Befreit von aller Schuld
Man kann nicht sagen, dass sie vehement einen Schuldenerlass gefordert hätte. Aber Margot Käßmann stellte bei ihrer Bibelarbeit auf dem Stuttgarter Kirchentag immerhin die Frage, ob nicht Griechenland seine Schulden erlassen werden könnten. Sie hatte am ersten Tag des Kirchentages das Gleichnis vom untreuen Verwalter aus dem Lukasevangelium auszulegen: Der Verwalter, der entlassen werden soll, ruft schnell die Schuldner seines Herrn zusammen und setzt ihre Schulden herab: "Damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde." Jesus lobt den Verwalter: "Macht Euch Freunde mit dem ungerechten Mammon."
Wolfgang Schäuble, der zeitgleich mit Margot Käßmann dasselbe Gleichnis zu bearbeiten hatte, kam erwartungsgemäß zu einem anderen Ergebnis: Ein Schuldenschnitt löse die Probleme Griechenlands nicht. Solidarität müsse Eigenverantwortung ergänzen, könne sie aber nicht ersetzen. Damit war das Thema Schuldenkrise in Europa auf dem Kirchentag aber auch schon wieder abgeräumt. Keine der Hauptveranstaltungen widmete sich dem Thema.
Das überrascht, wenn man sich vor Augen hält, dass es in den Achtziger- und Neunzigerjahren zum common sense innerhalb beider großen Kirchen in Deutschland gehörte, sich für einen Schuldenerlass von Entwicklungsländern einzusetzen - nicht nur auf Kirchen- oder Katholikentagen, sondern auch in kirchenoffiziellen Dokumenten. Die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz appellierten gemeinsam anlässlich des Jahres 2000 für eine Entschuldung von Entwicklungsländern. Die Katholiken wussten sich dabei auf Linie ihres damaligen Papstes, Johannes Paul II., der in der Sozialenzyklika Centesimus annus im Jahr 1991 geschrieben hatte: "Der Grundsatz, dass die Schulden gezahlt werden müssen, ist sicher richtig. Es ist jedoch nicht erlaubt, eine Zahlung einzufordern oder zu beanspruchen, die zu politischen Maßnahmen zwingt, die ganze Völker in den Hunger und in die Verzweiflung treiben würden. Man kann nicht verlangen, dass die aufgelaufenen Schulden mit unzumutbaren Opfern bezahlt werden." Heute sind es nicht mehr die Kirchen, sondern Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Boston Consulting Group oder zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler, die wenigstens für einen Teilerlass der griechischen Schulden plädieren. Die Zeiten haben sich geändert.
Das gegenwärtige Schweigen der Kirchen zum Thema Schulden irritiert noch mehr, wenn man sich vor Augen hält, dass moralisch-religiöse Schuld und finanzielle Schulden in der biblischen Überlieferung nah beieinander liegen. Der Umgang mit den Schulden berührt also nicht nur ein mehr oder weniger peripheres Thema der Sozialethik, es zielt auf den Kern der christlichen Botschaft. Freilich hat eine lange Auslegungstradition das eher verdunkelt. Das Gleichnis vom Verwalter, der um sich selbst zu retten, anderen die Schuld erlässt (Lukas 16,1-13), wurde lange Zeit einfach dahingehend gedeutet, dass es auf beherztes Handeln angesichts des nahenden Reiches Gottes ankomme. Aber der Kontext, in dem der Evangelist Lukas das Gleichnis platziert (nämlich vor dem Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus), und die Worte, die dem Gleichnis beigestellt sind ("macht Euch Freunde mit dem ungerechten Mammon" und dass man nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen könne), machen klar, dass es dem Evangelisten eben doch ums Geld geht: Schuldenerlassen ist dem Reich Gottes beziehungsweise der Tora gemäß.
Weiter vorne im Lukasevangelium werden die Jünger ermahnt großzügig Kredite zu vergeben ohne Rückzahlungen zu erwarten (Lukas 6, 30-38). Und bei der "Antrittsrede" in Nazareth (Lukas 4,16-30) lässt Lukas Jesus ein gnädiges Jahr des Herrn ankündigen. Damit ist wohl das Jobeljahr gemeint, in dem nach der Tora (Leviticus 25) alle 50 Jahre eine Landreform durchgeführt und die Schuldsklaven freigelassen werden sollen. Das Jobeljahrgesetz nimmt damit ältere Tora-Gesetze auf, die das Erlassen der Schulden und die Freiheit für Schuldsklaven bereits alle sieben Jahre gefordert haben (Exodus 21,2-11 und Deuteronomium 15,1-18).
