Ein Segen für die Gemeinde

Wie eine evangelische Kirchngemeinde in Hamburg Flüchtlingen hilft und davon profitiert
Frühstück auf dem Luthercampus. Foto: Hedwig Gafga
Frühstück auf dem Luthercampus. Foto: Hedwig Gafga
Der "Luthercampus" in Hamburg ist ein offenes Gemeindezentrum gerade für Kirchenferne. Doch nun kümmern sich die Mitarbeiter um Flüchtlinge, die wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wurden. Von den Begegnungen profitieren beide Seiten, hat die Journalistin Hedwig Gafga bei ihren Gesprächen mit Flüchtlingen und Einheimischen festgestellt.

Auf unwirtlichem Gelände ist im Freien ein Frühstückstisch gedeckt, Kaffee, Brötchen, Butter, Käse und Marmelade. Freiwillige der Luthergemeinde in Hamburg-Bahrenfeld und einige Asylbewerber bereiten Hof und Verkaufsräume einer ehemaligen Gärtnerei für den Umzug der Kleiderkammer vor, die bisher im Kirchenraum beheimatet war. Frauen und Männer in Fließjacken räumen verstreute Holz- und Metallteile beiseite. Kinder besprühen ein Schild mit der Aufschrift "Kleiderkammer Lutherkirche". Im Innern eines Behelfsgebäudes streichen junge Leute die Wände. Auch Bärbel Dauber, die Leiterin des Luthercampus, eines offenen Gemeindezentrums, weißt eines der Zimmer. "Nicht nur für Flüchtlinge arbeiten, sondern mit ihnen", dieser Gedanke ist Dauber wichtig.

Seit Ende 2012 gibt es am HSV-Parkplatz Braun, unweit der Abfahrt Hamburg-Volkspark, direkt an der A7 und in Sichtweite der Müllverbrennungsanlage, das Containerdorf Schnackenburgallee. Es liegt abseits der Wohngebiete im Hamburger Westen. Anfangs lebten dort rund dreihundert Flüchtlinge, im Januar dieses Jahres waren es 1.369 Menschen, so Norbert Smejkal, der Sprecher der Hamburger Ausländerbehörde. Anfang 2013 seien etwa hundert Asylsuchende pro Monat in die Stadt gekommen, im Dezember 2014 dagegen rund achthundert. Es fehlte an Folgeunterkünften.

Zitternd presst Hanniye die Arme an den Körper. Bei den Malarbeiten war der Flüchtlingsfrau aus dem Iran die Anspannung nicht anzumerken, beim Erzählen jedoch bewahren Hanniye, die Englischlehrerin, und ihr Mann Reza, der Sportjournalist, kaum ihre Fassung. Die Iranerin ist Christin, ihr Mann ist Muslim, ihre Zukunft ungewiss. Reza habe in Teheran zwei Mal vor Gericht gestanden, weil er in einem Artikel gleiche Rechte für Frauen und Männer gefordert hatte. Danach habe ihm die Verhaftung gedroht. Sie sei wegen ihres Interesses am christlichen Glauben gefährdet gewesen. Der Abfall vom Islam und Übertritt zu einer anderen Religion wird im Iran mit der Todesstrafe bedroht. Unter der Hand war es ihnen gelungen, ein Visum für Frankreich zu organisieren. "Der erste Flug, den es in ein freies Land gab, ging nach Hamburg", sagt Hanniye. Fünf Monate lebten sie in "der Schnackenburg", erhielten dann einen Abschiebebescheid. Der Pfarrer der Lutherkirche gewährte ihnen Kirchenasyl, es folgten "zwei Monate Duldung", "dann noch einmal drei Monate Duldung". Aus dem Mund der jungen Iranerin klingt "Duldung" wie eine Beleidigung.

Verkehrte Welt

Auch Arjen (Name geändert), ein weiterer zum Christentum konvertierter iranischer Flüchtling, beteiligt sich am Umzug der Kleiderkammer für die Flüchtlinge. Er ist Musiker, übersetzt christliche Kirchenlieder. Mit seiner Mutter und Schwester lebt er in der Erstunterkunft. Dort werde ihnen von Nachbarn, die von seinem Übertritt erfahren haben, gelegentlich Müll ins Zimmer gekippt, er verzieht das Gesicht.

Verkehrte Welt. Mit dem Luthercampus zwischen Hochhäusern hat die Lutherkirche ein offenes Gemeindezentrum für Kirchenferne und für Leute aus verschiedenen Religionen geschaffen. Wie oft hat Leiterin Bärbel Dauber die Frage gehört: Muss ich in der Kirche sein, wenn ich hier mitarbeiten will? Das muss keiner. Auch Muslime aus der Nachbarschaft beteiligen sich. Dauber, die das Erste Theologische Examen abschloss, aber nicht Pfarrerin werden wollte, hat hier als Ehrenamtliche mehrere Gruppen aufgebaut, bevor sie zur hauptamtlichen Leiterin des Luthercampus wurde. Nun kommen überraschend Flüchtlinge dazu, die sich ausdrücklich als Christen verstehen. "Sie sind ein Segen für uns", meint Bärbel Dauber. "Sie bringen eine andere Stimmung in die Gemeinde und neue Fragen."

