Alte, liebe Lieder

Kirchentag: geschätzt, geschmäht und unersetzlich
Der Kirchentag ist und bleibt ein Gesamtkunstwerk, das man erfinden müsste, wenn es ihn nicht gäbe.

Als ich das erste Mal einen Kirchentag erlebte, war ich 15 Jahre alt und erschrak sehr: Auf dem Podium saß Bundesverteidigungsminister Hans Apel, und immer wieder mussten ihn seine Leibwächter mit Schilden vor geworfenen Dingen, es war wohl in erster Linie Essbares, schützen. Ich saß ziemlich weit entfernt, aber es hat mich sehr aufgeregt, und ich habe mich sogar ein bisschen gefürchtet. So waren die Kirchentage damals in den Achtzigerjahren, als es um die NATO-Nachrüstung ging.

Lang, lang ist's her, und seitdem hat sich der Kirchentag in Sachen Umgangsformen zivilisiert. Eigentlich eine gute Sache, aber diese Friedfertigkeit, die schon länger auf Kirchentagen zu beobachten ist, ist einigen auch wieder nicht recht. Es werde zu viel geklatscht, man sei eh immer einer Meinung, kurz: Die ganze Sache sei zu seicht geworden - so das Urteil in manchen Medien über den Stuttgarter Kirchentag 2015.

In der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" wurde sogar bezweifelt, dass es noch Protestantismus sei, was da in Stuttgart stattgefunden habe, sondern möglicherweise "irgendeine seltsame Mischung aus Neoliberalismus und New Age". Und die "Frankfurter Rundschau" bescheinigte dem Kirchentag das "Organisationsprinzip eines Mega-Outlets, in dessen Angebot alle fündig werden".

Solche Kritik erfüllt natürlich die Hajo-Friedrichs-Maxime "Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten", der sich gute Journalisten mit Recht verpflichtet fühlen, aber sie geht am wesentlichen vorbei, nämlich daran, dass die wenigstens Kirchentagsteilnehmer klare Eindeutigkeiten erwarten. Zum Glück (!) ist die Einsicht gewachsen, dass es einfache Wahrheiten nicht gibt. Einige Medien kritisierten, dass Politiker in Stuttgart zu sehr beklatscht wurden, aber häufig wurden sie beklatscht, weil sie deutlich machten, dass die Dinge eben nicht so einfach sind. Ja, diese Wahrheit ist banal, aber das schmälert ihren Wert nicht. Die Auftritte des Bundesaußenministers, der die Dilemmata und Schwierigkeiten in der Bewältigung bei der Befriedung der vielen Konfliktherde dieser Welt aufzeigte, und des Bundesinnenministers, der sich im Konflikt um das Kirchenasyl wieder etwas konzilianter, aber in Sachen Rechtsstaatlichkeit ungebrochen zeigte, waren dafür das beste Beispiel.

Man überfordert den Kirchentag, wenn auf ihm Lösungen für die Weltprobleme und -rätsel erwartet werden, aber er ist und bleibt ein Gesamtkunstwerk, das man erfinden müsste, wenn es ihn nicht gäbe. Der SWR-Journalist und bekennende Kirchentagsfan Andreas Malessa brachte es so auf den Punkt: "Es gibt auf der ganzen Welt keine Veranstaltung, auf der so viel Kompetenz, intellektueller Sachverstand und Pluralität auf hohem Niveau miteinander ins Gespräch kommen wie auf dem Kirchentag".

Diese Einschätzung wird dem Ereignis mehr gerecht als abfällige Gesamtwertungen, die nur einseitig ausfallen können. Ja, das Rad wird dort selten neu erfunden, aber die wichtigen Fragen werden wachgehalten. Vielleicht ist es mit dem Kirchentag ein wenig so, wie mit der Nachtigall bei Goethe: "Die Nachtigall, sie war entfernt, / Der Frühling lockt sie wieder; / Was Neues hat sie nicht gelernt, / Singt alte, liebe Lieder." Und so freue ich mich auf 2017, auf den 36. Kirchentag in Berlin (und Wittenberg)!

Reinhard Mawick

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