Verschuldung war ein großes Problem in der antiken Welt rund um das Mittelmeer - verschärft seit dem achten Jahrhundert vor Christus. Wer sich verschuldete, haftete mit seiner Person, also mit seiner Arbeitskraft und gegebenenfalls mit der seiner Familie; später haftete er auch mit seinem Besitz. Verschiedene Formen von Schuldsklaverei und eine Konzentration von Land in immer weniger Händen waren die Konsequenzen. Umgekehrt gehörten aber auch Schuldenerlasse und Landreformen zu einem immer wiederkehrenden Mittel, um diesen Problemen Herr zu werden, nicht nur in Israel. Die ersten Zeugnisse dafür stammen aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus aus Mesopotamien. Die biblischen Gesetze waren also wohl kein utopisches Programm, wie Exegeten immer wieder gemeint haben. Die Erlass- und Umverteilungsgesetze der Tora sollten den Verschuldeten die Rückkehr zu einem Leben in Freiheit sichern: frei von Sklavenarbeit und frei zur Arbeit auf eigenem Land. Die Verschuldeten sollten "erlöst" werden.
Man geht fehl, wenn man in der finanziellen Erlösung nur eine Metapher für eine religiöse Erlösung sieht: Man sah vielmehr in der Befreiung aus Schulden und Schuldknechtschaft den Inhalt von Gottes erlösendem Handeln. Und umgekehrt wurden die Gläubiger, die aus der Verschuldung von Menschen Nutzen zogen oder diese Verschuldung gar herbeiführten, von den Propheten scharf kritisiert. Diese irdisch-reale Seite von Gottes Erlösung ist auch noch im Neuen Testament präsent. So sollen sich die Christen, wenn sie Gott um Vergebung ihrer Schuld bitten, zugleich verpflichten, ihren Schuldnern zu vergeben. Das griechische Wort, das im Vaterunser steht, bezeichnet beides, die religiöse und die finanzielle Schuld.
Lebhafte Diskussion
Nun hat sich die Bedeutung von Schulden in der Ökonomie seit der Antike grundlegend gewandelt. Dennoch ist eine lebhafte Diskussion über verschiedene historische und gegenwärtige Schuldverhältnisse und auch über den Zusammenhang von Schulden und Schuld in Gang gekommen. Seit David Graebers erfolgreichem Buch "Schulden" erkennen immer mehr Philosophen, Ökonomen, Kultur- und Sozialwissenschaftler hier ein aktuelles Thema. Nur die Theologen glänzen weitgehend durch Abwesenheit.
In der antiken Wirtschaft war ein Investitionskredit eher die Ausnahme; leichter und vermutlich lukrativer war es für Reiche, sich über die Vergabe von Darlehen an notleidende Bauern deren Sklavenarbeit zu sichern. Im Kapitalismus ist der Investitionskredit die Grundlage fast jeder wirtschaftlichen Unternehmung. Der Investitionskredit vergrößert in gewisser Hinsicht die Möglichkeiten des Schuldners: Er kann etwas beginnen, das ohne das Geld nicht möglich wäre. Im weitesten Sinne kann man von einem Freiheitsgewinn sprechen. Aber der Kredit bewahrt dabei immer ein Doppelgesicht: Wenn die Unternehmung fehlschlägt und nicht den erhofften Gewinn einbringt, dann werden die Schulden zur Bürde und zum Freiheitsverlust. In jedem Fall prägt das geliehene Geld die Zukunft des Schuldners: Er muss den Wert des im Kredit neu geschaffenen Geldes überhaupt erst erwirtschaften. Schafft er das nicht, muss er irgendwann Insolvenz anmelden und das Vermögen seiner Gläubiger reduziert sich, denn die Schulden des einen sind die Vermögen der anderen.
Kredite werden aber nicht nur Unternehmen gewährt, sondern auch für die Investition in Vermögenswerte (wie Immobilien oder Aktien) genutzt. Der Ausgangspunkt der großen Finanzkrise war bekanntlich die massenhafte Vergabe von Krediten an amerikanische Hauskäufer, die außer dem mutmaßlich steigenden Wert der gekauften Häuser wenig Sicherheiten hatten. So wurde per Kredit eine Preisblase finanziert. Statt aber nun die Kreditgeber für ihre riskante Geldpolitik zur Verantwortung zu ziehen, haben die Staaten größtenteils die Banken gerettet. Dabei haben die Staaten wiederum Schulden gemacht, an denen private Banken verdient haben. Mit den neuen Schulden wurde aber lediglich "Zeit gekauft", um den Preis steigender Lasten in der Zukunft.
