Immerwährende Sehnsucht

Wie Hans Scholl sich dem Christentum zu- und vom Nazismus abwandte
Hans Scholl (links) und Alexander Schmorell, der auch zur Weißen Rose gehörte, 1942 auf dem Weg zur Ostfront. Foto: akg-images/ George Wittenstein
Hans Scholl (links) und Alexander Schmorell, der auch zur Weißen Rose gehörte, 1942 auf dem Weg zur Ostfront. Foto: akg-images/ George Wittenstein
Inge Aicher-Scholl hat einen wichtigen Aspekt im Leben ihres Bruders verschwiegen, zeigt der Hamburger Pastor Robert M. Zoske, der über die religiöse Entwicklung Hans Scholls promoviert hat.

Von den Geschwistern Scholl scheint alles bekannt zu sein. Als mutige Widerstandskämpfer verteilten Hans und Sophie Flugblätter gegen Hitler und wurden 1943 vom NS-Regime ermordet. Das Bild der "Weißen Rose" ist von dem gleichnamigen Buch geprägt, das Inge Aicher-Scholl (1917-1998) erstmals 1952 publizierte. Darin verschwieg sie unter anderem den Hauptanklagepunkt des Gerichtsverfahrens von 1938 gegen ihren Bruder Hans. Und später übertrug sie ihre Konversion zur römisch-katholischen Kirche auf Hans und Sophie und behauptete wahrheitswidrig, beide hätten kurz vor ihrer Hinrichtung an einer katholischen Eucharistiefeier teilgenommen. Gegen diese Darstellung gab es früh Widerspruch. Und spätestens seit den Veröffentlichungen von Sönke Zankel (2008), Barbara Beuys (2010) und Christine Hikel (2012) ist klar, dass Aicher-Scholl die Geschichte der "Weißen Rose" nicht als Historikerin geschrieben hatte, sondern als Hagiographin.

Nach Aicher-Scholls Tod übergab ihr jüngster Sohn das Archiv seiner Mutter dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München. Dort wurde es katalogisiert, mikroverfilmt und für die wissenschaftliche Recherche erschlossen. In dem 799 Bände umfassenden Nachlass befindet sich - aufbewahrt in Pappumschlägen und bisher unbeachtet - eine Sammlung von 141 Seiten überwiegend handgeschriebener Gedichte, Lieder, Skizzen und Fotografien. Hans Scholl hatte diese Mappe zusammengestellt, die meisten Texte verfasst, viele datiert und lokalisiert. Darunter sind 37 Gedichte, ein Fragment, drei Aphorismen und drei Prosatexte aus seiner Feder. Sie entstanden überwiegend zwischen Ende 1937 und September 1939.

Warum verfasste Hans Scholl gerade in dieser Zeit Gedichte? Im ersten Halbjahr 1938 befand er sich in der bis dahin schwersten Krise seines Lebens. Nach einer Hausdurchsuchung am 11. November 1937 wurde er am 13. Dezember 1937 verhaftet und saß bis zum 31. Dezember 1937 in "Schutzhaft". Ihm wurden "Betätigung im Sinne der bündischen Jugend" vorgeworfen (er hatte Jungentreffen außerhalb der Hitlerjugend organisiert), Devisenvergehen (er hatte für eine Jungenfahrt nach Schweden Reichsmark ausgeführt), und "widernatürliche Unzucht", Sex mit Männern.

Obwohl er und Rolf Futterknecht ihre fast zwei Jahre währende innige Beziehung zugegeben hatten, sah das Gericht nur eine "jugendliche Verirrung" und stellte das Verfahren ein. Aber dieses belastete Hans Scholl weiterhin. In jener Phase dichtete er. Und die in der Forschung bislang nicht berücksichtigte Poesie hat aufgrund der Krisenzeit, in der sie entstand, für das Verständnis seiner religiösen Entwicklung ein besonderes Gewicht. Die neu entdeckten Quellen sind zugleich eine reiche Ressource für die Einschätzung seines Charakters. Seine Verse sind Seelenfenster. Sie geben einen Einblick in Scholls Wesen, der so bisher nicht möglich war.

