Erlesene Beute

Ein Punktum
Der buchaffine Betrachter wittert Beute: Mit dem scharfen Blick des Jägers wandert er die Buchrücken ab. Sein Jagdtrieb ist erwacht.

"Taler, Taler, Du musst wandern, von dem einen Ort zum andern, das ist herrlich, o wie schön, niemand darf den Taler sehen." Dieses alte Kinderspiel aus frühen Tagen kommt der eiligen Passantin in den Sinn, wenn sie unterwegs unvermutet auf eine Reihe Bücherrücken am Wegesrand trifft. Anonyme Bücherdepots sind vielerorts ein Phänomen im Stadtbild, sie stehen plötzlich auf dem Bürgersteig, warten an der Bushaltestelle, bieten Einhalt vor Hauseingängen, sind als Schränke, Regale oder Tomatenkisten die Hingucker an belebten Plätzen. In den Behältnissen stehen Bücher, die der Besitzer ausgelesen hat, nicht lesen möchte oder die ihm so gut gefallen haben, dass er sie weiter empfiehlt.

Diese bunt zusammengewürfelte Meute erwartet hier Asyl im Bücherschrank eines neuen Besitzers. Die versammelten Titel geben vielsagende Rückschlüsse auf ihre früheren Besitzer, die irgendwo im nächsten Umkreis leben. Da ist der Packen Perry-Rhodan-Hefte, arg angestoßen und wohl durch viele Hände gegangen, kein vertrauenerweckendes Milieu. Wie neu dagegen die veganen Kochbücher, nur einmal durchgeblättert, man schnuppert hippe Stadtvilla und Landliebe. Die Reihenhäuser glänzen mit Lebenshilfe, sind gut vetreten mit "Sorge dich nicht - lebe" bishin zur "Anleitung zum Unglücklichsein", dem Thema ohne Ende. Nicht zu vergessen die Goldschnitt-Bände mit ihrem Flair aus Zigarrenqualm und Kellermief, mit den handschriftlichen Bemerkungen des ergrauten Studienrats in seiner Gründerzeitvilla. Nur selten taucht einer der bibliophilen Schätze aus dem Insel-Verlag auf, was auf Seelenverwandtschaft schließen ließe.

Was auch immer - der buchaffine Betrachter wittert sofort Beute. Mit dem scharfen Blick des Jägers wandert er die Buchrücken ab und hofft sehnlichst auf eine Erstausgabe, ein vergriffenes Exemplar oder das Fehlstück in der Reihe. Sein Jagdtrieb ist erwacht. Was eben noch frei da lag, das hat sein Blick fixiert, schon greifen die Hände den ausgespähten Schatz, kein anderer soll noch das Fundstück streitig machen.

Der Traum vom Bücherschatz am Bürgersteig wird zu selten Wirklichkeit. Obwohl doch schon Friedrich Hebbel als beste Lebensregel 1836 in sein Tagebuch geschrieben hat: "Wirf weg, damit du nicht verlierst." Doch die Krux ist: Wahre Bücherfreunde sind Sammler, zumindest die meisten von ihnen. Mit ihren Bibliotheken schieben sie dem Zirkulieren der Bücher einen Riegel vor.

Ein Blick auf die eigenen Bestände offenbart: Schon die zweite Reihe in der Regalwand ist fast vollständig gefüllt. Dabei sollte doch heutzutage das Teilen und Tauschen im Vordergrund stehen. Man muss loslassen können, lernen, aus der Hand zu geben. Los gehts, die Passantin wird vorangehen und einen Bücherplatz einrichten, die nächste Bushaltestelle ist nicht weit.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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