Die Auseinandersetzung um die griechischen Staatsschulden für das dritte so genannte "Hilfspaket" zeigt, dass es weniger um eine schnelle wirtschaftliche Erholung Griechenlands geht - dann hätte man auf die Stimmen gehört, die einen Schuldenschnitt empfehlen - sondern um die Durchsetzung einer bestimmten Zahlungsmoral: Nämlich einer, nach der die Ansprüche der Gläubiger grundsätzlich Vorrang haben vor den Interessen der Schuldner(staaten) und ihrer Bevölkerungen. Die Europäische Zentralbank stellt zwar "billiges Geld" zur Verfügung, das heißt: Es werden nicht nur Griechenland neue günstige Kredite gegeben, um seine alten Schulden abzuzahlen, sondern durch niedrige Leitzinsen wird es insgesamt in der EU leicht, neue Schulden zu machen, aber auch die müssen bezahlt werden. Diese Politik ist nicht nur hart für Schuldner, sie trifft auch Kleinsparer, die so durch den Realwertverlust ihrer Ersparnisse ihren Teil zur Reduktion des Schuldenberges beitragen. Von dieser Politik profitieren Banken und Großin-vestoren, die (sich) sehr günstig Geld (be-)schaffen können. Wobei das neue Geld nicht automatisch zu steigenden Krediten für die Wirtschaft führt; es ist unter Umständen attraktiver, es in Vermögenswerte zu investieren. So dräuen neue Spekulationsblasen am Horizont.
Diese Krisenpolitik ist nicht nur wirtschaftliche unsolide, sie verstärkt auch die Ungleichheiten: Es haben nicht nur die Banken an ihrer eigenen Rettung verdient. Auch der deutsche Staat habe von der Griechenlandkrise stark profitiert, meldete kürzlich das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Im Zuge der Krise seien die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen drastisch gesunken. Dadurch habe der deutsche Staatshaushalt seit 2010 rund einhundert Milliarden Euro eingespart. Für das wirtschaftlich starke Deutschland ist es also ungleich einfacher, sich zu refinanzieren, als für die südlichen Länder der Europäischen Gemeinschaft.
Eine Tagung der Kulturstiftung des Bundes zu "Wachstumsdenken und Religion" brachte kürzlich immerhin mal einige Theologen mit in die Diskussion um die Schulden. Der Katholik Klaus von Stosch hielt sich mehr oder weniger an Papst Johannes Paul II., wenn er als Maßstab angab, dass Gott den Menschen nur so viel zu tragen gebe, wie sie tragen könnten. Untragbare Schulden seien darum nicht religiös sanktionierbar. Der Ökonom Birger Priddat beharrte in der anschließenden Diskussion darauf, dass man institutionelle Antworten auf Wirtschaftsfragen finden müsse. So kam in der Diskussion die Kategorie der Unterbrechung, die Johann Baptist Metz mal als kürzeste Definition von Religion vorgeschlagen hatte, wieder zu Ehren. Es gehe darum, Institutionen der Unterbrechung zu finden, um die sich anhäufenden Schuld- und Vermögenslasten erstmal zu stoppen und vielleicht zu vermindern. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho erinnerte dabei an die Tradition des Jobeljahres und regte an, Vererbungen einzuschränken.
Wenn man bedenkt, dass derzeit große Vermögen der Wirtschaftswundergeneration an die folgenden Jahrgänge vererbt werden, dann erklärt das, warum die im Zuge der Finanzkrise gestiegenen Immobilienpreise in vielen Großstädten auch von jungen Familien gezahlt werden können. Vererbung verschärft nicht nur die Ungleichheit, sondern treibt auch die Blase an. Andere Vorschläge auf der Tagung zielten dahin, die Kreditschöpfungsfähigkeit der Banken einzuschränken, wie es zum Beispiel die Initiative für ein so genanntes Vollgeld in der Schweiz anstrebt.
Allgemein gehe es darum, so Thomas Macho, das Gewicht der Vergangenheit zu verringern, und damit die Möglichkeiten zu vergrößern, ein Anderer zu werden. Das wäre vielleicht ein Kriterium, verschiedene Schulden zu unterscheiden: Welche eröffnen mehr Möglichkeiten in der Zukunft und welche verbauen die Zukunft für die Menschen? Da sollten Kirchen und Theologen mitreden. Dem Gleichnis vom ungerechten Verwalter hat der Evangelist Lukas noch das Jesuswort beigegeben: "Wenn ihr nun mit dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das wahre Gut anvertrauen." Heißt das: Wer nicht weiß, glaubensgemäß mit Geld umzugehen, wie kann der das Reich Gottes verkündigen? Wer heute keine Antworten auf die Lasten des Geldes findet, die viele Menschen binden, der sollte wohl nicht zu vollmundig von einer religiösen Erlösung reden.
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann ist Theologe und Journalist. Er lebt in Köln.