Die an Metaphern reiche Poesie zeigt einen einfühlsamen, lyrischen Menschen. Besonders in der Natur entdeckte er Transzendentes. Zwar wich Hans Scholl der geistigen Auseinandersetzung mit anderen nicht aus, aber seinen Eltern erklärte er, es sei "über allem die Natur", die ihn "zum reiferen Menschen" mache. Zeitlebens suchte er darum in der Einsamkeit von Wäldern und Bergen Besinnung und Reflexion. Die Poeme thematisieren Liebe und Leid, Einsamkeit und Stille, Gott und Glauben, Natur und Schöpfung, Nacht und Nebel. Vorbilder waren Rainer Maria Rilke, Stefan George und Paul Verlaine. Scholls Poesie und Prosa ist erfüllt von einer immer währenden "Sehnsucht". Wie bei Friedrich Schleiermacher war der Glaube für ihn die Sehnsucht nach dem Absoluten, "nach dem Lichte" Christi.

Die einzigartigen Dokumente zeigen Scholl nicht nur von einer bisher unbekannten Seite, sie belegen darüber hinaus auch unzweifelhaft die Bedeutung des christlichen Glaubens für den Neunzehnjährigen. Und sie machen zudem deutlich, wie existenziell erschüttert und fassungslos er durch den gegen ihn eingeleiteten Prozess wegen Homosexualität war. Das belegt ein Brief an seine Eltern vom Januar 1938. "Ich finde mich hier [in der Kaserne] mit dem besten Willen [nicht] mehr ganz zurecht. Es gibt Stunden, da ist alles in bester Ordnung, und dann ist wieder dieser trübe Schatten da und überdeckt alles. Ich kämpfe dauernd mit Minderwertigkeitsgefühlen. [...] Meinen Kameraden und Vorgesetzten gegenüber muß ich natürlich dauernd Theater spielen."

Auch das Gerichtsverfahren belastete ihn noch weit über dessen Einstellung hinaus. Mitte Juni 1938 bekennt er seinen Eltern, er brauche "immer noch Stunden der Erholung", denn er könne "eben nicht über Nacht vergessen."

Elementare Krise

Diese elementare Krise ist auch Wendepunkt und Auslöser seiner Entfremdung vom Nationalsozialismus, sie markiert den Beginn der späteren aktiven Gegnerschaft. Bereits Anfang März 1938, als er Hitler in Stuttgart "aus nächster Nähe" gegenüberstand, übte der Diktator keine Faszination mehr aus. Hans Scholl sah nur noch dessen "schemenhaftes Gesicht". Zwei Wochen später wandte er sich, angewidert von der Massenbegeisterung zum Einmarsch Hitlers in Österreich, ab. In dieser Zeit orientierte er sich neu. Er schrieb religiöse Gedichte, die Ausdruck einer "Sehnsucht nach dem Lichte", nach Christus sind. Theologisch-philosophische Studien intensivierten die freiheitliche Gesinnung, die Scholl bei seinen protestantisch-liberalen Eltern erlebt hatte. Und durchlittene Kriegsgräuel und intellektuelle Diskurse bekräftigten ihn in seiner Widerstandshaltung. Doch die Ursache seines Freiheitskampfes liegt in jenen traumatischen Ereignissen 1937/38.

Scholl hat seine innigen Gedichte und engagierte Prosa nicht als Poet verfasst, sondern vorrangig zur Krisenbewältigung. Die Texte sind Ausdruck seiner Persönlichkeit und deshalb biografisch zu verstehen. Verse, Prosa und Briefe zeigen eine Orientierungssuche, das tiefe Verlangen nach Ganzheit und seine Sehnsucht nach Gott.

