Der größte Pflegedienst der Nation

Warum pflegende Angehörige unter der Belastung zerbrechen können
Die pflegenden Angehörigen denken immer zuerst ... Foto: dpa
Die pflegenden Angehörigen denken immer zuerst ... Foto: dpa
In Deutschland sind gut 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig. Mehr als zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt, zumeist von Angehörigen. Diese sind erheblichen Belastungen ausgesetzt, wie Hanneli Döhner, Sozialgerontologin und Mitbegründerin des Vereins "wir pflegen!", beschreibt.

Wer in diesen Tagen eine Buchhandlung in Deutschland betritt, begegnet stapelweise neuen Sachbüchern, die allesamt die Aufgabe der häuslichen Pflege zum Thema haben: "Balanceakt - Pflegende Angehörige zwischen Liebe, Pflichtgefühl und Selbstschutz", "Eine Polin für Mutter", "Mutter, wann stirbst Du endlich?" "Unter Tränen gelacht. Mein Vater, die Demenz und ich", heißen die Titel, in denen sich immer mehr pflegende Angehörige zu Wort melden. Kein Wunder, werden doch mehr als zwei Drittel der 2,6 Millionen Pflegebedürftigen von ihren Angehörigen oder Freunden zuhause versorgt. In Zahlen: 1,25 Millionen Pflegebedürftige beziehen ausschließlich Pflegegeld, das heißt, sie werden zuhause ohne Unterstützung durch professionelle Hilfen betreut. Weitere 616.000 Pflegebedürftige leben ebenfalls in Privathaushalten, doch bei ihnen erfolgt die Pflege mit oder vollständig durch ambulante Pflegedienste. Weniger als ein Drittel der Pflegebedürftigen, 764.000 Menschen leben in Pflegeheimen.

Doch was zeichnet pflegende Angehörige aus? Wie gestaltet sich ihre familiäre Situation? In welchem Umfang kümmern sie sich um ihre Angehörigen? Und welche gesundheitlichen Probleme ergeben sich durch ihre Tätigkeit? Wissenschaftler kritisieren, dass es keine Daten zur Anzahl pflegender Angehöriger gibt. In einigen europäischen Ländern liegen dazu Zensusdaten vor, in Deutschland wurde jedoch versäumt, diese zu erheben. So wird oft als Ausgangspunkt für Schätzungen die Zahl der in offiziellen Statistiken erfassten zu Hause versorgten 1,9 Millionen pflegebedürftigen Menschen genannt, also derjenigen, die eine Pflegestufe haben.

Viele Angehörige versorgen jedoch auch Menschen, die (noch) keine Einstufung beantragt oder erhalten haben. Die Schätzungen belaufen sich auf drei Millionen so genannter hilfsbedürftiger Personen. Dies sind Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder solche in einem Frühstadium der Demenz. Bei der Schätzung wird weiterhin außer Acht gelassen, dass sich häufig mehrere Familienangehörige um den zu Pflegenden kümmern. Ein weiterer Aspekt betrifft die Versorgung im Pflegeheim: Es wird vielfach ausgeblendet, dass viele Angehörige auch hier die Begleitung weiterführen - und dass diese Unterbringungsform in zunehmendem Maße aufgrund der knappen Pflegekräfte auch konkrete Pflegetätigkeiten beinhaltet.

Es ist inzwischen auch international üblich, dass zumeist von pflegenden Angehörigen gesprochen wird, damit aber all diejenigen gemeint sind, die sich intensiv kümmern, die betreuen, begleiten oder im klassischen Sinne pflegen. Das sind nicht nur die direkten Familienangehörigen, sondern ebenso Angehörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn, die eine ihnen nahestehende Person unentgeltlich pflegen oder gepflegt haben - und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, dem Grund für die Pflegebedürftigkeit und der Wohnsituation der zu pflegenden Person.

