Viel Lärm um nichts

Es ist Sonntag, 21:45 Uhr - Guten Abend und herzlich willkommen, hier live aus dem Gasometer in Berlin. – "Das Alte Testament kann für Christen nicht dieselbe Verbindlichkeit beanspruchen wie das Neue!" Dies hat der Berliner Theologe Notger Slenczka mehrfach behauptet. Über seine Thesen ist ein Wissenschaftlerstreit entbrannt, in dem sich die Kontrahenten nichts schenken. In unserer Sendung stellt sich Slenczka der Kritik und diskutiert mit diesen Gästen: Christoph Markschies, renommierter Kirchenhistoriker an der Humboldt-Universität hier in Berlin; für ihn ist das Alte Testament in gleicher Weise wie das Neue Quelle und Norm der evangelischen Theologie. Friedrich Wilhelm Graf, deutschlandweit bekannter Münchener Emeritus; er hält Slenczkas Forderung für eigensinnige Konsequenzmacherei, die akademisch nicht ernst genommen werden kann. Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler aus Frankfurt am Main; er versteht eine christliche Absage an das Alte Testament als eine Aussage gegen das Judentum und erkennt bei Slenczka Parallelen zur Theologie im Nationalsozialismus. Und: Notger Slenczka selbst; er findet seine These gar nicht so aufregend. Sie bringe doch nur auf den Punkt, wie wir mit den Texten des Alten Testaments im kirchlichen Gebrauch faktisch umgehen."
Diese Szene ist selbstverständlich fiktiv. Sie dürfte auch utopisch sein. Denn dass es die "Slenczka-Debatte" in die sonntägliche Talksendung von Günter Jauch schafft, ist nicht zu erwarten. Es ist allerdings erstaunlich, was für ein großes publizistisches Echo der Streit gefunden hat. Dass protestantische Theologenkontroversen in maßgeblichen Leitmedien dieses Landes beachtet werden, ist normalerweise alles andere als selbstverständlich. Auf die evangelische Theologie könnte sich diese öffentliche Aufmerksamkeit durchaus positiv auswirken – wenn die Debatte sachlich und fair geführt würde. Dies ist bisher leider nicht der Fall. Der Journalist Reinhard Bingener hat am 21. April in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf verwiesen, dass mit der Eskalation des Konflikts an der Berliner Theologischen Fakultät auch ältere Rechnungen beglichen werden sollen. Und Ulrich Körtner, der Wiener Systematiker, hat es in der österreichischen Wochenzeitung "Die Furche" als "skandalös"bezeichnet, dass Slenczka des Antijudaismus bezichtigt wird.
Es wird Zeit, die Debatte zu versachlichen und den diskussionswürdigen Sachgehalt der Streitfrage von fakultätsinternen Konflikten in Berlin zu trennen: An der von Slenczka formulierten Position ist vor allem die Verortung im breiten Spektrum der Auffassungen zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament von Bedeutung. In einer von fünf Berliner Theologieprofessoren unterzeichneten Erklärung distanzieren sich diese von Slenczkas Äußerungen zum Alten Testament. Ihr Votum schließt mit der Formulierung, das Alte Testament sei und bleibe "in gleicher Weise wie das Neue Quelle und Norm der evangelischen Theologie".
Schon ein grober Blick in die Theologiegeschichte zeigt, dass eine solche Auffassung nie ernsthaft vertreten worden ist. Zumindest in der neueren evangelischen Theologiegeschichte des deutschsprachigen Raumes lässt sich problemlos zeigen: Ein wichtiges Thema der theologischen Reflexion ist es stets, das Verhältnis zwischen der neutestamentlich bezeugten Christusoffenbarung und dem alttestamentlich bezeugten Glauben Israels zu klären. Den Ausgangspunkt bildet dabei regelmäßig die Einsicht, dass Altes und Neues Testament gerade nicht "in gleicher Weise" als Grundlage evangelisch-christlichen Glaubensdenkens gelten können – aber dennoch zusammengehalten werden müssen.