Scholls Religiosität ist - ganz im Sinne Schleiermachers - implizit allumfassend. Aber darüber hinaus thematisieren mehrere Poeme die christliche Frömmigkeit explizit. Solch ein Gedicht ist "Thronender romanischer Christus", das er auf "Ostermontag 1938" datierte. Darin lässt er Motive des "Hohenlieds der Liebe" aus dem Ersten Korintherbrief anklingen. Und ihn inspirierte, wie der Titel sagt, eine Christusdarstellung der Romanik. In seinen Worten an die Erschaffer des Bildes oder der Skulptur reflektierte er zugleich sein eigenes Gottesbild: Ihr wolltet Gott nicht bilden, nicht formen - noch nicht. Denn jedes Bild, das ihr von ihm gemacht, es wäre nur aus eurem Wesen ein Abbild - ein Gesicht. Und eure Welt und eure Wünsche und Träume, die wolltet ihr nicht mehr jetzt sehn als Gott. Denn stummes, formenloses Ahnen durchbebte euch von einem unergründlich Großen, von einem Herzog, einem Helden hoch über allem Erdentand und allem Tod. Da schufet ihr dies stumme Haupt, leer an gewollten Zügen, nicht Trauer, Leid, nicht Herrlichkeit und Sieg uns spricht, denn Gott war noch zu fern, zu fremd für euch - Ihr schluget ihn aus altem Reim (der Welt der alten Götter), ihr grubet ihm nur Größe ein, das Hehre, Überweltige des Geist's und einen Blick, der leer - nein ungeschöpft - noch nicht erkannt von tiefen, ungesehnen Wundern - schwer -. Ihr spürtet schon das Riesige - noch euer Brand im Innern glomm - still rufend saht ihr noch wie Kinder sehn, die alles nur erahnen, nicht kennen klare Bahnen. Ihr wusstet nur: Er ist der Ewige - das große Ferne. Er war euch noch so weit - da formtet ihr nicht euer so mannigliches Sinnenspiel mit seinen Maßen, nicht euer Menschentrugbild war euch Maß es anzulegen. Gott. Ihr formtet nur ein stummes Bild, gleich einem See auf dessen Grund ihr nie geschaut, von dem ihr kanntet nur, dass er sehr tief. Gott war euch wie das Blinken von Sternen. So groß - so weit und ungeklärt. Und wie das Singen von Sturmesheeren - eintönig schwer und grausig grau - Ihr prieset seine Wunder - und seine Macht - die Liebe zu Ihm war euch noch verwehrt. Ostermontag 1938

Größe, Weite und Ungeklärtheit des göttlichen Sternenblinkens können als Metaphern dafür verstanden werden, dass Scholl Jesus folgen wollte, der sein Leitbild und Leitstern war. Die Künstler des "romanischen Christus" mieden eine Spiegelung, ein "Abbild" ihrer selbst, eigener "Wünsche und Träume": Da schufet ihr dies stumme Haupt, leer an gewollten Zügen.

Schweigend ist Gott Geheimnis, projektionsleer, unfassbar. Weil dieses Gottesbild sich alten Begriffen wie "Trauer" und "Leid", "Herrlichkeit" und "Sieg" entzieht, schien es Scholl "zu fern, [...] zu fremd". Doch er brannte darauf, Gott näherzukommen. Nur unklar, einem Kinde ähnlich, spürte er "das Riesige". Paulus, der wie kein anderer die Theologie des Christentums geprägt hat, hielt das Reden von Gott - gemessen an seiner Größe - für "Flickwerk", der Erkenntnisgewinn bleibe "kindlich". Hans Scholl nahm diesen Gedanken auf: Still rufend saht ihr noch wie Kinder sehn, die alles nur erahnen.