Auswertungen des Sozio-oekonomischen Panels (soep) des Jahres 2012 zeigen, dass nach wie vor Frauen den Hauptteil der Pflege leisten, aber der Anteil der pflegenden Männer gut ein Drittel beträgt. Dabei ist zu beachten, dass die Grundlage für diese Berechnungen nicht nur die Hauptpflegepersonen sind, wie es in anderen Studien häufig der Fall ist. Der Anteil pflegender Frauen ist in der Altersklasse von 50 bis 69 Jahren besonders hoch, während der Anteil der pflegenden Männer mit dem Alter ansteigt und die Spitze bei 57 bis 85 Jahren liegt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es vorwiegend Ehemänner sind. Dabei pflegt jeder vierte Angehörige allein, 35 bis 40 Stunden in der Woche. Und zwei Drittel der Angehörigen kümmern sich täglich über eine Dauer von acht bis zehn Jahren.

Forschungsergebnisse wie die der Alternsforscherin Adelheid Kuhlmey aus dem Jahre 2014 zeigen, dass über die Hälfte der befragten pflegenden Angehörigen berichten, sie könnten ihren eigenen Interessen selten oder nie mit ruhigem Gewissen nachgehen. Knapp ein Viertel fühle sich dadurch belastet, dass sie ab und zu die Pflege jemand anderem überlassen. Und für über ein Drittel bedeutete die Übernahme der häuslichen Pflege, dass die eigene Lebenszufriedenheit dadurch leidet.

Lebenszufriedenheit leidet

Laut einer Studie der Techniker-Krankenkasse fühlen sich 35 Prozent zwischen den Anforderungen ihrer Umgebung hin- und hergerissen. Zwischen der Familie und den Anforderungen durch die Pflege. Andererseits sagen 81 Prozent: "Ich ziehe viel Kraft aus dem Wissen, dass ich dazu beitrage, dass der Pflegebedürftige weiter zuhause wohnen kann." Diese Aussage ist umso ausgeprägter, je älter die pflegenden Angehörigen sind. In Studien wird immer wieder bestätigt, dass die positiven Aspekte sich jedoch deutlich reduzieren, wenn nicht nur körperliche Beeinträchtigungen vorliegen, sondern auch Gedächtnisprobleme und insbesondere Verhaltensauffälligkeiten hinzukommen.

Und eine Studie der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK-Studie) aus dem Jahr 2011 zeigt eine weitere Auffälligkeit bei pflegenden Angehörigen: Ein Drittel von ihnen erkrankt selbst. Auch ist festzustellen, dass mit Blick auf die Zahl der chronischen und schwerwiegenden Krankheiten pro Person die pflegenden Angehörigen deutlich kränker sind als der Durchschnitts-Deutsche. Die Zahl der entsprechenden Diagnosen ist um bis zu 51 Prozent höher. Ein alarmierender Befund. So liegen die gesamten krankheitsbedingten Leistungsausgaben für pflegende Angehörige 18 Prozent über dem Durchschnitt. Aber bei den Aufwendungen für stationäre Krankenhausbehandlungen gibt es kaum Unterschiede. Dies wird so interpretiert, dass pflegende Angehörige sich dafür keine Zeit nehmen (können), sie wollen ihre zu Pflegenden nicht allein lassen oder in andere Hände geben.

Die TK-Studie zeigt auch, dass allein Pflegende - und das ist jeder Vierte - ihre Gesundheit schlechter einschätzen, als diejenigen, die sich die Pflege teilen. Eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) aus dem Jahr 2000, die pflegende Angehörige nach ihren Erkrankungen befragt hatte, ergab: Die am häufigsten genannten Beschwerden sind Schwäche, Krankheitsgefühl (61 Prozent) und Rückenbeschwerden (60 Prozent), wobei jeweils ein Drittel eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit der Pflege angibt. Obwohl depressive Störungen und gestörter Schlaf wesentlich seltener genannt werden, wird hier der klarste Zusammenhang zur Pflegetätigkeit (fast die Hälfte) gesehen.

