Brücken und Gräben

Über die schwierige Beziehung zwischen Kirche und Kunst
Pietà. Altarbild von Thomas Bayrle, St. Matthäuskirche in Berlin. Foto: Andreas Schoelzel
Pietà. Altarbild von Thomas Bayrle, St. Matthäuskirche in Berlin. Foto: Andreas Schoelzel
Kirche und Kunst sollen nicht voneinander lassen. Aber die Autonomie der Kunst hat das Verhältnis zwischen beiden auf eine neue Grundlage gestellt. Daran müssen sich beide Seiten gewöhnen, meint der Germanist und Musiker Klaus-Martin Bresgott und fordert eine aktive Rolle der Kirche in Sachen Kunst.

Die Geschichte des Verhältnisses zwischen Kunst und Kirche ist eine von vielen Brücken und ebenso vielen Gräben. Die urverwandte Gemeinsamkeit, keinem Schneller-Höher-Weiter und keiner Ökonomie und der damit verbundenen Normierung und Rationalisierung, sondern einer freiheitlich-ethischen Grundhaltung verpflichtet zu sein, scheint nur noch ideell der kleinste gemeinsame Nenner zu sein. Vermeintliche Deutungshoheiten und die fatale Vorstellung, Kirche gebe ein Leitbild für Kunst und sei damit auch ihre Visionsspenderin, haben die Künste spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verprellt. Die Kirche wiederum fühlte sich entweder provoziert oder beargwöhnt, weil ihr vorgeworfen wurde, die freiheitliche Idee Jesu sei durch sie in das verwaltete Gegenteil mutiert, das - wie der Kommunismus - in der Realität an der fehlenden Authentizität seiner sie vertretenden Protagonisten scheitere. Sie überlebe überhaupt nur durch das in der Gegenwart nie einzulösende Versprechen einer Erlösung in ungewisser Zukunft.

Lässt sich ein gemeinsames Erleben und Deuten eines Werkes in der Auseinandersetzung um religiöse Visionen bewusst herstellen? Oder ist das nur schöner Schein und gelingt allenfalls mit faulen Kompromissen? Muss man Verstörung bewusst in Kauf nehmen? Darf Kunst in aller Radikalität derart erschüttern und sich in den Weg stellen, dass die Konfrontation unausweichlich ist? Ist der Spiegel der Kunst der Spiegel, in den die Kirche blicken will?

Die Gräben werden bestehen bleiben, solange noch immer regelmäßig ideologisch argumentiert und Kirche als Bedeutungsträger statt als assoziativer Raum verstanden wird. Darum wollen Künstlerinnen und Künstler mit der institutionalisierten Kirche eher wenig zu tun haben. Die Reibung an den Texten der Bibel aber ist und bleibt eine willkommene - die gibt sowohl das Alte Testament als auch die schillernde Fremdheit des Jesus von Nazareth allemal her, und diese Reibungen spiegeln sich in der Literatur ebenso wie in der Musik, in der Bildenden Kunst ebenso wie im Theater oder im Film. Doch wo finden sich Brücken oder lassen sich welche bauen zwischen der Kunst und der Kirche?

Ort der Auseinandersetzung

Erstens: Die Einsicht, weniger pauschal als vielmehr individuell aufeinander zu reagieren, mithin also das Gespräch und damit auch den konkreten Anlass zu suchen, ist wie überall der Anfang. Das schließt keinesfalls aus, sich neben allem Verbindenden auch alles Trennende bewusst zu machen. Eine lange schon gewonnene, aber immer wieder neu ins Bewusstsein zu bringende Erkenntnis dabei ist: Kunst ist kein Spiel. Sie selbst muss aber spielen dürfen! Spielen ermöglicht in seinem erwartungsfreien Raum ganzheitliches Erleben und ist dabei von großer Ernsthaftigkeit geprägt. Es ist eine Grundbedingung der Kunst, derart kreativ sein zu können, um Gestaltungsräume zu öffnen oder frei zu halten, die in der Erfahrung für andere wiederum zu Orientierungshilfen und zu Orten der Auseinandersetzung werden, wo Empathie und Sensibilität, wo Toleranz und Selbsttätigkeit erfahren und erprobt werden.

