Differenz tut Not

Systematische Erwägungen über das Alte Testament
Wirft das Neue Testament ein ganz neues Licht auf das Alte? Foto: epd/ Jens Schulze
Wirft das Neue Testament ein ganz neues Licht auf das Alte? Foto: epd/ Jens Schulze
Das Alte Testament verbindet Judentum und Christentum, aber beide Religionen verstehen es sehr unterschiedlich. Gerade um diese Differenz zu achten, sei es nötig, über den Status des Alten Testaments im christlichen Kanon nachzudenken, meint Notger Slenczka, Professor für Systematische Theologie in Berlin. Er schlägt vor, im Respekt vor dem Selbstverständnis des Judentums das Alte Testament als ein Zeugnis des vorchristlichen Gottesverhältnisses zu fassen – mit allen Konsequenzen.

Dass um eine theologische Frage ein Streit ausbricht, der öffentliches Interesse bis in überregionale Tageszei-tungen hinein erregt, ist ungewöhnlich. Das öffentliche Interesse hängt daran, dass sich der Streit um das Alte Testa-ment (AT) dreht und damit um den Text, der das Christentum mit dem Juden-tum verbindet, aber gerade darum auch, wie die Geschichte lehrt, trennt: Nichts trennt so nachhaltig wie eine (auf den ersten Blick) unvereinbar differente Deu-tung eines gemeinsamen Textes. Wenn dann noch in den ersten Ab-schnitten des Aufsatzes, der zum Stein des Anstoßes geworden ist, eine "Provo-kation“ angekündigt ist – ausdrücklich im wörtlichen Sinne des Herausrufens zur Diskussion aus scheinbaren Selbst-verständlichkeiten – und die Darstellung der ohnehin verdächtigen Positionen Schleiermachers, Harnacks und Bult-manns zum AT mit der Frage begleitet wird, ob der gegenwärtige kirchliche Umgang mit dem AT nicht diesen Posi-tionen faktisch – wenn auch mit anderer Begründung – Recht gibt: Dann feiern die Simplifizierer ein Fest. Angeblich will hier jemand das AT "abschaffen“, will es "verbannen“, will es im Gottes-dienst nicht mehr gelesen haben, hebt die Grundlagen des christlichen Glaubens auf, befindet sich in "ganz, ganz übler Gesellschaft“ und vertritt eine Position, die "zuletzt Nazi-Theologen vertreten haben“ – so ein Fakultätskollege. Dass auch der denkbar unverdächtige Rudolf Bultmann praktisch dieselbe Posi-tion wie der inkriminierte Aufsatz vertre-ten hat, fällt dem großflächig geführten Hobel zum Opfer – was eigentümlich ist, weil ich die Position Bultmanns in meinem Text ausführlich referiert habe. Spätestens damit ist deutlich: Hier wird über einen Text der Stab gebrochen, den manche der Ketzerrichter nicht gelesen haben. Ein für alle Mal: Niemand verlangt in dieser laufenden Auseinandersetzung, dass das Alte Testament aus dem Kanon verbannt werden solle. Niemand spricht sich dafür aus, das AT "abzuschaffen“. Und niemand fordert, dass das Alte Testament nicht mehr im Gottesdienst gelesen und dass nicht mehr über dassel-be gepredigt wird – jedenfalls ich nicht. Das alles ist leerlaufende Empörung. Und wer mir – wie geschehen – vorhält, dass der Psalter doch tröstliche und auf Beerdigungen allgemein rezipierte Verse enthält, der sollte, wenn schon nicht meinem Text, so doch Harnack die Ehre der Lektüre antun. Neue Entwicklungen Weder hat sich Harnack Markion angeschlossen, noch habe ich mich Mar-kion oder auch nur einfach Harnack an-geschlossen, sondern ich habe gefragt, ob sich nicht in den gegenwärtigen pro-testantischen Kirchen faktisch die Positi-on Harnacks und Schleiermachers – mit anderer Begründung! – durchgesetzt hat. Ich habe in der Tat, wie Harnack, die Frage gestellt, ob – unter anderem an-gesichts der neueren Entwicklungen des christlich-jüdischen Dialogs – das Alte Testament in derselben Weise "kano-nischen Rang“ haben kann wie das Neue. Das (und das von einem Kollegen einge-führte Kunstwort "Dekanonisierung“) hat offensichtlich zu dem Missverständ-nis beigetragen, dass ich das Alte Testa-ment "aus dem Bibelkanon verbannen“ wolle – was ich aber ausdrücklich ausge-schlossen habe. Auch meine Aufnahme der Wendung Harnacks, dass das Alte Testament den Apokryphen "gleichzu-stellen“ sei, hat offenbar dies Missver-ständnis begünstigt. Es kann nicht um die Frage gehen, ob das Alte Testament Teil des Bibelkanons ist, sondern darum, welchen normativen Rang genau das Alte Testament im "Bibelkanon“ hat. Und nicht ob, sondern warum und in welchem Sinne es in der Kirche gelesen und ge-predigt wird, darüber kann man und, so scheint mir, muss man streiten.