Um einem "Menschentrugbild" zu entgehen, gestalteten die Künstler des "romanischen Christus" [...] nur ein stummes Bild, gleich einem See auf dessen Grund ihr nie geschaut. Gott bleibt "so groß - so weit und ungeklärt [...] wie das Blinken von Sternen." Für Paulus ist das Reden über Gott nahezu aussichtslos, es gleiche dem dunklen Bild eines blinden Spiegels. Scholl schloss: Ihr prieset seine Wunder - und seine Macht - die Liebe zu Ihm war euch noch verwehrt. Vor dem Ostergeschehen war es nicht möglich, Gott zu lieben. Mit der Auferstehung beginnt Neues. Es ist die Liebe, größer als alles, die bleibt. Allein die Liebe spricht angemessen von Gott.

Warum hat Inge Aicher-Scholl die in Sütterlin verfassten Gedichte nicht wie viele andere Texte transkribiert und veröffentlicht? Vermutlich, weil ihr deren unmittelbarer Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren gegen ihren Bruder wegen Homosexualität klar war. Da sie aber diese schwerwiegenden Anklagepunkte zeitlebens verschwieg, hätte sie bei einer Publizierung der Poeme erklären müssen, was ihren Bruder in solche Seelennöte trieb, dass er tiefgründige religiöse Gedichte verfasste. Völlig zurecht beschrieb sie ihre Geschwister als Vorbilder. 1952 aber - und noch viele weitere Jahrzehnte danach - konnte ein Schwuler nach allgemeiner Meinung kein Vorbild sein.

Aicher-Scholl ließ sich am 22. Februar 1945 - dem zweiten Jahrestag der Ermordung von Hans und Sophie - erneut taufen, dieses Mal nach römisch-katholischem Ritus. Sie blieb mit der Konversion allein in der Familie. Auf dem Weg zum Übertritt begleiteten sie maßgeblich die katholischen Publizisten Karl Muth und Theodor Haecker. Und es war Aicher-Scholls Herzensanliegen, die Glaubensintensivierung ihres Bruders gleichfalls auf jene zurückzuführen. Hans Scholl aber war beiden erst im Spätherbst 1941 begegnet.

Als Scholl 1933 konfirmiert wurde, bekam er einen Bibelvers mit gegeben, der seinem Wesen entsprach: "Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich in Ehren an" (Psalm 73). Das "Dennoch" ermutigt, nicht aufzugeben, sondern gerade in Widrigkeiten Gott zu vertrauen. Und Hans Scholl konnte das an ein Goethewort erinnern, das in der Familie eine Art Codewort war: "Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten." Das biblische "Dennoch" und Goethes "Trutz" zeugen von Selbstbehauptungskraft, Standfestigkeit und Widersetzlichkeit gerade gegenüber Mächtigen.

In seinem Russlandtagebuch notierte er angesichts der Kriegsgräuel und Todesqualen und da alles "Weinen sinnlos" sei, man könne auf den Gedanken kommen, sich den Schädel einzurennen. Er mache das aber "trotz allem - dennoch" nicht, weil er Christi Vorbild, sein Leben und seinen Tod, vor Augen habe.

Der christliche Glaube war für Scholl nicht primär Trost und in keiner Weise Vertröstung, sondern die entscheidende Kraft seines widerständigen Freiheitskampfes. Besonders für die evangelischen Kirchen sind Scholls Leben und Sterben Anklage und Auftrag, denn er lebte die "Freiheit eines Christenmenschen" (Luther) und starb für den "wesentlichen Inhalt" der Reformation, die Selbstbestimmung des Menschen in Freiheit (Hegel). Rund 150 Schulen sind nach den Geschwistern Scholl benannt, aber nur eine evangelische Gemeinde, in Schwäbisch Hall, trägt den Namen Sophie Scholls. Und es fehlt eine Kirche, die den Namen des protestantischen Märtyrers und Vorbildes Hans Scholl trägt.

Literatur

Robert M. Zoske: Sehnsucht nach dem Lichte - Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe und Texte. Herbert Utz Verlag, München 2014, 830 Seiten, Euro 59,-

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