Zweitens: Kunst ist sowohl durch die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten als auch durch die gleichnishafte Konfrontation mit Selbstverständlichkeiten und die Implementierung des Fremden in die vertraute Welt oft Ursprung von Meinungsbildung und Urteilskraft. Sie wird Ausgangspunkt für Wahrnehmung, indem sie die Vorgänge hinter den Vorgängen beleuchtet und schürt damit die Erkenntnis der Vielschichtigkeit der Zugänge und des Verstehens. Wo in der Kirche die Bibel als Glaubenszeugnis und Grundlage des Glaubens gelesen wird, nutzt die Kunst die Bibel als ein Rohmaterial von Bildern und Geschichten. Sie stellt ihre Allgemeingültigkeit mit neuen Bildmetaphern auf den Prüfstand und in ein veränderndes und verändertes Licht. Sie entwirft aktuelle Deutungen, die die Brisanz biblischer Geschichte aus der Vorstellung in eine erlebbare Wirklichkeit führt - sei es im Theater oder in der Bildenden Kunst - und ermöglicht dadurch eigene Erfahrungen und Standpunkte.

Drittens: Kirche und Kunst sind Menschenwerk. Wir alle sind ganzheitlich wahrnehmende und tätige Wesen. Unser Sein ist aus der Kindheit heraus auf Ganzheitlichkeit angelegt, auf ein Erleben, das wir selbst erst in Anpassung an industrielle Normen auf Rationalität und Ökonomisierung reduzieren und uns damit selbst wichtiger Erfahrungsbereiche berauben beziehungsweise sie durch "Entweder - Oder" statt "Sowohl - Als auch" verengen und beschneiden. Der Umgang mit Kunst fördert und erhält die Ganzheitlichkeit und damit unsere eigene Sprachfähigkeit und Eigenständigkeit. Er verankert die Sinne auf existentielle Art und Weise in unserem Urteilsvermögen. Damit fördert er ein auf Ganzheitlichkeit angelegtes Menschenbild und ist ein Korrektiv rationaler Besessenheit nach Effizienz und Wachstum. Insofern gehört Kunst als einmaliger Hort humanitärer Bildung aus den Randstunden der Schule und den Reststunden des Tages in die Mitte des Alltags und des Lebens!

Viertens: Kunst ist oft Imperativ des Augenblicks und damit immer auch ein Gegenpol kirchlicher Jenseitsdeutungen und Prophetien. Sie wahrt, insbesondere im Film, im Theater, in der Literatur oder im Tanz auf vielschichtige Weise einen direkten Bezug zur Gegenwart und spiegelt darin menschliches Handeln, das Ausgangspunkt kirchlichen Wirkens gegenüber Gott ist. Diese Spiegelung kann mehr als nur eigenes Handeln infrage stellen: Sie kann Bewegung möglich machen und eigene Aktivität befördern.

Fünftens: Wie die Demokratie ist auch die Kunst ein Prozess und kein Zustand. Nimmt man Kirche als Gesamtgebilde in ihrer Lebendigkeit ernst, unterliegt auch sie dieser Definition und damit dem Gebot, flexibel zu agieren sowie auf den Alltag zu reagieren. Jahrhundertealte Geschichte ist kein Bollwerk fertiger Antworten und Ort der Unangreifbarkeit, sondern ein Erfahrungsschatz von Erkenntnissen und Irrtümern, der sich im Hier und Heute bewähren muss.

Jede Kirche ist Kulturkirche

In der Form, wie Kirche per se Kultur ist und als wesentliche und anerkannte Kulturträgerin sowohl durch ihre Kunstschätze als auch durch ihre Kunstvermittlung insbesondere im musikalischen Bereich einen essentiellen Beitrag zur kulturellen Bildung leistet, steht sie im Umgang mit der Kunst vor zwei wichtigen Aufgaben: Der Bewahrung und Vermittlung vorhandener Kunstschätze auf der einen und der für ihre Identität unerlässlichen Förderung neuer Kunst auf der anderen Seite. Dazu braucht es keine irreführende Differenzierung durch Begriffe, die einen scheinbaren Mehrwert signalisieren, wie etwa den der Kulturkirche. Jede Kirche ist eine Kulturkirche. Jede Kirche ist Lern- und Begegnungsort mit Geschichte und Gegenwart von Musik und Sprache, von Architektur und Glaube. Mehr als 1.600 solcher Kirchen finden sich mittlerweile in der Kulturkirchen-App und auf der Webseite www.kulturkirchen.org.