Dass das eine sinnvolle Streitfrage ist, ist allerdings bestritten worden; man­chem kommt sie vor wie ein Streit um die Frage, ob die Erde eine Scheibe sei. Ich will das von mir gesehene Problem hier nicht abstrakt darstellen, sondern – auch nur einen Aspekt desselben – an einem Beispiel aufzeigen: Am Sonntag Rogate ist in der gegenwärtig gültigen wie in der gerade in der Erprobungsphase befind­lichen erneuerten Perikopenordnung von 2014 als alttestamentliche Lesung (alte Predigtreihe VI) Exodus 32,7-14 vorgesehen: Die Fürbitte des Mose für das Volk, das Gott für den Skandal der orgiastischen Verehrung des Goldenen Kalbs bestrafen will; und auf diese Für­bitte hin "gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“ Das ist ein höchst kunstvoller, wunderbarer Text, dessen Endgestalt unstrittig deu­teronomistische Anliegen und eine be­stimmte Deutung der Gestalt des Mose widerspiegelt.

Wer darüber predigen will, gerät in Schwierigkeiten. Ich halte Bultmanns Feststellung für zutreffend, dass der Zugang zu einem biblischen Text (min­destens) zweifach ist: Zum einen kann dieser Text als Stadium der Religions-und Geistesgeschichte verstanden und eingeordnet werden, das heißt: im Blick auf seine Entstehung und seine Wir­kungsgeschichte, darunter seine christ­liche Rezeption, analysiert werden. Auf der anderen Seite aber zielt ein Text im Gebrauch der Kirche auf das Selbstver­ständnis der gegenwärtigen Gemeinde, erschließt die Hörer sich selbst und gibt ihnen einen Anstoß, der das bestehende Selbstverständnis entweder zur Sprache und "auf den Begriff“ bringt, oder neu­formiert. Dieser Funktion der biblischen Texte für das Selbstverständnis dient eigentlich die Predigt. Allerdings hält Bultmann fest, dass diese Funktion des Textes weder am Ergebnis historischer Arbeit noch am Wahrnehmen des gegen­wärtigen Selbstverständnisses vorbei in Gang gesetzt werden kann: Ein Prediger muss das Angebot des Textes in beiden Richtungen verantworten. Diese kluge Zuordnung einer historischen und einer, wie Bultmann gelegentlich sagt, "echt geschichtlichen“ oder existenzerschlie­ßenden Weise des Umgangs mit den Tex­ten ist nicht an die Bultmannsche Termi­nologie gebunden und ist nach meinem Eindruck auch in der gegenwärtigen hermeneutischen und homiletischen Dis­kussion anschlussfähig.

Dass der in der bisherigen Perikopen­ordnung vorgesehene Text Exodus 32 für Israel und das gegenwärtige Judentum existenzerschließende Funktion haben kann, liegt nahe. Richtig ist auch, dass sich die heidenchristliche Kirche in diese Adressaten zunächst einmal nicht ein­rechnen kann – und damit stellt sich eben die Frage, wie und unter welchem Vor­zeichen dieser Text zur existenzerschlie­ßenden Anrede für die Gemeinschaft der Christusgläubigen wird.

