Losgebundene Furien

Über die Wut wird viel nachgedacht, gedichtet und gelacht. Der Stoff dazu geht nicht aus
Petrarcameister: Von dem Zorn, 16. Jahrhundert. Foto: akg-images
Petrarcameister: Von dem Zorn, 16. Jahrhundert. Foto: akg-images
Wut ist menschlich, jeder kennt sie aus eigenem Erleben. So kann es nicht ausbleiben, dass sie Schriftsteller, Philosophen, Künstler und Wissenschaftler zu Vielerlei, von Klugem bis zu Albernem, anregt. Hier die flüchtige Begehung eines weiten Feldes.

"Die Wut, Herr Professor", antwortete Bachmeyer auf die Frage des Arztes, was ihm denn fehle. "Ich leide unter schweren Wutanfällen, die mich entsetzlich anstrengen und mitnehmen." Den Professor Horn, Leiter einer psychiatrischen und neurologischen Klinik, konnte die Antwort nicht erstaunen, war er doch auf solche Fälle wie den des Herrn Bachmeyer spezialisiert, ja, er hatte zu deren ambulanten Behandlung ein ungewöhnliches Therapiekonzept entwickelt. Zunächst aber gab er bei diesem ersten Patientengespräch acht auf die Symptome, die Bachmeyers Selbstdiagnose eindrucksvoll bestätigten: Dessen Fußwinkel erhöhte sich dramatisch, "zugleich begannen beide Füße eine Art verhaltenen Tretens und Stampfens, ohne dass freilich die Sohlen sich eigentlich vom Boden lösten". So wurde unverzüglich mit der Behandlung begonnen: Die Ordinationsschwester verpasste dem Patienten eine Nasenzange und führte ihn an dieser vermittels einer Schnur auf eine Art Wutmarsch, zu den Klängen des Krönungsmarsches aus Giacomo Meyerbeers Oper "Der Prophet". Der Professor schritt hintendrein und ließ zwei mit Stoff umwickelte Paukenschlögel im Rhythmus der Musik auf dem Haupte Bachmeyerns tanzen: Es galt, die Wut vollständig herauszutreiben.

Es handelt sich um die Anfangsszene des Romans "Die Merowinger" von Heimito von Doderer, einem der größten Schriftsteller Österreichs, eher berühmt wegen seiner Gesellschaftsromane (der bekannteste: "Die Strudlhofstiege"). Doch die monumentale Groteske "Die Merowinger" - nicht etwa ein historischer Roman! - war kein Ausrutscher des Autors: Doderer selbst war ein Mann von schattiertem Charakter (der schöne Ausdruck stammt von Rudolf G. Binding) mit einem zu skurrilem Humor sublimierten Hang zur Wut.

Kurzer Sprung in die Gegenwart: Vor einigen Monaten ging eine Meldung durch die Presse, nach der ein US-Bürger auf seinen unbotmäßigen Computer geschossen, ihn gewissermaßen erschossen habe. Danach habe er sich erleichtert und befreit gefühlt. Das Kopfschütteln über diesen Wutausbruch - typisch amerikanisch! - stand zumindest zwischen den Zeilen.

Solche Abreaktion an widerspenstigen Dingen gehört aber, wie jeder weiß, zum normalen Handlungsspektrum des Menschen, gewissermaßen als Notwehr gegen die Tücke des Objekts.

Apropos "Tücke des Objekts": Der Ausdruck geht auf den weiland Ästhetikprofessor und Theologen Franz Theodor Vischer (1807-87) zurück. In seinem Roman "Auch einer" (1879) thematisiert er die Entdeckung dieser üblen Eigenschaft von doch anscheinend unbelebten Dingen. Zum Exempel: Er berichtet von einer Taschenuhr, die sich des Nachts, während des Schlafs ihres Herrn und Meisters, von ihrem Platz auf dem Nachtkästchen bis an den Rand des Möbels robbt, um sich hinabzustürzen - eindeutig in der Absicht, jenen zu schwerer Wut zu reizen.

