Wachstum mit Sinn und Verstand

Warum das Leitbild einer Verzichtsökonomie in die Irre führt
Innovation zählt: Algen als Futter- oder Nahrungsmittel werden in der Altmark produziert. Foto: dpa/ Matthias Bein
Innovation zählt: Algen als Futter- oder Nahrungsmittel werden in der Altmark produziert. Foto: dpa/ Matthias Bein
Wirtschaftliches Wachstum ist kein Selbstzweck. Vielmehr kann es eingebettet in einen intelligenten Masterplan für mehr Lebensqualität, grünere Städte und geringere Armut weltweit sorgen. Mehrdad Payandeh, Leiter der Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, erläutert, wie Wachstum bei der Transformation der Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit beitragen kann.

Die jüngere Geschichte des modernen Kapitalismus ist eine Geschichte unzähliger Krisen. Mal sind es Währungskrisen, mal Ölkrisen, mal Finanz- oder Bankenkrisen. Aber am Ende steht immer eine Wirtschaftskrise: Das Wachstum bricht ein, Kapital wird vernichtet, Millionen Menschen verlieren ihre Jobs. Und dort, wo keine funktionierenden sozialen Sicherungssysteme existieren, breiten sich Armut, Hunger und längst ausgerottete Krankheiten aus. Doch damit nicht genug: Die Krisen werden immer heftiger, immer unberechenbarer. Die Konjunkturschwankungen nehmen zu, die Wechselkurse fahren Achterbahn. Nichts scheint stabil zu sein. Doch in einem Punkt verliert der Kapitalismus seine Beständigkeit nicht: Er braucht Wachstum um jeden Preis - häufig gepaart mit ungleicher Verteilung von Einkommen und Vermögen - als Voraussetzung für noch mehr Wachstum, versteht sich.

Doch das Ergebnis dieses ungerechten Wachstumsfetischismus ist verheerend. Immer mehr Menschen stellen die Frage nach dem Sinn von Wachstum: Wozu Wachstum, wenn dadurch unsere natürlichen Lebensgrundlagen bedroht werden und eine Umweltkatastrophe die nächste jagt? Wozu Wachstum, wenn sich für viele die Lebensqualität trotzdem verschlechtert und ein menschenwürdiges Leben für Klein und Groß, Jung und Alt bedroht ist? Wozu Leistungsbereitschaft, wenn der Lohn allzu oft keine angemessene Gegenleistung mehr darstellt?

Um politisch richtig zu handeln, müssen wir verstehen, was Wachstum ist, seine Mechanismen durchschauen. Wirtschaftswachstum ist die Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Zeitablauf. Das BIP wiederum ist die monetäre Erfassung der Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft, die Herstellung und Bereitstellung aller Waren und Dienstleistungen in einem Jahr. Steigt die Wirtschaftsleistung eines Landes, so produzieren die Menschen immer mehr. Die Produktivität steigt insgesamt, aber auch pro Kopf. Schrumpft auch noch die Bevölkerung, während das BIP steigt, zeichnet sich eine solche Volkswirtschaft durch eine hohe Produktivität aus. Und zieht man die Zahl der Erwerbslosen aus der Berechnung ab, wird die Wirtschaftsleistung der Beschäftigten noch größer.

Faktor Rohstoffpreise

Das allein lässt aber noch keine Aussage über die Mengen der produzierten Güter zu oder das Verhältnis der Waren und Dienstleistungen zueinander. Langfristige Beobachtungen zeigen jedoch die wachsende Bedeutung von Dienstleistungen für das BIP. Selbst ihr Anteil an der industriellen Wertschöpfung nimmt durch Digitalisierung und vernetztes Wirtschaften stark zu. Diese Erkenntnis ist wichtig für die Debatte um Sinn und Unsinn von Wachstum.

Die zweite zentrale Frage ergibt sich aus der Verteilung der wachsenden Wirtschaftsleistung zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Staat und Unternehmen. Je weniger Menschen genötigt werden, mit Zweit- oder Drittjobs über die Runde zu kommen, umso geringer wird der Wachstumsdruck. Bereits heute halten sich Milliarden weltweit und auch Millionen hierzulande unfreiwillig in den Niedriglohnkellern der Weltwirtschaft auf. Folglich müssen diese Menschen immer mehr arbeiten und immer mehr produzieren. Eine gerechte Entlohnung des Faktors Arbeit würde den Druck zur Mehrarbeit massiv reduzieren und zumindest den Wachstumsdruck mildern. Leute mit hohen Einkommen können sich Teilzeit leisten. Sie tragen weniger zur Wirtschaftsleistung bei, als sie hätten leisten können. Ein Beschäftigter im Niedriglohnsektor kann sich diesen Luxus nicht leisten.