Diese Einsicht führt zu zwei Folgeproblemen. Erstens ist zu klären, wie die Ungleichheit der beiden zusammenzuhaltenden Größen beschrieben werden kann. Hier hat Gerhard Ebeling (1912–2001), der führende Vertreter der Hermeneutischen Theologie im 20. Jahrhundert, ein eingängiges Angebot formuliert: Im Blick auf das Alte Testament möchte er von einer vorläufigen Verkündigung des Wortes Gottes reden, während das Neue Testament die endgültige Verkündigung des Wortes Gottes darstelle. Diese Verhältnisbestimmung vorläufig-endgültig ist allerdings nicht rein beschreibend. Sie impliziert vielmehr schon eine unterschiedliche Wertung der Kanonteile. Damit ist bereits das zweite Folgeproblem berührt: Es muss geklärt werden, was aus der beschriebenen Ungleichheit für die Beurteilung der jeweiligen theologischen Normativität von Altem und Neuem Testament folgt. Die Antwort des früheren Erlanger Systematikers Wilfried Joest (1914–1995) lautet: Die (neutestamentlich greifbare) "Selbstbekundung Gottes in Jesus Christus" ist "der Maßstab"für die Beurteilung der im Alten Testament überlieferten Glaubenserfahrungen. Anders formuliert: Die Kanonizität des Alten Testaments ist gegenüber der des Neuen sekundär. Diese Feststellung ist gar nicht weit entfernt von Slenczkas Forderung, die theologische Normativität der Glaubenszeugnisse Israels für die evangelische Theologie auf den Rang der alttestamentlichen Apokryphen zurückzustufen.
Dass die Kanonizität des Alten Testaments im von Joest profilierten Sinne anders zu bestimmen ist als die des Neuen, kann als ein weitgehender Konsens in der systematisch-theologischen Bibelhermeneutik des neueren deutschsprachigen Protestantismus gelten. Die Unumgänglichkeit einer solchen Differenzierung ergibt sich bereits aus der Integration der historischen Kritik in die evangelische Theologie. Die historisch-kritische Forschung, deren Kultivierung zum wissenschaftlichen Markenkern des modernen Protestantismus gehört, hat nicht nur die Vielstimmigkeit innerhalb beider Kanonteile herausgearbeitet. Sie hat auch den Sinn dafür geschärft, dass es sich bei den Texten des Alten Testaments, ungeachtet ihrer christlichen Rezeption, um Dokumente der vor- beziehungsweise außerchristlichen Religionsgeschichte handelt. Auf die Ebene der systematisch-theologischen Reflexion übersetzt heißt das: "Für das heutige Christentum ist der Glaube des jüdischen Volkes an seine göttlicher Erwählung kein eigener Glaubensartikel" (so der Göttinger Systematiker Dietz Lange). Deshalb ist es in der Tat so, dass Versuche "einer verkrampften und erschlichenen Harmonisierung" der zwei Kanonteile "dem Wahrheitsempfinden" schaden können (Gerhard Ebeling). Anders formuliert: Wer die theologische Priorität des Neuen Testaments bestreitet, steht in der Gefahr, das Proprium des Christentums zu verfehlen.
Gelegentlich wird aus dieser Verhältnisbestimmung auch eine explizite Problematisierung der Kanonizität des Alten Testaments abgeleitet. Falk Wagner (1939– 1998), ein scharfsinniger Außenseiter der evangelischen Theologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, hat das Festhalten an der kanonischen Geltung des Alten Testaments deshalb als problematisch betrachtet, weil auf diese Weise das spezifisch Neue und Eigentümliche des christlichen Grundgedankens eher verstellt als erhellt wird.
Hier zeigt sich: Die religionsgeschichtlich informierte Differenzierung zwischen Altem und Neuem Testament kann dazu führen, dass die – von Ebeling, Joest und Lange festgehaltene – Notwendigkeit eines Zusammenhaltens der Kanonteile bestritten wird. Was diese Bestreitung bedeutet, wird dabei allerdings nicht immer klar. Eine ‚Abschaffung‘ des Alten Testaments hat Wagner jedenfalls genauso wenig gefordert wie Slenczka. Gerade letzterer hat immer wieder betont, dass es "nie eine Bibel geben wird und geben darf, die nicht das Corpus der AT-lichen Schriften enthält".
Wir stehen also vor einem eher schlichten Befund: Was Slenczka als Bestreitung der Kanonizität des Alten Testaments verkauft, ist, nüchtern betrachtet, nichts anderes als die besonders nachdrückliche Betonung der von ihm – mit dem Gros der systematisch-theologischen Fachkollegen – behaupteten Differenz zwischen beiden Kanonteilen. Der Nachdruck ist dabei einer wichtigen Einsicht geschuldet: Angesichts der Verortung der alttestamentlichen Texte in der vor- beziehungsweise außerchristlichen Religionsgeschichte folgt aus dem zwischen den Kanonteilen unbestreitbar bestehenden historischen Zusammenhang nicht (mehr) automatisch eine normative Äquivalenz für die zeitgenössische christliche Theologie.