Im Grunde sind's alles Gemeinheiten, heißt es bei Doderer. Aber im Ernst: Wut und Groteske stehen sich eigenartig nahe. Wer vor Wut außer sich ist, gar augenblickweis Furcht und Schrecken verbreitet, erscheint aus jeder Distanz, räumlich oder zeitlich, nur allzu leicht als komische Figur. Den Schneider Böck treibt die Wut über böse Buben, diese zu verfolgen, vor die Tür und auf den Steg, was ihm - "Ritzeratze! voller Tücke, in die Brücke eine Lücke" einen Reinfall und einige Abkühlung beschert.

Wertvolles Kulturgut Schadenfreude

Wer in Wut gerät, fällt mindestens so oft hinein wie jener sprichwörtliche, der einem anderen eine Grube gräbt. Für den Spott brauchen beide nicht zu sorgen. In Wilhelm Buschs Bildergeschichten gehören Wutanfälle regelmäßig zu den nur allzu verständlichen Reaktionen auf allerlei Ungemach, das mit Vorliebe diejenigen heimsucht, denen der friedliche Sinn nur nach Ruhe und Gemütlichkeit steht. Nebenbei: Da Schadenfreude zwar nicht die feinste, möglicherweise aber die ursprünglichste Freude ist, hat man sich darauf geeinigt, in den von Busch genussvoll ausgemalten Bösartigkeiten gemütvollen Humor und also wertvolles Kulturgut zu erblicken. Ein Schuft, der Böses dabei denkt.

Doch wer von der Wut redet, kann vom Zorn nicht schweigen. Der Zorn scheint per se ernsthafter als die ordinäre Wut, tiefer grundiert, nachhaltiger, ja, man billigt ihm viel eher zu, das Recht auf seiner Seite zu haben. Aber Zorn und Recht - wie passt das zusammen? Immerhin, da ist "Michael Kohlhaas", wie er uns von Heinrich von Kleist vor Augen gestellt wird: Sein Zorn darüber, dass seine Pferde ruiniert wurden, treibt ihn dazu, sein Recht zunächst mit allen rechtlichen Mitteln zu suchen, um schließlich, als er einsehen muss, dass ihm jenes verwehrt bleibt, er nur noch Rache will. Den historischen Hans Kohlhase beschied Luther in einem Brief (1534): "Unrecht wird durch ander Unrecht nicht zurecht gebracht. Nu ist Selbstrichter sein und Selbstrichten gewiss unrecht, und Gottes Zorn lässt es nicht ungestraft" (bei Lehmann, siehe unten).

Die Moral von der Geschicht': Berechtigter Zorn droht, wo ihm sein vermeintliches oder tatsächliches gutes Recht verwehrt wird, ins Archaische zurückzufallen.

So auch die Wut, aber doch nur im Moment ihres heftigsten Aufwallens. Die Wut verraucht, der Zorn dauert. Anders als der Zorn entzündet sich die Wut auch an kleinen Alltäglichkeiten. Zorn über den verlorenen Groschen würde man ins Pathologische rechnen. Eine lang angestaute Wut hat eher etwas von ziellosem Zorn; sie ist gewissermaßen das Gegenteil des Jähzorns - bei dem sind Aufwallen und Ausbruch, Reiz und Reaktion, zeitgleich. Eigentlich müsste er Jähwut heißen.

Doch Wut ist, nicht minder als der Zorn, von explosiver Dynamik. Wut will raus, auf der Stelle! Wo das das gute alte Über-Ich, zivilisatorische Schranken oder der Rest des Triebs zur Schadensvermeidung, zusammengefasst unter dem Begriff "Vernunft", den sofortigen Ausbruch hemmen, da ist dem Selbstbeherrschungskünstler doch, als müsse er vor Wut gleich platzen.

Es bedarf also schon einiger Definitionstüftelei, um Zorn und Wut voneinander zu scheiden. So viel lässt sich sagen: Der Zornige vermag, anders als der Vor-Wut-außer-sich-Seiende, den Zeitpunkt der Entladung zu planen und aufzuschieben.