Davon, wie hoch die emotionalen Belastungen durch die Pflege sind, legt der Online-Beratungsdienst von "pflegen-und-leben" in Berlin Zeugnis ab. Angehörige berichten: "Meine Mutter wird immer mehr zum Kind", "(...) allmählich werde ich einsam", "Mir wächst alles über den Kopf" ... Und in der Tat: Wenn die Eltern pflegebedürftig werden, beginnt eine neue Lebensphase, in der die erwachsenen Kinder ihren Eltern zunehmend in einer anderen Rolle begegnen. "Eine besondere Herausforderung stellt dabei der zunehmende Unterstützungs- beziehungsweise Pflegebedarf der Eltern dar. Die erwachsenen Kinder erkennen, dass ihre Eltern die gewohnten Elternfunktionen nicht mehr ausfüllen können und selbst zunehmend Zuspruch und Hilfe der Kinder benötigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Eltern zu Kindern werden und die Kinder zu den Eltern der alten Eltern. Vielmehr geht es darum, Schritt für Schritt eine neue Rolle innerhalb der Familie einzunehmen", heißt es auf der Website des Beratungsdienstes. Und beide Seiten müssen lernen, die neue Rolle zu akzeptieren.

Zentrale Bedeutung der Vorsorge

Probleme für pflegende Angehörige treten auch bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auf, die sich derzeit sehr schlecht gestaltet. Einer aktuellen Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) zufolge nennen 64 Prozent der Befragten die Sorge um den Arbeitsplatz als Grund, warum nicht über die Pflegesituation gesprochen wird. 60 Prozent haben Angst vor beruflichen Nachteilen, und 50 Prozent beklagen das mangelnde Verständnis der Vorgesetzten. Als beste Unterstützungsmöglichkeiten gelten flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit, auch von Zuhause aus zu arbeiten, und individuelle Absprachen. Die Autoren der Studie leiten daraus einen erheblichen Beratungsbedarf für Unternehmen ab: Sie sollten Zugang zu Beratungsstellen, insbesondere den Pflegestützpunkten erleichtern und aktiv unterstützen und selbst Angebote machen. Für die pflegenden Angehörigen sollte durch die Politik ein Rechtsanspruch auf Beratung eingeleitet werden.

Das neue Gesetz über die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Pflege sieht eine unbezahlte Freistellung für pflegende Angehörige von 24 Monaten vor. Dieser Rechtsanspruch gilt nur für Mitarbeitende in Betrieben mit mindestens 25 Angestellten. Ferner gibt es eine nunmehr zehntägige bezahlte Auszeit, die es pflegenden Angehörigen ermöglichen soll, in besonders belastenden Situationen kurzzeitig einen größeren Spielraum zu haben. Doch diese Erleichterungen werden von den Pflegenden selbst kritisch gesehen. Gehaltskürzungen und komplizierte bürokratische Verhandlungen lösen Ängste aus, so dass diese neue Familienpflegezeit nach Einschätzung von vielen pflegenden Angehörigen und Sozialverbänden kaum Erfolg haben wird. Es ist vielmehr so, dass viele Angehörige diese Gesetze als halbherzig betrachten: "Die Politik kann behaupten, sie habe etwas getan."

Nicht selten bedeutet die Pflege von Angehörigen den Weg in die Armut. Gesundheitsökonomen wie der Bremer Heinz Rothgang berechneten, dass die Pflegeversicherung 57 Prozent der Kosten für Pflegebedürftigkeit abdeckt, was auf den hohen Anteil des Eigenanteils der Familien verweist und damit den Teilversicherungscharakter sehr deutlich macht. Der Eigenanteil ist insbesondere dadurch in den vergangenen Jahren gestiegen, dass es keine Dynamisierung der Leistungen gegeben hat. Gerade bei schweren Demenzerkrankungen zeigt sich die finanzielle Belastung besonders deutlich: Die jährliche Belastung für einen leicht demenziellen Angehörigen bedeutet für die Familie Kosten von 13.000 Euro, die sich später auf bis zu 70.000 Euro erhöhen. Die Pflegeversicherung übernimmt zu Beginn 3.000 Euro bis später 24.200 Euro, und die Krankenversicherung 1.200 Euro bis 800 Euro. Ein pflegender Sohn von der Initiative "Armut durch Pflege" berichtet: "Nachdem ich die Pflege meiner Mutter übernahm, bin ich automatisch in Hartz IV gerutscht. Seitdem sehe ich ein großes schwarzes Loch auf mich zu kommen. Meine wirtschaftliche Lage hat sich stark verschlechtert. Gerade wenn ich an meine Zukunft denke, muss ich mit Altersarmut rechnen, da ich mir als Hartz IV-Empfänger in den ganzen Jahren nichts ansparen durfte. Eine Arbeit nach der Pflege werde ich mit über fünfzig Jahren schlecht mehr finden. An Lebensstandard habe ich eingebüßt, da ich nicht selbst über meinen Wohnraum, Auto und andere Dinge entscheiden darf."