Wer darüber predigen muss, wird an diesen Fragen nicht vorbeikommen. Ein Prediger oder eine Predigerin wird sich dann vielleicht durch die Einordnung dieses Textes in den Zusammenklang der anderen Perikopen des Sonntags leiten lassen, die eine Richtung des deutenden Umgangs mit diesem Text nahelegen: Es ist richtig, dass sich das Proprium des Sonntags im Zusammenklang aller Lesungen erschließt (Erneuerte Peri­kopenordnung [epo] 20f.), aber für die Gemeinde spricht der Predigttext im Zusammenhang der aktuell im jeweiligen Gottesdienst gelesenen Texte – und das ist oft genug ausschließlich die Evange­lienlesung (epo 15). In der bisherigen Perikopenordnung zum Sonntag Rogate ist der genannte alttestamentliche Text der Evangelienlesung Johannes 16,23-33 zugeordnet: der Zusage Jesu, dass die Christen Gott ohne Vermittlung anru­fen können: "Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb.“ (Johannes 16,26f.) Damit ergibt sich im Zusammenklang der Texte eine Antithe­tik: Dem Mittlerdienst des Mose für das Volk Israel steht die Gottunmittelbarkeit der Christenmenschen gegenüber, die in dasselbe direkte Verhältnis Gott gegen­über eintreten wie Mose.

Abgrenzung und Zustimmung

Die neue Perikopenordnung ändert den Evangelientext – was nach der Einlei­tung nur in begründeten Ausnahmefällen geschehen soll (epo 17; 20). Johannes 16 rückt unter die Predigttexte; zur Evange­lienlesung steigt Matthäus 6,7-14 auf – bisher Predigttext der V. Reihe: Die Gabe des Vaterunser, die auf Vers 14 und damit auf die Aufforderung zur Vergebung ab­zielt – die bisherige fakultative Auslas­sung dieses Verses ist nicht vorgesehen. Damit ist in zunächst sympathischer Weise und vermutlich beabsichtigt der Überbietungsanspruch, den der betont als Evangelienlesung platzierte Johan-nestext mit sich führt, zurückgeschraubt und das die alttestamentliche Lesung wie Matthäus 6 bestimmende Motiv der gött-lichen Vergebung ins Zentrum gestellt: In beiden Texten geht es um das Gebet, um Gottes Vergebung, das der neutestament-liche Text in die Aufforderung zur Verge-bung untereinander ummünzt. Wer über die alttestamentliche Perikope predigt, wird durch den Wechsel der Evangelien-lesung mit der Antithetik der alten Zu-sammenstellung nicht mehr konfrontiert – und die Gemeinde auch nicht. Damit lösen an diesem Ende die Revidierenden ihr kanonhermeneutisches Programm ein, das mit der Erhöhung des Anteils der alttestamentlichen Texte auf ein Drittel (zuvor "knapp 20 Prozent“) einhergeht, und das in einem Kapitel der Einleitung der revidierten Perikopenordnung erläu-tert wird. Dieses Kapitel bezieht sich abgren-zend und zustimmend auf die aktuelle kanonhermeneutische Diskussion: Die Abgrenzung richtet sich gegen Schlei-ermacher und meine Wenigkeit – und damit gegen die "vermeintliche Hö-herwertigkeit der im Neuen Testament dokumentierten Christusoffenbarung“ (epo 25). Zustimmung hingegen erfah-ren der US-amerikanische Theologe Brevard Childs und der Bielefelder Alt-testamentler Frank Crüsemann, dessen Programm so wiedergegeben wird: Er habe vom "Alten Testament als Wahr-heitsraum des Neuen“ gesprochen und damit die grundlegende Verankerung der Christusbotschaft des Neuen Testaments in der jüdischen Bibel [!] betont. Damit gehen auch Überlegungen einher, die jüdische Kontur des Neuen Testaments neu zu entdecken, die eine hermeneu-tische Antithetik von Altem und Neuem Testament historisch und hermeneutisch undenkbar […] macht […]“ (epo 24f). Mit der Ablehnung einer "vermeint-lichen Höherwertigkeit der Chris-tusoffenbarung“ und der Ablehnung einer "hermeneutischen Antithetik“ erschließen sich die Hintergründe der skizzierten Änderung der Lesung des Sonntags Rogate. Freilich ist mit dieser Zusammenfassung des Anliegens Crüse-manns der "neuen Sicht der christlichen Bibel“, die dieser im Untertitel seines Werkes verspricht, die Spitze abgebro-chen. Crüsemann schlägt nämlich vor, konsequent das Neue Testament unter der hermeneutischen Prämisse des nicht von der Person Jesu von Nazareth her verstandenen Alten Testaments zu lesen. Das widerspricht aber der These, die die Einleitung zum Perikopenentwurf auch formuliert (epo 27): dass "Christinnen und Christen das Alte Testament immer von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus herkommend und auf das Neu-werden dieser Offenbarung zugehend – und damit anders als Jüdinnen und Juden“ lesen. Crüsemann geht es darum, dass das Neue Testament unter der Prä-misse des Alten zu lesen ist, beziehungs-weise: dass es selbst in dieser normativen Vorordnung des Alten Testaments gele-sen werden will. Damit wird aber deutlich, dass in der Neuordnung der Perikopen und in der deutlichen Vermehrung der alttesta-mentlichen Texte ein hermeneutisches Problem aufbricht: Es ist eben nicht klar, was die Vermehrung der alttestament-lichen Texte und was die Zusammenord-nung der Texte zu den einzelnen Sonnta-gen bedeuten soll: Steht im Hintergrund ein Programm, nach dem der biblische Kanon zu den Bedingungen des Alten Testaments zu interpretieren ist, das nicht als Christusoffenbarung, sondern als Wort an Israel gelesen wird? Oder wird ein Programm vertreten, nach dem das Alte Testament von der "Begegnung mit Jesus von Nazareth“ her gelesen und seine Rede von Gott neubestimmt wird? Genau dies lehnt der positiv rezipierte Crüsemann in aller Deutlichkeit ab. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Berufung auf die Hermeneutik Frank Crüsemanns in der erneuerten Perikopen-ordnung zufällig und ohne genaue Lek-türe des Crüsemannschen Werkes erfolgt ist, und ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Umkehrung der traditionellen Leserichtung von Altem und Neuem Te-stament, die Crüsemann vorschlägt, ein Einzelfall ist: Ähnliche Wege gehen unter dem Vorzeichen der christlich-jüdischen Verständigung (beispielsweise!) Jürgen Ebach oder auch Erich Zenger und Rolf Rendtorff in der Kanonhermeneutik oder Berthold Klappert mit der christlichen Trinitätslehre. Diese Einhegung der, wie Schleiermacher in Paragraph 11 seiner Glaubenslehre formuliert, "durch Jesum von Nazareth vollbrachten Erlösung“

Dass um eine theologische Frage ein Streit ausbricht, der öffentliches Interesse bis in überregionale Tageszei-tungen hinein erregt, ist ungewöhnlich. Das öffentliche Interesse hängt daran, dass sich der Streit um das Alte Testa-ment (AT) dreht und damit um den Text, der das Christentum mit dem Juden-tum verbindet, aber gerade darum auch, wie die Geschichte lehrt, trennt: Nichts trennt so nachhaltig wie eine (auf den ersten Blick) unvereinbar differente Deu-tung eines gemeinsamen Textes. Wenn dann noch in den ersten Ab-schnitten des Aufsatzes, der zum Stein des Anstoßes geworden ist, eine "Provo-kation“ angekündigt ist – ausdrücklich im wörtlichen Sinne des Herausrufens zur Diskussion aus scheinbaren Selbst-verständlichkeiten – und die Darstellung der ohnehin verdächtigen Positionen Schleiermachers, Harnacks und Bult-manns zum AT mit der Frage begleitet wird, ob der gegenwärtige kirchliche Umgang mit dem AT nicht diesen Posi-tionen faktisch – wenn auch mit anderer Begründung – Recht gibt: Dann feiern die Simplifizierer ein Fest. Angeblich will hier jemand das AT "abschaffen“, will es "verbannen“, will es im Gottes-dienst nicht mehr gelesen haben, hebt die Grundlagen des christlichen Glaubens auf, befindet sich in "ganz, ganz übler Gesellschaft“ und vertritt eine Position, die "zuletzt Nazi-Theologen vertreten haben“ – so ein Fakultätskollege. Dass auch der denkbar unverdächtige Rudolf Bultmann praktisch dieselbe Posi-tion wie der inkriminierte Aufsatz vertre-ten hat, fällt dem großflächig geführten Hobel zum Opfer – was eigentümlich ist, weil ich die Position Bultmanns in meinem Text ausführlich referiert habe. Spätestens damit ist deutlich: Hier wird über einen Text der Stab gebrochen, den manche der Ketzerrichter nicht gelesen haben. Ein für alle Mal: Niemand verlangt in dieser laufenden Auseinandersetzung, dass das Alte Testament aus dem Kanon verbannt werden solle. Niemand spricht sich dafür aus, das AT "abzuschaffen“. Und niemand fordert, dass das Alte Testament nicht mehr im Gottesdienst gelesen und dass nicht mehr über dassel-be gepredigt wird – jedenfalls ich nicht. Das alles ist leerlaufende Empörung. Und wer mir – wie geschehen – vorhält, dass der Psalter doch tröstliche und auf Beerdigungen allgemein rezipierte Verse enthält, der sollte, wenn schon nicht meinem Text, so doch Harnack die Ehre der Lektüre antun. Neue Entwicklungen Weder hat sich Harnack Markion angeschlossen, noch habe ich mich Mar-kion oder auch nur einfach Harnack an-geschlossen, sondern ich habe gefragt, ob sich nicht in den gegenwärtigen pro-testantischen Kirchen faktisch die Positi-on Harnacks und Schleiermachers – mit anderer Begründung! – durchgesetzt hat. Ich habe in der Tat, wie Harnack, die Frage gestellt, ob – unter anderem an-gesichts der neueren Entwicklungen des christlich-jüdischen Dialogs – das Alte Testament in derselben Weise "kano-nischen Rang“ haben kann wie das Neue. Das (und das von einem Kollegen einge-führte Kunstwort "Dekanonisierung“) hat offensichtlich zu dem Missverständ-nis beigetragen, dass ich das Alte Testa-ment "aus dem Bibelkanon verbannen“ wolle – was ich aber ausdrücklich ausge-schlossen habe. Auch meine Aufnahme der Wendung Harnacks, dass das Alte Testament den Apokryphen "gleichzu-stellen“ sei, hat offenbar dies Missver-ständnis begünstigt. Es kann nicht um die Frage gehen, ob das Alte Testament Teil des Bibelkanons ist, sondern darum, welchen normativen Rang genau das Alte Testament im "Bibelkanon“ hat. Und nicht ob, sondern warum und in welchem Sinne es in der Kirche gelesen und ge-predigt wird, darüber kann man und, so scheint mir, muss man streiten.