Doch selbst wo heiliger Zorn gewissermaßen das Mittel der Wahl ist, feit das doch einen heiligen Mann nicht vor einem veritablen Vorab-Wutanfall. So geht es Moses in Thomas Manns Novelle "Das Gesetz" von 1944: Der muss bei der Wiederkehr vom Heiligen Berg gewahr werden, dass das abtrünnige Volk ums Goldene Kalb tanzt. "Bei diesem entsetzlichen Anblick schwoll Mosen die Zornader zum Platzen. Hochroten Angesichts, schlug er sich, ... zum Kalbe durch. Hoch hob er die Gesetzestafel mit gewaltigen Armen und schmetterte sie nieder auf das lachhafte Biest ... schlug wieder und aber zu mit solcher Wut, dass ... das Machwerk bald eine formlose Masse war... Da stand er mit bebenden Fäusten und stöhnte aus tiefster Brust ..." Sein heiliger und gerechter Zorn aber wird sich gegen sein ungetreues Volk richten und schrecklich sein.

Zorn und Wut also nur zwei Seiten einer Medaille? Der Literaturwissenschaftler Johannes F. Lehmann unternimmt in seinem Buch "Im Abgrund der Wut" aus dem Jahr 2012 einen bemerkenswerten Versuch, beide kulturgeschichtlich zu differenzieren: "Eine zentrale Zäsur in der Geschichte des Zorns" sei gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu konstatieren. Damals nämlich sei "das alte abendländische Modell des Zorns gleichsam umcodiert beziehungsweise überschrieben" worden "von einem Modell von Kraft und Widerstand". "An die Stelle der alten aristotelischen Trias von Geringschätzung - Schmerz - Rache" trete das "Gefühl der Wut". Dieser Prozess sei eng mit der "Theoriegeschichte des Affekts und des Gefühls selbst" verknüpft. Auch sei dadurch der Zorn "sozial generalisiert" worden. War der Zorn einst das Privileg von Herrschern und Mächtigen, wurde er nun gewissermaßen demokratisiert. Lehmann untermauert seine These mit vielen Belegen aus der Literaturgeschichte.

Etwa mit Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" von 1786. Dieser Erzählung liegt eine wahre Geschichte zugrunde, nämlich die eines seinerzeit berüchtigten Räuberhauptmanns, dem "Sonnenwirtle" genannten Friedrich Schwahn. Bei Schiller heißt der Christian Wolf, ist ein von der Natur vernachlässigter, nämlich grundhässlicher Mensch, der sein Lebtag vergeblich versucht, die Anerkennung seiner Mitmenschen zu erringen. Überall zurückgestoßen, wird er Mörder des Geliebten des Mädchens, das er vergeblich anbetet, und gerät so vollends auf die schiefe Bahn.

Es gibt aber noch eine andere Schilderung des Lebens des Sonnenwirtles, der 1760 gerädert wurde. Sie stammt von Schillers einstigem Lehrer und späterem Freund, dem Philosophen Jakob Friedrich von Abel (1751-1829, in "Merkwürdige Erscheinungen aus dem menschlichen Leben", 3 Bände, 1784-1790). Abel schilderte dokumentarisch - und bei ihm klingt die Geschichte, wie Lehmann erstmals detailliert untersucht, ganz anders: Schwahn war der Sohn eines wohlhabenden Wirtes. Er legte von Kind auf einen unbändigen Charakter an den Tag, die Versuche des strengen Vaters, ihm Zügel anzulegen, liefen ins Leere, da die Mutter ihren Sohn blind vergötterte. Der wurde zu einem gut aussehenden Mann, der zunächst eine Ehe gegen den Willen seines Vaters durchsetzte, später noch eine veritable Räuberbraut an seiner Seite hatte und zeitweise mit beiden Frauen lebte.

Abel erklärt in psychologischer Absicht, bei ihm steht der unbewältigte Vaterkonflikt im Zentrum, er sieht diesen aber unlösbar verbunden mit einer natürlichen Veranlagung des Sohnes, die sich in gewalttätigen Wutanfällen und ungehemmter Lust an Gewalttaten äußert. Letztere zeigte sich zum Beispiel darin, dass er wahllos einen Passanten verprügeln konnte, bis der auf sein Verlangen hin zusicherte, sich später nicht darüber zu beklagen - anschließend verprügelte er ihn noch einmal, weil der ihn doch offensichtlich angelogen habe.

