Auf der Grenze

Ein Krimi über freien Willen
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"Pfingstopfer" ist ein spannender Krimi mit überraschender Lösung, vor allem jedoch ein hervorragender Roman.

"Pfingstopfer" ist ein zutiefst menschlicher Krimi mit haarsträubendem Fall, nüchtern erzählt und mit Figuren, denen man die Daumen drückt. Vor allem ist "Pfingstopfer" ein starker Roman. Er beginnt am Sonntag vor Pfingsten auf dem Lande in Schleswig-Holstein. Der Vorsteher einer florierenden Pfingstgemeinde fährt wie immer lange vor dem Gottesdienst zur Kirche, um alles vorzubereiten. Dieses Mal ist es anders. Auf dem Pult mit Bronzetafel vor dem Glockenturm findet er eine nackte Tote. Arme ausgebreitet, Beine gespreizt, auf dem Bauch das Tattoo einer Schlange mit aufgerissenem Maul. "Hinter dem Grauen lauerte die Erregung, denn die Frau war jung und schön." Die tote Prostituierte ist wie ein Schlachtopfer drapiert, in ihrem Schädel steckt ein Zettel mit dem Bibelzitat: "Die Wahrheit wird euch frei machen." Auf die bürgerliche Gemeinde kommt eine unruhige Pfingstwoche zu.

In Verdacht gerät ein bekannter Hirnforscher. Er hatte Kontakt zur Toten, außerdem sehr öffentlichkeitswirksam Streit mit einem einflussreichen Prediger der Gemeinde. Er hatte die Entscheidungsfreiheit des Menschen bestritten, auch die für oder gegen Gott, und gefolgert: Ohne freien Willen gebe es auch für Gott keinen Platz mehr. Er berief sich auf Forschungen, wonach wir uns eben nicht frei entscheiden könnten, weil chemische Prozesse im Gehirn alles vorherbestimmten. Der freie Wille sei bloße Einbildung. Eine sehr aktuelle Debatte. Der Prediger nutzte für die Retourkutsche seine guten Verbindungen ins Ministerium und spielte dem Forscher übel mit. Und nun die Tote. Auch eine Verwicklung von Gemeindegliedern in den Mord ist denkbar.

Kommissar Anton Glauberg, der selbst eigentlich an gar nichts glaubt, macht mit Leib und Seele seinen Job. Sein Privatleben bekommt er weniger gut hin. Schon lange wohnt er von seiner Frau getrennt, die schwer an einer Depression erkrankt ist. Sein Sohn flog von der Schule, weil er mit Hasch dealte. Außerdem hat Glauberg eine große Liebe, die er nicht leben kann, die Ex-BKA-Ermittlerin Paula. Diese hatte eine traumatische Jugend in der DDR und wird deren Gespenster nicht los. Glauberg kennt sie von früher, nun taucht sie plötzlich wieder auf. Beide müssen entscheiden, wie es mit ihnen weitergeht. Sie wollen, ob sie aber auch können, wissen sie nicht.

"Pfingstopfer" ist ein spannender Krimi mit überraschender Lösung, vor allem jedoch ein hervorragender Roman, der genau hinsieht, als der unspektakuläre Kommissar an den Punkt gerät, wo er sich entscheiden muss. Der Schriftsteller Ulrich Woelk spannt diesen Handlungsbogen vor dem Hintergrund der philosophisch und theologisch brisanten Frage auf, ob wir einen freien Willen haben - die zudem existentiell ist. Die unbehagliche Vorstellung, wir seien lediglich Prozessen in unserem Gehirn ausgeliefert, weisen wir beinahe intuitiv zurück.

Ulrich Woelk spielt mit dem schwergewichtigen Thema meisterhaft und unaufgeregt. Er schaut genau hin und gewährt seinen Figuren ein spürbares Eigenleben. Das hat Größe, und indem er eine sehr menschliche Geschichte gekonnt erzählt, gerät er erst gar nicht in Gefahr, wegen der Komplexität der Frage in fade Erörterungen und erklärende Dialoge abzurutschen.

Stattdessen legt er unter den brisanten Fall eine packende Lovestory, deren möglicher Fortgang einen noch lange nach der Lektüre beschäftigt. So sorgt die subtil behandelte Frage, ob wir uns frei entscheiden können, für den eigentlichen Thrill. Und anders als die letztlich bloß medizinischen Details der Gehirnoperation, an der die Ermordete starb, geht das Problem wirklich unter die Haut. Denn es betrifft eminent das Bild, das wir von uns selber haben.

Ulrich Woelk: Pfingstopfer. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2015, 381 Seiten, Euro 14,90.

Udo Feist

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