Dass das eine sinnvolle Streitfrage ist, ist allerdings bestritten worden; man­chem kommt sie vor wie ein Streit um die Frage, ob die Erde eine Scheibe sei. Ich will das von mir gesehene Problem hier nicht abstrakt darstellen, sondern – auch nur einen Aspekt desselben – an einem Beispiel aufzeigen: Am Sonntag Rogate ist in der gegenwärtig gültigen wie in der gerade in der Erprobungsphase befind­lichen erneuerten Perikopenordnung von 2014 als alttestamentliche Lesung (alte Predigtreihe VI) Exodus 32,7-14 vorgesehen: Die Fürbitte des Mose für das Volk, das Gott für den Skandal der orgiastischen Verehrung des Goldenen Kalbs bestrafen will; und auf diese Für­bitte hin "gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“ Das ist ein höchst kunstvoller, wunderbarer Text, dessen Endgestalt unstrittig deu­teronomistische Anliegen und eine be­stimmte Deutung der Gestalt des Mose widerspiegelt.

Wer darüber predigen will, gerät in Schwierigkeiten. Ich halte Bultmanns Feststellung für zutreffend, dass der Zugang zu einem biblischen Text (min­destens) zweifach ist: Zum einen kann dieser Text als Stadium der Religions-und Geistesgeschichte verstanden und eingeordnet werden, das heißt: im Blick auf seine Entstehung und seine Wir­kungsgeschichte, darunter seine christ­liche Rezeption, analysiert werden. Auf der anderen Seite aber zielt ein Text im Gebrauch der Kirche auf das Selbstver­ständnis der gegenwärtigen Gemeinde, erschließt die Hörer sich selbst und gibt ihnen einen Anstoß, der das bestehende Selbstverständnis entweder zur Sprache und "auf den Begriff“ bringt, oder neu­formiert. Dieser Funktion der biblischen Texte für das Selbstverständnis dient eigentlich die Predigt. Allerdings hält Bultmann fest, dass diese Funktion des Textes weder am Ergebnis historischer Arbeit noch am Wahrnehmen des gegen­wärtigen Selbstverständnisses vorbei in Gang gesetzt werden kann: Ein Prediger muss das Angebot des Textes in beiden Richtungen verantworten. Diese kluge Zuordnung einer historischen und einer, wie Bultmann gelegentlich sagt, "echt geschichtlichen“ oder existenzerschlie­ßenden Weise des Umgangs mit den Tex­ten ist nicht an die Bultmannsche Termi­nologie gebunden und ist nach meinem Eindruck auch in der gegenwärtigen hermeneutischen und homiletischen Dis­kussion anschlussfähig.

Dass der in der bisherigen Perikopen­ordnung vorgesehene Text Exodus 32 für Israel und das gegenwärtige Judentum existenzerschließende Funktion haben kann, liegt nahe. Richtig ist auch, dass sich die heidenchristliche Kirche in diese Adressaten zunächst einmal nicht ein­rechnen kann – und damit stellt sich eben die Frage, wie und unter welchem Vor­zeichen dieser Text zur existenzerschlie­ßenden Anrede für die Gemeinschaft der Christusgläubigen wird.

Wer darüber predigen muss, wird an diesen Fragen nicht vorbeikommen. Ein Prediger oder eine Predigerin wird sich dann vielleicht durch die Einordnung dieses Textes in den Zusammenklang der anderen Perikopen des Sonntags leiten lassen, die eine Richtung des deutenden Umgangs mit diesem Text nahelegen: Es ist richtig, dass sich das Proprium des Sonntags im Zusammenklang aller Lesungen erschließt (Erneuerte Peri­kopenordnung [epo] 20f.), aber für die Gemeinde spricht der Predigttext im Zusammenhang der aktuell im jeweiligen Gottesdienst gelesenen Texte – und das ist oft genug ausschließlich die Evange­lienlesung (epo 15). In der bisherigen Perikopenordnung zum Sonntag Rogate ist der genannte alttestamentliche Text der Evangelienlesung Johannes 16,23-33 zugeordnet: der Zusage Jesu, dass die Christen Gott ohne Vermittlung anru­fen können: "Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb.“ (Johannes 16,26f.) Damit ergibt sich im Zusammenklang der Texte eine Antithe­tik: Dem Mittlerdienst des Mose für das Volk Israel steht die Gottunmittelbarkeit der Christenmenschen gegenüber, die in dasselbe direkte Verhältnis Gott gegen­über eintreten wie Mose.

