Samstag ist Hauptkampftag der Zeugen Jehovas, erzählt Misha Anouk. Dann gehen sie von Haustür zu Haustür, um den Menschen die "Wahrheit" zu bringen, in der sie selbst bereits leben. Die Wachtturm-Gesellschaft stattet sie dazu entsprechend aus: Es gibt zum Beispiel Pläne von der Nachbarschaft, mit denen dann Buch gehalten wird, über die Begegnungen im Treppenhaus, aber auch Vorschläge für Gesprächseinstiege unterbreitet werden.
Anouk ist aufgewachsen in einer Familie, die den Zeugen Jehovas angehört - er kennt das Leben dieser Glaubensgemeinschaft von innen heraus, ihren Alltag, ihre Normen und Verhaltensweisen, ihre Hoffnungen, vor allem aber ihre Ängste. Dreh- und Angelpunkt ist der Glaube an den nahenden Weltuntergang, "Harmagedon", den nur wenige, von Gott Auserwählte, überstehen werden. Dieser Glaube - und diese Angst - bestimmen alles: Freundschaften, Freizeitbeschäftigungen, Ausbildung (vom Studium wird abgeraten), Partnerschaften. Anouk ist Zeuge Jehova, bis er Anfang Zwanzig ist, und es wird Jahre dauern, bis er nach dem Bruch die Leere füllen und als Agnostiker im "weltlichen" Leben Fuß fassen kann.
Es gibt Aussteigerberichte, die lesen sich als typische Betroffenheitsliteratur und lassen einen mit Kopfschütteln und Empörung zurück. Dieses Buch ist anders: Anouk - der sich mittlerweile längst auch als Poetry-Slammer einen Namen gemacht hat - schreibt mit Ironie und Leichtigkeit, amüsiert mit Sprachwitz und humorvollen Beobachtungen aus dem Leben seiner Familie und seiner Gemeinde. Dabei lässt er es nie an Empathie, sogar Sympathie mangeln. "Denn eines muss man den Zeugen Jehovas fairerweise lassen: Ich habe in diesem Ausmaß selten ein solch selbstloses Engagement erlebt und einen derartigen Zusammenhalt gespürt. (...) Zeugen Jehovas sind mehrheitlich sehr hilfsbereite, ehrliche Menschen. Man kann sich kaum bessere Nachbarn oder Mitarbeiter wünschen." Aber er analysiert auch kritisch und mit vielen Hinweisen auf (frei zugängliche) Quellen und Sekundärliteratur das "System Wachtturm". Dazu gehören fragwürdige und widersprüchliche theologische und politische Entscheidungen und Prozesse innerhalb der Leitungsgremien sowie sprachliche, soziale und psychologische Dynamiken, die er auf Kongressen oder in den "Versammlungen" beobachtet hat.
Eines wird dabei schnell deutlich: Zeugen Jehovas sind nicht Opfer einer "bösen Macht", sondern Getriebene eines sich verselbständigenden Systems - einer leistungsorientierten Gemeinschaft, unter permanenter Beobachtung und emotionaler Kontrolle, in Schach gehalten von ihren eigenen Schuld- und Schamgefühlen und der Hoffnung auf Erlösung. Leser, die in einer pietistisch geprägten oder traditionell katholischen Kirchengemeinde aufgewachsen sind, werden einiges davon wiedererkennen. Natürlich: Die theologischen Grundlagen sind zum Teil andere, ethisch-religiöse "Identity-Marker", wie beispielsweise die Verweigerung von Bluttransfusionen oder die Ablehnung von Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, gibt es bei ihnen nicht. Aber repressive Gruppendynamiken, Konformitätsdruck bis hin zum Mobbing, ein patriarchales Menschenbild sowie eine autoritäre und neurotisch anmutende Sexualmoral, dazu ein dualistisches Weltbild, eine einengende (und regressive!) Frömmigkeit sind keine Alleinstellungsmerkmale der Zeugen Jehovas.
Anouk beschreibt, wie Ungehorsam gegenüber den Leitungsorganen als Ungehorsam gegenüber Christus gebrandmarkt wird; kritisches Nachfragen gilt als Hinweis auf mangelndes Gottvertrauen und "geistige Krankheit". Es ist ein Glaubens- und Sozialsystem, das sich von Kritik mittels argumentativer Zirkelschlüsse konsequent abschottet und sich damit auch der eigenen Erneuerung verschließt. Goodbye Jehova ist nicht zuletzt an Zeugen Jehovas selbst adressiert: Die Ermutigung, das eigene Fragen, Denken und Urteilen zuzulassen, die Angst hinter sich zu lassen - und zu lachen.
Misha Anouk: Goodbye, Jehova! rororo, Reinbek bei Hamburg 2014, 544 Seiten, Euro 9,99.
Natascha Gillenberg
Natascha Gillenberg
Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.