Die dritte zentrale Frage dreht sich um Rohstoffpreise, vor allem für fossile Brennstoffe. Niedrige Preise verhindern einen effizienten und sparsamen Umgang mit Rohstoffen. Billige Rohstoffe und noch dazu billige Arbeiter ermöglichen billige Produktion zulasten von Umwelt und Mensch. Rein betriebswirtschaftlich betrachtet ergeben Investitionen in energiearme und Ressourcen schonende Produktionsanlagen keinen Sinn. Innovationen, wie moderne Umwelttechnologien oder industrielle Recyclingsysteme, rentieren sich nicht. Billiges, nicht nachhaltiges Wirtschaften verdrängt betriebswirtschaftlich teurere, aber nachhaltige Geschäftsmodelle. Doch damit nicht genug: Billige Rohstoffe bedeuten, dass die weltweiten Bestände schneller abgebaut werden. Das ist unverantwortlich gegenüber künftigen Generationen. Niemand weiß, was man in ferner Zukunft aus unseren endlichen Rohstoffen noch gewinnen könnte. Heute vergeuden wir das Erdöl hauptsächlich als Treibstoff, um uns fortzubewegen oder auf griechischen Inseln Strom zu erzeugen. Obwohl vielerorts unbegrenzt Sonne und Wind zur Stromerzeugung vorhanden sind. Verrückte Welt.

Wachstum ist kein Selbstzweck. Es ist auch nicht das Ziel von Wirtschaftspolitik, immer mehr Wachstum zu erzielen. Die Frage muss gestellt werden: Wieviel Waren und Dienstleistungen, öffentlich wie privat, brauchen wir, um die Weltgemeinschaft mit einer wachsenden Bevölkerung, gemessen an den Möglichkeiten und Standards des 21. Jahrhunderts, zu versorgen?

Die digitalisierte vernetzte Welt macht es noch offensichtlicher: Die Welt wächst enger zusammen, und die Bedürfnisse der Weltgemeinschaft verschieben sich. Schon lange geht es nicht mehr um eine plumpe Kopie von Kultur und Konsumverhalten entwickelter Länder durch aufstrebende Ökonomien. Sicher schwappen gewisse Trends über, aber das passiert auch zwischen entwickelten Ländern. Und da haben sich auch alternative Konzepte gegen grenzenlosen Konsum entwickelt, mit deren Hilfe wir globale Probleme besser lösen können. Die althergebrachten konventionellen Wegweiser verlieren zusehends ihre Legitimation, ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Weltweit.

Das sind gute Voraussetzungen für eine Reorganisation des Wirtschaftens und ein Umdenken. Was brauchen Mensch und Umwelt, und wie lässt sich das am besten herstellen? Die elementaren individuellen Bedürfnisse sind ausreichende, gute und ausgewogene Ernährung, das kostbare Gut Wasser und saubere Luft. Hinzu kommen Zugang zu Wohnraum, medizinischer Versorgung, gleichwertiger Bildungschancen, Mobilität, Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Reichtum. Und natürlich Konsumgüter wie Haushaltsgeräte, Autos, Möbel, Smartphones et cetera.

Das muss nicht automatisch mit wenig Wachstum, einer Verzichtsökonomie oder gar einer Schrumpfung unserer Wirtschaftsleistung einhergehen und unsere Umwelt belasten. Ganz im Gegenteil: Viele Dienstleistungen wie Bildung, medizinische Versorgung und Kulturangebote sorgen für Wachstum und Arbeitsplätze, ohne unsere natürliche Lebensgrundlage zu ruinieren. Auch Mobilität, individuelle wie kollektive, kann intelligent organisiert und gefördert werden und zu einer Win-Win-Situation für Menschen, Wirtschaft und Umwelt führen. Wir können schon heute ressourcenschonend, energiearm und kreisläufig wirtschaften. Wir verfügen schon heute über das Knowhow, unsere verstopften Millionenmetropolen zu entflechten. Wir können unsere Städte und Gemeinden als altersgerechte und grüne Erholungsstätten reorganisieren und zugleich aus ihnen die Wissens- und Technologiezentren der Zukunft zu machen. Wir verfügen über das medizinische Wissen, um viele Krankheiten zu heilen. Allein, es fehlt der Masterplan. Denn an diesem Punkt scheiden sich die Geister.