Abgrenzung und Zustimmung

Die neue Perikopenordnung ändert den Evangelientext – was nach der Einlei­tung nur in begründeten Ausnahmefällen geschehen soll (epo 17; 20). Johannes 16 rückt unter die Predigttexte; zur Evange­lienlesung steigt Matthäus 6,7-14 auf – bisher Predigttext der V. Reihe: Die Gabe des Vaterunser, die auf Vers 14 und damit auf die Aufforderung zur Vergebung ab­zielt – die bisherige fakultative Auslas­sung dieses Verses ist nicht vorgesehen. Damit ist in zunächst sympathischer Weise und vermutlich beabsichtigt der Überbietungsanspruch, den der betont als Evangelienlesung platzierte Johan-nestext mit sich führt, zurückgeschraubt und das die alttestamentliche Lesung wie Matthäus 6 bestimmende Motiv der gött-lichen Vergebung ins Zentrum gestellt: In beiden Texten geht es um das Gebet, um Gottes Vergebung, das der neutestament-liche Text in die Aufforderung zur Verge-bung untereinander ummünzt. Wer über die alttestamentliche Perikope predigt, wird durch den Wechsel der Evangelien-lesung mit der Antithetik der alten Zu-sammenstellung nicht mehr konfrontiert – und die Gemeinde auch nicht. Damit lösen an diesem Ende die Revidierenden ihr kanonhermeneutisches Programm ein, das mit der Erhöhung des Anteils der alttestamentlichen Texte auf ein Drittel (zuvor "knapp 20 Prozent“) einhergeht, und das in einem Kapitel der Einleitung der revidierten Perikopenordnung erläu-tert wird. Dieses Kapitel bezieht sich abgren-zend und zustimmend auf die aktuelle kanonhermeneutische Diskussion: Die Abgrenzung richtet sich gegen Schlei-ermacher und meine Wenigkeit – und damit gegen die "vermeintliche Hö-herwertigkeit der im Neuen Testament dokumentierten Christusoffenbarung“ (epo 25). Zustimmung hingegen erfah-ren der US-amerikanische Theologe Brevard Childs und der Bielefelder Alt-testamentler Frank Crüsemann, dessen Programm so wiedergegeben wird: Er habe vom "Alten Testament als Wahr-heitsraum des Neuen“ gesprochen und damit die grundlegende Verankerung der Christusbotschaft des Neuen Testaments in der jüdischen Bibel [!] betont. Damit gehen auch Überlegungen einher, die jüdische Kontur des Neuen Testaments neu zu entdecken, die eine hermeneu-tische Antithetik von Altem und Neuem Testament historisch und hermeneutisch undenkbar […] macht […]“ (epo 24f). Mit der Ablehnung einer "vermeint-lichen Höherwertigkeit der Chris-tusoffenbarung“ und der Ablehnung einer "hermeneutischen Antithetik“ erschließen sich die Hintergründe der skizzierten Änderung der Lesung des Sonntags Rogate. Freilich ist mit dieser Zusammenfassung des Anliegens Crüse-manns der "neuen Sicht der christlichen Bibel“, die dieser im Untertitel seines Werkes verspricht, die Spitze abgebro-chen. Crüsemann schlägt nämlich vor, konsequent das Neue Testament unter der hermeneutischen Prämisse des nicht von der Person Jesu von Nazareth her verstandenen Alten Testaments zu lesen. Das widerspricht aber der These, die die Einleitung zum Perikopenentwurf auch formuliert (epo 27): dass "Christinnen und Christen das Alte Testament immer von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus herkommend und auf das Neu-werden dieser Offenbarung zugehend – und damit anders als Jüdinnen und Juden“ lesen. Crüsemann geht es darum, dass das Neue Testament unter der Prä-misse des Alten zu lesen ist, beziehungs-weise: dass es selbst in dieser normativen Vorordnung des Alten Testaments gele-sen werden will. Damit wird aber deutlich, dass in der Neuordnung der Perikopen und in der deutlichen Vermehrung der alttesta-mentlichen Texte ein hermeneutisches Problem aufbricht: Es ist eben nicht klar, was die Vermehrung der alttestament-lichen Texte und was die Zusammenord-nung der Texte zu den einzelnen Sonnta-gen bedeuten soll: Steht im Hintergrund ein Programm, nach dem der biblische Kanon zu den Bedingungen des Alten Testaments zu interpretieren ist, das nicht als Christusoffenbarung, sondern als Wort an Israel gelesen wird? Oder wird ein Programm vertreten, nach dem das Alte Testament von der "Begegnung mit Jesus von Nazareth“ her gelesen und seine Rede von Gott neubestimmt wird? Genau dies lehnt der positiv rezipierte Crüsemann in aller Deutlichkeit ab. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Berufung auf die Hermeneutik Frank Crüsemanns in der erneuerten Perikopen-ordnung zufällig und ohne genaue Lek-türe des Crüsemannschen Werkes erfolgt ist, und ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Umkehrung der traditionellen Leserichtung von Altem und Neuem Te-stament, die Crüsemann vorschlägt, ein Einzelfall ist: Ähnliche Wege gehen unter dem Vorzeichen der christlich-jüdischen Verständigung (beispielsweise!) Jürgen Ebach oder auch Erich Zenger und Rolf Rendtorff in der Kanonhermeneutik oder Berthold Klappert mit der christlichen Trinitätslehre. Diese Einhegung der, wie Schleiermacher in Paragraph 11 seiner Glaubenslehre formuliert, "durch Jesum von Nazareth vollbrachten Erlösung“