Soweit mein Versuch, Slenczkas Position auf ihren Sachgehalt hin abzuklopfen. Anfügen möchte ich noch zwei kritische Rückfragen an seine Auffassung sowie eine weiterführende Bemerkung in interdisziplinärer Perspektive. Mein erster Kritikpunkt betrifft die Weise, in der Slenczka das Alte Testament – oder jedenfalls Teile davon – charakterisiert hat. Hier ist insbesondere der von ihm im Aufsatz im Marburger Jahrbuch verwendete Begriff der partikularen Stammesreligion von Bedeutung. Ein solcher Wortgebrauch weckt nicht nur nachvollziehbare Aversionen, sondern er konterkariert zugleich Slenczkas eigene Intention, das Judentum als eine Religion eigenen Rechts wahrzunehmen.
Die zweite Anfrage bezieht sich auf den Kanonbegriff. Dass Slenczkas Absage an die normative Äquivalenz beider Testamente als Versuch einer "Abschaffung" des Alten Testaments (miss)verstanden werden konnte, liegt auch an Unklarheiten in seinen Texten. So bezeichnet er einerseits das als kanonisch, worin die Kirche das Evangelium von Jesus Christus hört. Dann aber ist nicht plausibel, warum sich seine Kanonizitätskritik auf das Alte Testament beschränkt. Um es mit Friedrich Wilhelm Graf zu sagen: Slenczka erklärt nicht, warum der Christ "bei so furchtbaren neutestamentlichen Texten wie der gewaltreichen Johannesapokalypse keine Gefühle von ‚Fremdheit‘ empfindet". Diese Kritik trifft auch alle anderen theologischen Positionen, in denen die Kanonizitätsfrage auf das Verhältnis der beiden Testamente eingeschränkt wird. Zugleich macht Slenczka Kanonizität auch daran fest, dass Texte dem Literalsinn nach Christus bezeugen. Dann aber müsste auch die Aufnahme des Alten Testaments in gedruckte Bibelaus aben und der Gebrauch seiner Texte im kirchlichen Leben problematisiert werden. Aus all dem folgt: Eine (auch unter Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher Debatten zu vollziehende) Präzisierung dessen, was "Kanon" in der gegenwärtigen evangelischen Theologie genau bedeuten kann, ist eine wichtige Aufgabe zukünftigen theologischen Nachdenkens.
Zudem, und damit komme ich zur weiterführenden Bemerkung, gibt es gegen den oben behaupteten weitgehenden Konsens in der Systematischen Theologie zur unterschiedlichen Wertung der Kanonteile auch Widerspruch. Der Bielefelder Alttestamentler Frank Crüsemann hat der traditionellen Verhältnisbestimmung der Testamente in der christlichen Theologie Schriftvergessenheit und dogmatische Voreingenommenheit unterstellt. Dagegen arbeitet er sehr klar heraus: Weil das Neue Testament ohne das Alte unverständlich und unvollständig ist, hat das Alte Testament als "Wahrheitsraum" des Neuen zu gelten. Dazu ist zu sagen: Die historisch richtige Feststellung, das Alte Testament sei der Wahrheitsraum des Neuen, bedeutet keineswegs zwingend, dass das Christentum bleibend in den Wahrheitsraum seiner historischen Ursprünge eingespannt bleiben muss. Sicher: Der Ausstieg aus dem Wahrheitsraum der Anfänge hat sich in der Christentumsgeschichte vielfach mit einer Abwertung des Judentums verbunden. Für den historisch arbeitenden Exegeten mag sich angesichts dessen die Forderung nahelegen, das Alte Testament müsse für den "christlichen Glauben denselben theologischen Rang haben, den es im Neuen Testament hat" (Crüsemann).
Slenczka hat dagegen aus systematisch theologischer Perspektive den Versuch gemacht, an der traditionellen Normativitäts-differenz festzuhalten, dies aber so, dass sie eng mit dem Respekt gegenüber der Eigenständigkeit des Judentums verbunden wird. Beide Positionen haben Stärken und Schwächen. Für die Zukunft ist zu hoffen, dass dieser theologische Diskurs in einer der Bedeutung des Themas angemessenen Weise geführt werden kann.
Rochus Leonhardt
Rochus Leonhardt
Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Universität seiner Geburtsstadt Leipzig Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik.