein großer Roman, dem es nicht um Erlösung geht, wohl nicht mal ums Verstehen, sondern ums Sichtbarmachen, aus dem Dunkeln holen.

Walter ist auf einem Gut in Schleswig-Holstein Melker gewesen und nach dem Krieg dreißig Jahre Hauer auf einer Zeche im Ruhrgebiet. Hilfsbereit und anständig fanden ihn Kollegen und Nachbarn, aber Freunde hatte er keine, hat auch keine gesucht. Seine Augen waren "unterlegt von Melancholie und Müdigkeit", doch "seine Schwermut bestand nicht einfach aus Überdruss am Trott der Tage oder an der Knochenarbeit, aus Ärger oder unerfüllten Träumen. Es war der Ernst dessen, der Eindringlicheres gesehen hatte und mehr wusste vom Leben, als er sagen konnte, und der ahnte: Selbst wenn er die Sprache dafür hätte, würde es keine Erlösung geben."

So beschreibt ihn sein Sohn, der Schriftsteller, der jung von Zuhause weg ging und zurück kam, als der Vater mit sechzig, "zerarbeitet, früh verrentet und vor Scham darüber schnell zum Alkoholiker geworden", von den Ärzten das Sterben angekündigt bekam. "Wenn ich bloß einen Ort für uns wüsste", hört er ihn auf dem Sterbebett verwirrt sagen und seine Mutter murmeln: "Jetzt ist er wieder im Krieg." In der Dünndruckbibel der Eltern findet der Sohn eine Stelle mit einer Fingernagelkerbe markiert. Es ist der Kainsfluch: "Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden."

Seinem Roman Im Frühling sterben hat Ralf Rothmann einen Ezechiel-Vers als Motto vorangestellt: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden." Es geht um Verletzungen, die ungebändigt, im Vakuum des Schweigens auch auf die nächste Generation weiterwirken. Am Ende wird der Sohn von Berlin aus noch mal ins Ruhrgebiet fahren und den Friedhof besuchen, wo das Grab der Eltern eingeebnet werden soll. Das Grab findet er nicht, dafür aber eine tiefere Stille, in die das Schweigen nun sozusagen "aufgehoben" ist. Denn im eigentlichen Korpus des Buches ist jetzt aufgeschrieben, was dem Vater widerfuhr.

Mit 17 werden er und sein Freund Fiete kurz vor Kriegsende zur Waffen-SS zwangsrekrutiert. Sie sollen in Ungarn als letztes Aufgebot den Rückzug verlangsamen - Walter als Fahrer, Fiete an der Front. Sie erleben ohne Ausweg Verbrechen an Zivilisten, Orgien, grausiges Sterben und nackte Angst. Hinter ihnen Offiziere, die sie zum Kampf zwingen, vor ihnen die russische Armee, die mit SS-Leuten kein Aufhebens macht. Fiete desertiert, wird gefasst und zum Tod verurteilt. Der Kommandant befiehlt Walter ins Erschießungskommando - "aus Menschlichkeit", sagt er dem um Fietes Leben Bettelnden: "Weil du sein Freund bist. Da wirst du gut zielen, damit er nicht leidet."

"Im Frühling sterben" ist ein Versuch, den Vater zu finden und sich selbst. Ein Weg von der unbewältigten Wirklichkeit des Lebens zu dessen Wahrheit, wie ihn nur Literatur beschreiten kann. Eindringlich und in Sprache und Beschreibung sehr genau, klar, auf den Kern gebracht. Mit der Deutlichkeit und Kraft von Poesie hebt Rothmanns nüchterne Prosa Walters Leben mit Würde aus der Wucht und zugleich doch Banalität des Grauenvollen, das er tat, tun musste, erlitt, überlebte und zeitlebens nie verwand - mit einer "großen Traurigkeit" als Hypothek und Erbe.

Ein großer Roman, dem es nicht um Erlösung geht, wohl nicht mal ums Verstehen, sondern ums Sichtbarmachen, aus dem Dunkeln holen. Er findet und zeigt die Verletzungen dort, wo sie verheeren, in der Seele. Wunden, die Psychoanalytiker seit langem versorgen und erforschen. Dass in Deutschland darüber mittlerweile offener geredet wird, ist gut, aber es ist schändlich, dass manche dies nun zu einer Generalentschuldung verbiegen, wonach quasi alle Deutschen zuerst und vor allem Opfer gewesen seien. "Im Frühling sterben" lässt sich nicht dazu missbrauchen. Ein leises und souveränes, zutiefst humanes, starkes Buch.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Suhrkamp Verlag, Berlin2015, 234Seiten, Euro19,95.

Udo Feist

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