Unterschiedliche Konzepte

Vergleicht man die beiden Berichte über Schwahn, so fallen die unterschiedlichen Konzepte ins Auge: Abel stellt alles auf Veranlagung und Erziehung ab, bei Schiller kommt die gewalttätige Veranlagung gar nicht zur Sprache, er will mit seiner Dichtung ein paradigmatisch sauberes Beispiel dafür liefern, wie jemand durch die Ablehnung seiner Mitmenschen auch gegen seine Veranlagung zum Verbrecher wird.

Abels Erklärung, streng orientiert an den Quellen, ist eine auf der Höhe der Zeit, der Aufklärung, Schiller greift mit seiner dichterischen Version seiner Zeit voraus: Die persönliche Geschichte und der Einfluss der Umwelt eines Straftäters sollten erst sehr viel später Aufmerksamkeit finden. Heute werden beide Ansätze vor Gericht gleichermaßen berücksichtigt und in ein Verhältnis gebracht.

Als Thymos (Lebenskraft) war schon seit Platon den alten Griechen das Streben nach Anerkennung als einer der Hauptantriebskräfte des Menschen bekannt. Sicher ist, dass es sowohl zu Großem wie zu allerlei Schiefem und gar zum Verbrechen führen kann. Peter Sloterdijk ironisiert es in "Zorn und Zeit" (2006) als "ein Verlangen, das man ohne weiteres als eine Anleitung zum Unglücklichsein mit dauerhafter Erfolgsgarantie auffassen dürfte", und relativiert gleich begütigend: " ...gäbe es nicht hier und da Beispiele für geglückte wechselseitige Anerkennung".

Im Zentrum von Sloterdijks Buch steht der Versuch, nachzuweisen, wie der Zorn Vieler kumulieren kann und sich von Unternehmern des Zorns gleichsam in Banken des Zorns speichern lässt. Kommt es zur Auszahlung, führt dies im Extremfall zur Revolution, einem "Phantasma", wie es "namentlich Lenin und Mao Zedong vorschwebte: Es könne durch die disziplinierten Aktionen des Hasses eines Tages so viel zusätzlicher Schmerz, so viel überschießendes Grauen... erzeugt werden, dass alles Bestehende an jenem nicht mehr fernen Tag des Massenzorns einschmilzt (...) Die Bedingung hierfür ist: Die Vernichtung muss ihr Werk bis ans allerletzte Ende durchführen."

Damit sind wir anscheinend an die Grenzen unseres Themas gelangt. Oder nur scheinbar?

Wutaktionen von Gruppen unterhalb der Revolutionsschwelle nennt Sloterdijk "kleines Zornhandwerk", es sei "dazu verurteilt, sich in verlustreichen Pfuschereien zu erschöpfen". Doch selbst auf Wutniveau bleibt die Sache prekär. Heimito von Doderer stellte seinen Merowingern das Motto voran: "Die Wut des Zeitalters ist tief." Darüber unter Ausschluss des Grotesk-Komischen mit seiner kathartisch-befreienden Wirkung nachgedacht, gerät unweigerlich die Gegenwart in den Blick. Wer sich nicht sogleich mit Grausen abwendet, wird vielleicht mit Bedauern konstatieren, dass nirgends ein Professor Horn in Sicht ist, der eine erfolgversprechende Therapie für die zahllosen aberwitzigen Wutkonflikte auf unserem Globus anbietet.

Übrigens: Selbst der Professor Horn des Romans, der im Dienst des medizinischen Fortschritts seine Therapie im Laufe der Zeit zu einer Massenbehandlung ökonomisiert hatte, weil er es - scheinbar - doch nur mit im Grunde honetten und harmlosen, wenn auch unter schwerer Wut leidenden Patienten zu tun hatte, selbst er musste eines Tages erleben, dass eine seiner Therapiestunden in einem schrecklichen Desaster endete. Wie heißt es bei Schiller (" Wallensteins Tod" )? "Die losgebundenen Furien der Wut ruft keines Herrschers Stimme mehr zurück."

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Helmut Kremers

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