Was entlastet pflegende Angehörige?

Es gibt nicht "die" pflegenden Angehörigen. Sie sind als Gruppe so heterogen, wie es auch die Gesamtbevölkerung ist. Ihre Situation ist ebenso durch die Charakteristika der jeweils pflegebedürftigen Person geprägt wie durch die der sie Pflegenden. Und deshalb ist ein breites Spektrum an Entlastungs- und Unterstützungsmaßnahmen mit echten Wahlmöglichkeiten nötig, um das passende Angebot nutzen zu können. Dies scheitert oft an der mangelnden Information und Beratung, der nicht flächendeckend vorhandenen Verfügbarkeit von Angeboten, an Finanzierungsproblemen, aber auch an der noch verbreiteten Scham, Hilfen in Anspruch zu nehmen.

Die pflegenden Angehörigen denken immer zuerst und oft ausschließlich an das Wohl der Familienmitglieder, die sie pflegen. Dabei kommt die Sorge um sich selbst zu kurz, mit der Gefahr, durch die hohen Belastungen selbst zu erkranken oder sogar pflegebedürftig zu werden. Deshalb ist die Vorsorge von ganz zentraler Bedeutung, um das gewählte häusliche Pflegearrangement aufrechterhalten zu können. Hier ist das Recht auf Rehabilitation für pflegende Angehörige - allein oder gemeinsam mit ihren Angehörigen, eine wichtige Neuerung, die mit dem Pflegeneuausrichtungsgesetz (PNG) eingeführt wurde. Aber auch Urlaub, kleine Auszeiten und die Tagesbetreuung am Wochenende bedeuten für Angehörige oftmals Entlastung: "Gern würde ich mal zehn bis 14 Tage Urlaub machen und meinen Mann zu Hause gut betreut wissen. Kurzzeitpflege im Heim ist zwar möglich, aber jede Veränderung im Tagesablauf bringt Demenzkranke völlig durcheinander", berichtet eine Frau aus ihrem Alltag. Und eine andere ergänzt: "Ich müsste, wie auch andere Pflegende Auszeiten, das heißt, Kurzurlaube haben, um neue Kraft zu schöpfen. Meine Ärztin empfiehlt mir 14 Tage pro Quartal - aber das geht ja leider nicht."

Das erste Pflegestärkungsgesetz, das seit dem 1. Januar in Kraft ist, bringt leichte Verbesserungen für pflegende Angehörige. Doch diese sind aus ihrer Sicht nicht ausreichend. Angehörige und auch die Sozialverbände fordern eine große Pflegereform und kein "Reförmchen", damit die Pflege in Zukunft gesichert sein wird.

Als wesentlicher Schritt wird die seit Jahren diskutierte Veränderung des "Pflegebedürftigkeitsbegriffes" erachtet, die zu einer Gleichbehandlung von Pflegebedürftigkeit durch kognitive und körperliche Einschränkungen führen soll. Die Politik hat die Einführung im Rahmen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes nach den Testphasen für das Jahr 2017 angekündigt.

Literatur

Heinz Rothgang u. a.: BARMER GEK Pflegereport 2014. Asgard Verlagsservice, Siegburg.

Schneekloth, Ulrich & Wahl, Hans-Werner (2005): Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in privaten Haushalten (MuG iii). Integrierter Abschlussbericht. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Beate Bestmann u. a.: Pflegen: Belastung und sozialer Zusammenhalt. Eine Befragung zur Situation von pflegenden Angehörigen. WINEG Wissen 04. Hamburg: Techniker Krankenkasse (TK-Studie 2014).

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Hanneli Döhner

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