unter das Vorzeichen der nicht-christolo­gisch gelesenen Schriften des Alten Testa­ments ist zweifellos auch im Blick auf die exegetischen Begründungen ein diskussi­onswürdiger Vorschlag, aber eben in der Tat – so Crüsemann ausdrücklich – ein Bruch mit der traditionellen Verhältnis­bestimmung, der es verdient, eine "neue Sicht der christlichen Bibel“ genannt zu werden. Diese Debatten bei den Alt- und Neutestamentlern sind nach meinem Ein­druck in der Breite der Systematischen Theologie noch nicht angekommen. Hier liegt ein ernsthaftes und zu Recht strei­tiges, übrigens hochinteressantes histo­risches und systematisches Problem.

Ich meinerseits habe – auch ange­sichts solcher Neuorientierungen – vorgeschlagen, mit den Vertretern des christlich-jüdischen Dialogs und im Respekt vor dem Selbstverständnis des Judentums das Alte Testament als ein Zeugnis des vorchristlichen Gottesver­hältnisses zu fassen. Dann wäre meines Erachtens aber zweitens ernst damit zu machen, dass für Paulus, wie auch für die übrigen individuell benannten oder kol­lektiven neutestamentlichen Autoren, in der Begegnung mit Christus dieses Got­tesverhältnis radikal neubestimmt wird. In den Schriften des Neuen Testaments haben wir es, so scheint mir, nicht ein­fach mit der bestätigenden Aufnahme, sondern mit der radikal umwertenden Relektüre dieser vorchristlichen Texte zu tun, die alle Aussagen der Texte auf die Person Jesu von Nazareth konzentriert. In der Wirkungsgeschichte der neutesta­mentlichen Texte wird im Laufe der Jahr­hunderte dieser Impuls immer klarer in seiner Bedeutung für das vorchristliche Selbst-, Welt- und Gottesverständnis ausgearbeitet.

Leitend ist für mich dabei die "singu­läre Bedeutung des Christusereignisses“, auf die die Verfasser der Einleitung zur Erneuerten Perikopenordnung verweisen (epo 27) und die sie, so scheint mir, doch nicht recht in Ausgleich bringen können mit der positiven Rezeption des Crü­semannschen Programms. Wie gesagt: Das Alte Testament ist und bleibt Teil der christlichen Bibel. Mir geht es aber um die eindeutige Zuordnung des Alten und des Neuen Testaments: Das Alte Te­stament ist Zeugnis des vorchristlichen Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses und kann – sofern es als vorchristliches Dokument gelesen wird – nicht diesel­be kanonische Bedeutung haben wie die Texte des Neuen Testaments, in denen sich der grundlegende Wandel dieses Gottesverständnisses in der Begegnung mit Jesus Christus niederschlägt. Ge­nau darum geht es auch Schleiermacher, Harnack und Bultmann, und in diesem Sinne habe ich sie aufgenommen. Meine Position ist nicht sakrosankt, sie ist histo­risch-exegetisch strittig und vielleicht ein Irrtum – aber die Diskussion, in die sie sich einfügt, gehört zu den wichtigsten Fragen der gegenwärtigen Theologie.

Wenn die protestantischen Kirchen das Alte Testament aber als vorchrist­lichen Text lesen wollen, der die herme­neutische Prämisse des im Neuen Testa­ment bezeugten Glaubens an Christus darstellt, dann stellt sich allerdings die Frage, wie sich die Verbindlichkeit des so gelesenen Alten Testaments verträgt mit der These 1 der Barmer Theologischen Erklärung, nach der "Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, … das eine Wort Gottes ist, … dem wir – zu vertrauen … haben“, oder wie dies vereinbar ist mit Paragraph 11 der Glau­benslehre Schleiermachers. Und wer glaubt, dieser historisch wie systematisch komplexen Frage die These, das Alte Testament sei "in gleicher Weise wie das Neue Quelle und Norm der evange­lischen Theologie“ (Stellungnahme von fünf Berliner Fakultätskollegen vom 15. April 2015), entgegenhalten zu können, der hat das Problem nicht verstanden, vor dem wir stehen.

Notger Slenczka

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Foto: P. Brusowski

Notger Slenczka

Notger Slenzcka, geboren 1960, ist seit 2006 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Humboldt-Universität in Berlin.


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