Die Grundorientierung auf dem Luthercampus bleibt indes klar: Man geht dahin, wo sonst keiner hingeht, in Alten- und Obdachlosenheime zum Beispiel. Bringt das Armenhaus von Bahrenfeld mit den Leuten aus den gutbürgerlichen Wohngebieten zusammen. Baut Brücken zu den Neuen, den Flüchtlingen. Nutzt viele Anlässe, damit sie aus dem Lager heraus- und in den Stadtteil hineinkommen. Singen, Ferienfreizeiten für Kinder, Kunstaktionen, das organisieren Ehrenamtliche. Im Luthergarten baut der Pfarrer mit einer Gruppe Obst und Gemüse an. Umgekehrt leisten Helfer aus der Gemeinde Fahrdienste für die Flüchtlinge und Künstlerinnen bieten im Camp Malgruppen an. Eine lange Liste von 35 Sponsoren, die Projekte des Luthercampus unterstützen, zeugt von dem Respekt, den man dieser Arbeit in der Stadt entgegenbringt.

Unter den Freiwilligen sind etliche, die materiell nicht viel besser ausgestattet sind als die Flüchtlinge. Bettina Buhr, 46, eine Frau mit blondem Pferdeschwanz und Kommandostimme, bezeichnet sich als eine "hauptamtlich Ehrenamtliche". Die gelernte Köchin, Mutter von vier Kindern, geschieden, managt die auf Spendenbasis errichtete Kleiderkammer. Sie sorgt dafür, dass sich alle an bestimmte Regeln halten, und sie bereitet den Freiwilligen vor ihren Einsätzen ein kräftiges Frühstück zu. Sie sei keine "Sonntags-in-die-Kirche-Geherin", aber es sei ihr wichtig, dass die Projekte als Arbeit der Luthergemeinde erkennbar seien. Einzelne Mitarbeiter arbeiten zeitweise auf 450-Euro-Stellen. Bettina Buhr zuckt mit den Achseln. Auch sie würde sich freuen, wenn aus ihrer freiwilligen Arbeit einmal ein Job würde

Keine Ruhe in der Nacht

Von der Lutherkirche aus erreicht man das umzäunte Containercamp mit dem Fahrrad in 15 Minuten, aber viele Flüchtlinge besitzen keines, Geschäfte liegen in etwa vier Kilometer Entfernung, ein Bus fährt einmal pro Stunde. Am Eingang des Camps wacht ein Security-Service. Dahinter geht es auf einer kurzen asphaltierten Straße an mehreren großen Übernachtungszelten sowie einem Tischtenniszelt und einem Spielzelt vorbei. Im späten Herbst übernachteten noch Flüchtlinge in Stockfeldbetten in den Zelten, bis zu 32 in einem - jetzt sind diese Zelte leer. Vor der Kantine stehen Gruppen junger Männer in Sportjacken und Trainingshosen, Mädchen oder Frauen sind selten zu sehen, wenn ja, dann in Begleitung von Kindern oder Partnern. Junge syrische Männer erzählen von großen Häusern, in denen ihre Familien zu Hause gelebt hätten. Zwei Eritreer zählen Stationen ihrer Flucht auf: "Sudan, nur eine Woche, Libyen, Syrien, Italien." Und ihre Familien? "Sing-less" (Singles), bringt einer von ihnen hervor, die Männer lachen.

Alban, 24, holt für seine Frau auf einem Plastikteller eine Portion Nudeln mit roter Sauce aus der Kantine. Der Albaner und seine Frau Arbjola, 18, leben seit acht Monaten in der Schnackenburg-allee. Nicht länger als drei Monate sollen Flüchtlinge nach dem Gesetz in der Erstunterkunft bleiben, die Standards der Unterbringung sind schlechter als in den Folgeunterkünften. Zum Beispiel gibt es in den Wohnungen keine Küchen, stattdessen Kantinenessen, viele verlieren durch das ungewohnte Essen stark an Gewicht. Alban erzählt, dass seine Frau ständig unter Migräne leide. Keine Nacht in den übereinander geschichteten Containern verläuft ruhig. Sie hören die Trippelschritte der Nachbarskinder, den Streit der anderen Bewohner.

Arbjola sei in ihrer Heimat zu einer Abtreibung gezwungen worden, weil Albans Urgroßvater den ihren getötet habe und ihre Familien seit Generationen miteinander verfeindet seien. Von seinem künftigen Leben hatte Alban einmal eine Vorstellung: studieren, nebenbei in einer Autowerkstatt den Lebensunterhalt verdienen, nicht vom Staat leben. Er redet rasch, bricht ab, setzt wieder an. Seine Wünsche klingen vage, als hätten sie unter der lang anhaltenden Ungewissheit ihre Kraft verloren.

Rund 1.500 Flüchtlinge lebten wie Alban und Arbjola zum Jahresende 2014 in Hamburg bereits länger als drei Monate in Erstunterkünften. Aktuelle Zahlen gebe es nicht, sagt der Sprecher der Ausländerbehörde, "aus Krankheitsgründen". In diesen Monaten werden neue Folgeeinrichtungen eröffnet. An der Trabrennbahn in Bahrenfeld ziehen 288 Flüchtlinge in Holzpavillons ein, vier weitere Standorte mit insgesamt 682 Plätzen kommen nach Auskunft von Marcel Schweitzer, dem Sprecher der Sozialbehörde, hinzu. Gegen den Bau einer Unterkunft an der Sophienterrasse in Alsternähe sind Anwohner des Villenviertels vor das Verwaltungsgericht Hamburg gezogen und gewannen in erster Instanz.

Im Stadtteil Bahrenfeld legt die Lutherkirche den Finger in soziale Wunden, macht öffentlich, wo Schwache im sozial auseinanderdriftenden Stadtteil übergangen werden. Als der Einrichtungsträger "pflegen-und-wohnen" vor einem Jahr ein Altenheim schließen und kurzerhand eine Flüchtlingsunterkunft daraus machen wollte, protestierte die Kirchengemeinde. Der Träger musste seine Pläne ändern. Im Dezember 2014 startete die Gemeinde eine Postkartenaktion an den Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz: "Viele Grüße aus der Schnackenburg." Auf der Karte steht: "1.300 Menschen sind ein Dorf! Aber ein Dorf hat Schulen, Kindergärten, Einkaufsmöglichkeiten, Cafés, einen Bolzplatz, Spielplätze, einen Sportverein, eine vernünftige Busanbindung, und die Bewohner gestalten und arbeiten verantwortlich mit. Eine besondere Situation braucht gute, neue Ideen. Ich fordere zusammen mit der ev. Luthergemeinde ein gemeinsam erarbeitetes Konzept aller Akteure für die Erstaufnahme Schnackenburg! Jetzt!"

Ein Balanceakt

Die Gemeinde arbeitet eng mit den Behörden zusammen, die Hamburger Innenbehörde finanziert zwei kirchliche Teilzeitkräfte, die Freizeitangebote für die Flüchtlinge organisieren. Gleichzeitig macht die Luthergemeinde problematische Entwicklungen und Missstände öffentlich - ein Balanceakt.

Lebensmittelausgabe auf dem Luthercampus: Bei Hanniye und Reza scheint die Anspannung wie weggeblasen. Im neuen Schreiben der Migrationsbehörde steht das Wort "Aufenthaltsgestattung", Hanniye lächelt. Eigentlich bedeutet es nur, dass sie sich zur Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland aufhalten dürfen. Bei ihnen weckt es jedoch Hoffnung. Hanniye fängt an zu erzählen, wie sie sich gleich nach ihrer Ankunft allein, ohne ihren Mann, zur Hauptkirche St. Petri in der Innenstadt aufgemacht habe, um sich dort taufen zu lassen. Die neu getaufte Iranerin nimmt eine absolut entschiedene Haltung ein: Als Muslima habe sie in ihrem Umfeld erlebt, dass Frauen nichts gelten würden, und dann bei ihren christlich-armenischen Freunden in Teheran etwas Anderes gelernt: "Liebe die anderen, wie dich selbst." Christentum heiße für sie Freiheit, bedeute, gleiche Rechte zu haben wie die Männer. In St. Petri setzte sie sich intensiv mit den Inhalten des Glaubens auseinander, "14 hours face-to-face-discussion", erzählt sie. So emphatisch, so ungebrochen wie Hanniye hört man selten jemanden vom christlichen Glauben reden.

Ungeduldig wartet sie nun darauf, das Versprechen der Freiheit leben zu können. Ungeduldig wartet sie auf eine Arbeitserlaubnis. Schon in der Schnackenburg erteilte sie anderen Flüchtlingen Englischunterricht, "Wir wollen keine Lebenszeit vergeuden, wir wollen segensreich sein", sagt sie entschieden.

Was aber wird aus dem Flüchtlings-camp an der A7? Ein Flüchtlingsdorf mit Treffpunkten und Veranstaltungen, an denen sich die Bewohner beteiligen können? Mit mehr Spielangeboten für die Kinder und gutem Schulunterricht?

Jeden Freitag organisieren Studentinnen, junge Mütter und Rentnerinnen ein Frauencafé. "Wir wissen nicht, wer heute kommt", sagt die Museumspädagogin Eva Fuchs. Die bisherigen Gäste des Cafés sind endlich in Folgeunterkünfte gebracht worden. Nun werben die Frauen draußen auf Handzetteln in Deutsch, Arabisch, Englisch, Französisch, Albanisch neue Besucherinnen. Nach einer halben Stunde füllt sich das improvisierte Café im Container. Mütter und Töchter aus albanischen Familien, eine Iranerin und eine Syrerin setzen sich an die Tische. Tee, Kaffee und Kuchen werden gebracht und mit Hilfe von Google-Übersetzungsprogrammen erste Wörter ausgetauscht. Ein festgelegtes Programm gibt es nicht. Nur ein Café soll es sein, ein Ort zum Ankommen.

Hedwig Gafga

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