Der Titel lässt erstaunt fragen: Was haben Digitalisierung und Theologie miteinander zu tun? Doch schon am Anfang des Buches erschließt sich der Bezug: Die Digitalisierung, die in einer ungeahnten Weise unser gesamtes Leben und unseren Alltag umgeformt und neben Fortschritten auch Gefahren mit sich bringt, muss menschlich gestaltet werden. Dazu ist weit mehr nötig als nur ein Set von "Spielregeln"; vielmehr bedarf es einer neuen Kultur. Dies kann weder der Staat noch die IT-Branche aus sich heraus leisten.
Bereits in der Bibel werden laut Haberers Interpretation grundlegende Fragen der Kommunikation angesprochen. Zudem sind Medienrevolutionen nichts grundsätzlich Neues; vielmehr gab es im Laufe der Kulturgeschichte mehrere solcher Umbrüche: die Entstehung der Sprache, die Entwicklung der Schrift und die Erfindung des Buchdrucks.
Jenes Ereignis vor fünfhundert Jahren ist uns nicht nur zeitlich am nächsten, sondern ähnelt auch in der ganzen umstürzenden Wirkung der gegenwärtigen digitalen Revolution. Vor allem aber gehören Buchdruck und Reformation zusammen; nur mit den damals neuen Printmedien konnte sich die reformatorische Botschaft verbreiten, und erst Luther als weltweit gefragter Bestsellerautor brachte Druckerei- und Verlagswesen als neue Wirtschaftszweige in Schwung. Die Digitalisierung könnte nach Haberer den mit der Reformation eröffneten Weg zu Freiheit, Meinungsäußerung und mehr gesellschaftlicher Teilhabe fortsetzen - unter der Voraussetzung, dass die Missbrauchs-, Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten nicht weiter überhand nehmen.
Angesichts dieser Gefahr ist es Haberers Anliegen, die in der biblischen Heilsgeschichte und in der Reformation beschrittenen Wege fortzusetzen. Zudem fordert sie eine Rückbindung an bereits errungene Werte, deren Verlust durch die neue Technik droht. Auf die beiden Kapitel über "biblische Einsichten" und "reformatorische Aufbrüche" folgt ein drittes über "das vervielfältigte Ich", das nicht nur das Werden des modernen Ich-Bewusstseins (im Rückblick auf Antike, Reformation und Aufklärung) umreißt, sondern in den Ich-Erweiterungs-Prognosen des Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan gipfelt.
Das Ambivalente der neuen digitalen Welt kommt noch einmal besonders drastisch im letzten Kapitel zum Ausdruck. Hier werden die religiösen (Welt-)Erlösungsansprüche der IT aufgezeigt, von den anarchistischen Hoffnungen, die anfangs im US-amerikanischen NewAge gründeten, bis zu den Heilsversprechen der heutigen IT-Giganten. Hier wird besonders deutlich, warum es eine seriöse, an den bereits vorhandenen Ressourcen unserer Kultur anknüpfende Theologie des Digitalen braucht.
Das Buch schließt mit "10 Geboten für die digitale Welt", die die Prinzipien des biblischen Dekalogs punktgenau auf die heutigen Herausforderungen übertragen.
Johanna Haberer, die in Erlangen Professorin für Christliche Publizistik ist, steht mit ihrer differenzierten Sicht der Digitalisierung in der Kirche ziemlich allein auf weiter Flur; abgesehen von ihrem Fakultätskollegen Werner Thiede, der das Thema nahezu zeitgleich und ähnlich kritisch aufgreift. Im Schatten der Kirchtürme herrscht ansonsten immer noch die unkritische Begeisterung vor, die auch unsere Gesellschaft insgesamt lange prägte.
Eine Weiterarbeit an diesem Thema sollte allerdings auch die ökologischen und gesundheitlichen Gefahren einbeziehen, die von Digitalisierung und Drahtlostechnologie ausgehen. Darauf nimmt Haberer leider keinen Bezug. Ihr Verdienst aber sind ihre überzeugenden und höchst inspirierenden kulturgeschichtlichen Bezüge. Darauf könnten Theologie und Kirche künftig Überlegungen zum Umdenken und Umsteuern (traditionell: "Buße") gründen, die dann auch Auswirkungen auf die (wachstumsorientierten, ökologiefeindlichen) Rahmenbedingungen hätten, unter denen die Digitalisierung heute noch erfolgt.
Johanna Haberer: Digitale Theologie. Gott und die Medienrevolution der Gegenwart. Kösel Verlag, München 2015, 208 Seiten, Euro 16,99.
Ulrich Schneider