Smarte Konzepte

Die einen wollen nichts unternehmen, weil sie in einem politisch forcierten Masterplan einen Angriff auf die Marktkräfte und die individuellen Freiheiten sehen - eine Bevormundung des mündigen (Welt-)Bürgers. Der Staat solle sich fernhalten, die Marktgesetze würden schon für Ordnung und Wohlstand sorgen, wenn man sie nur walten ließe. Der freie Markt werde auch rechtzeitig Wege aufzeigen, um Umweltprobleme marktkonform zu lösen. Die anderen stellen die Frage nach einem Masterplan aber auch nicht. Wir müssen, so das Hauptargument, das Ziel eines hohen Lebensstandards, unseren Konsum- und Wachstumsfetischismus aufgeben und unsere Wirtschaftsleistung zurückfahren. Die Frage nach einer Versorgung der Weltgemeinschaft wird erst gar nicht gestellt. Vielmehr fokussiert sich diese Debatte auf die entwickelten Industrieländer und deren Produktions- und Konsumverhalten. Die auch dort wachsende soziale Ungleichheit, bei gleichzeitig wachsendem Reichtum, wird kaum thematisiert.

Richtig ist, dass wir in den vergangenen dreißig Jahren enormes technologisches, kulturelles und politisches Wissen aufgebaut und smarte Konzepte entwickelt haben, um nachhaltig wirtschaften zu können. Unsere Kinder bekommen ein ausgeprägtes ökologisches, soziales und historisches Wertesystem vermittelt. Unser Gemeinwesen ist grüner geworden. Kaum ein anderes vergleichbar großes Industrieland hat eine solche Transformation durchgemacht wie Deutschland. Wir können weniger entwickelten Ländern helfen, und selbst einigen Industrieländern, sich ökologisch zu modernisieren, den Ressourcen- und Energieverbrauch zu reduzieren und zugleich die Gesellschaft zu versorgen. Wir können weltweit für Umweltfragen sensibilisieren.

Aber das können wir nur, wenn wir weder die marktradikale Wachstumskeule schwingen, noch mit der Verzichtsökonomie vieler Wachstumskritiker dem Rest der Welt begegnen. Wir müssen verstehen, dass Millionen Menschen unter Hunger und Armut leiden. Millionen sehnen sich nach dem Lebensstandard der europäischen Mittelschicht. Das sind keine Wünsche nach Konsumorgien. Wer das nicht versteht und stattdessen Ungleichheit oder Konsumverzicht predigt, hat ein Wahrnehmungsproblem. Wir müssen vielmehr einen vernünftigen Ausweg finden.

Investitionsprogramm nötig

Die deutschen und europäischen Gewerkschaften haben ein umfassendes Investitions- und Modernisierungsprogramm für Europa vorgeschlagen. Das Ziel ist, energiearm und ressourcenschonend zu wirtschaften, langfristig von Brennstoffimporten unabhängig zu werden und zugleich den CO2-Ausstoß in Europa massiv zu reduzieren. Die europäischen Staaten haben sich bereits dazu verpflichtet, den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromproduktion auf zwanzig Prozent zu steigern und bis 2050 den CO2-Ausstoß sogar um 80 bis 95 Prozent unter den Stand von 1990 zu senken. Hierfür hat die EU-Kommission 2011 einen "Energiefahrplan 2050" vorgelegt. Die Investitionsoffensive könnte diesen Energiefahrplan massiv stützen, ohne europäische Unternehmen und Arbeitnehmerhaushalte im Übermaß zu belasten.

Darüber hinaus würde ein solcher Masterplan für die EU dazu beitragen, europäische Städte und Gemeinden auf eine alternde Gesellschaft vorzubereiten, Bildung und Ausbildung zu fördern, den Bestand an öffentlicher und privater Infrastruktur zu modernisieren und auszubauen sowie nachhaltige Industrie- und Dienstleistungszentren der Zukunft zu erschließen. Dafür müssen Innovationen, Forschung und Entwicklung als die schöpferischen Treiber des ökologischen Umbaus gestärkt werden. Diese Strategie sorgt auch für Jobs und damit für Einkommen für Millionen Menschen, gerade in den Krisen geplagten Ländern. Europa wäre ein gutes Vorbild für nachhaltiges und soziales Wirtschaften.

Eine solche Wachstumsstrategie gelingt aber nur, wenn die spezifischen Regeln des Finanzmarktkapitalismus, die sich an kurzfristigen Renditeinteressen der Anleger ausrichten, ausgesetzt werden, der Markt in einen staatlichen Ordnungsrahmen eingebettet wird und das bisherige System durch eine sozial, ökologisch und humanistisch ausgerichtete Langfristorientierung der Wirtschaft ersetzt wird. Ein sozialer und grüner Wohlfahrtsstaat wird dann zum Modell, mit dem moderne Gesellschaften die Zukunft gestalten. So bekommt Wachstum Sinn und Verstand.

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Mehrdad Payandeh

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