Wie wichtig für den Erhalt unserer eigenen Identität die Kunst ist, ist oft Inhalt von Reden und Aufsätzen. Goethe hat im Faust auf den nötigen und reflektierenden Umgang damit verwiesen: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen". Wie selten diese Überlegungen aber praktische Handlungsorientierung geben, offenbaren immer wieder etliche Kirchengemeinden - etwa im Umgang mit den altehrwürdigen Kirchengebäuden, die kostspielig renoviert, aber nicht mehr verstanden werden, weil wir verlernt haben, sie zu lesen und wir ihre ikonographische Bildkraft nicht mehr buchstabieren können. Weil uns ein herausgeputztes Kleid reicht und uns dessen Hintersinn und Bildlichkeit, die oft einziger und unmittelbarer Ausdruck unserer Vorfahren war, als Ornament genügt. Auf die Bürde leerer, teurer Hinterlassenschaften reagiert Faust im begonnenen Monolog fortfahrend: "Was man nicht nützt, ist eine schwere Last". Erfahrungen zu ermöglichen, die der Bewahrung unseres ererbten Gutes dienen, die das Sehen wieder neu lehren und dadurch wieder zu aktivem und selbsttätigem Umgang damit befähigen, ist eine wesentliche Aufgabe der Kirche im Umgang mit (ihrer) Kunst.

Wie schön, wenn das passiert! Es ist berührend zu sehen, wie kreativ Kinder an Kunst heran geführt werden - etwa im Kunstraum Notkirche an der Apostelkirche in Essen oder in der Marienkirche in Berlin. Museen wie beispielsweise die Berliner Museen machen es vor, wie Kunst verstehen aussehen kann - sie laden mit klugen und sinnbildlich ausgerichteten Führungen Kinder ein, Sehen zu lernen. Engel-Führungen sind beflügelnd - nicht nur für Kinder.

Eine Frage der Haltung

Es ist spannend, wie sich Gemeinden im gemeinsamen Diskurs neuer Kunst öffnen und sie beauftragen - etwa die Evangelische Kirchengemeinde in Oestrich-Winkel mit neuen Kelchen und Patenen der Metallkünstler Charlotte Gehring und Marc Hilgenfeld aus Frankfurt am Main oder die St. Matthäus-Kirche am Kulturforum in Berlin mit immer neuen Altarbildern wie zuletzt der Pietà von Thomas Bayrle.

Es ist Ausdruck bewusster Auseinandersetzung und besonderen Selbstverständnisses, wie Gemeinden im Verbund mit identitätserhaltenden Vereinen künstlerische Besonderheiten achten und präsentieren - wie bei der 1921/22 von dem Grafiker und Maler Karl Völker (1889-1962) neu ausgemalten barocken Dorfkirche in Schmirma (Sachsen-Anhalt) oder der 1986/88 von dem Holzbildhauer Friedrich Press (1904-1990) gestalteten spätgotischen Kirche St. Barbara in Ortrand (Brandenburg). Gleiches gilt für das Engagement, wenn es um die aufwendige Restaurierung besonderer Werke früher Jahrhunderte und um deren inhaltliche Verankerung im Bewusstsein geht. Auch hier entstehen neue Bündnisse aus Gemeinden und Vereinen, die ihre Kirche als das sehen, was sie ist: als einen zu erhaltenden, identitätsstiftenden kulturellen Ort, als eine Kulturkirche - wie die Dorfkirchen in Klein Helle und Bauer-Wehrland (Mecklenburg) oder die Stadtkirche Monschau (Nordrhein-Westfalen).

Wenn Kirchengebäude nicht allein als finanzielle Bürde, sondern dergestalt vielfältig und assoziativ wahrgenommen werden, kann man auch gelassener mit dem Umstand umgehen, dass in Zukunft immer mehr Kirchen nicht mehr in ihrem ursprünglichen Sinne gebraucht werden. In dieser kulturellen Einbindung bekommen sie eine neue Aufgabe, die ihrer Geschichte gerecht wird. Die Stadtpfarrkirche in Müncheberg (Brandenburg) mit der Bibliothek oder St. Jakobi Stralsund mit dem Ensemble "Die Eckigen" und der Kooperation mit dem Theater der Stadt geben gute Beispiele dafür.

Fontanes sagenhafte Melusine aus dem berühmten Stechlin steht als Patin für die zweite wichtige Aufgabe der Kirche im Umgang mit der Kunst: "Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben". Dies scheint umso nötiger, wenn sich die Zugkraft der Alten auf uns Heutige im Ästhetischen zu erschöpfen scheint und die Sehnsucht nach neuer Deutung mit der nach neuer Wirklichkeit Hand in Hand geht. Hier ist Kirche in dreifacher Hinsicht aufgefordert, aktiv zu sein - als Einsichtige, dass Kunst heute weniger eine Frage der Stilrichtung als vielmehr eine der Haltung ist und dafür streitbare, individuelle Ansätze unabdingbar sind. Als Auftraggeberin, die die aktuelle Auseinandersetzung mit der Bibel fördert und in der Öffentlichkeit diskutiert, und als Vermittlerin, die die Angst vor der eigenen Urteilsfähig-keit nimmt, indem sie selbst Verstehen lernt und das Verstehen aktiv fördert.

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Klaus-Martin Bresgott

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