Plädoyer

Wut - ein unterdrücktes Gefühl
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Wut ist ein zentrales Gefühl der menschlichen Grundausstattung. Heidi Kastner will es wieder ins Bewusstsein rufen.

Schon der Titel rüttelt auf. "Wut" auf rotem Buchdeckelgrund - aber was soll es vermitteln? Ein Ratgeber- oder ein Sachbuch, das den eigenen Umgang mit der Wut beleuchten und erleichtern will? Mitnichten, darum geht es Heidi Kastner nicht - oder doch nur sehr am Rande (siehe Seite 34). Die Chefärztin der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik Linz, setzt viel früher an: Sie will Wut, dieses zentrale Gefühl der menschlichen Grundausstattung, überhaupt erst einmal wieder ins Bewusstsein rufen. Und sie ruft auf "für die Wahrnehmung der eigenen Emotion, der echten Gestimmtheit und für die Kommunikation dieser Gestimmtheit in verträglicher, aber klarer und deutlicher Form". Anhand eines historischen Rückblicks zeigt die Österreicherin, dass es sicherlich eine zivilisatorische Leistung ist, die Wut zu bändigen und sie zu kontrollieren. Doch heutzutage werden negative Gefühle wie Wut oder Trauer systematisch tabuisiert. Das Bedrohliche und Unangenehme werde ihrer Ansicht nach von einer zum Vergnügen verdammten Gesellschaft abgewehrt. Mit schlimmen Folgen, wie die Medizinerin aus der Praxis belegt. Ihre These: Das Gefühl der Wut ist in unserer Gesellschaft einem Gefühl der Betroffenheit gewichen. "... Es scheint, als hätte die gesammelte zivilisatorische Ächtung der Wut, abgesehen davon, dass die individuelle und punktuelle Wut sich davon nicht beeindrucken ließ, vor allem einen Vormarsch der Betroffenheit bewirkt und diese zur Grundemotion der zivilisierten Welt werden lassen. Was sind wir nicht alle betroffen von den Gräueln der Nutztierhaltung, ... von der Brutalität der Wirtschaftstreibenden, vom unerträglichen Umgang mit nordafrikanischen Emigranten...".

Viele Menschen hätten das "offizielle Wutverbot" adoptiert, distanzierten sich von allem Klaren, Deutlichem, Direktem - Zorn und Wut würden ausschließlich bei anderen als Aggression erkannt und gehörig geschmäht. Überhaupt sei mit dem Begriff der Aggression ein Terminus technicus eingeführt worden, der unerwünschte, weil im sozialen Kontakt störende Gefühle auf etwas klinisch Krankes reduziere. Dabei gilt: "Nur dort, wo sich Muster, nach denen Menschen mit ihrer Umwelt in Kontakt treten, sich wiederholen, und eine breite Spur von Leid und Verwüstung hinterlassen, sind diagnostische Zuschreibungen zulässig." Die Chefärztin flechtet Geschichten aus der Praxis ein und erklärt, welche Formen der Wut es gibt, was sie beeinflusst, wie Krieg, privater Stress, Übermüdung oder Alkohol. Und sie zeigt, dass die Trennung von Körper und Geist, die sie als "unselige, weil wirklichkeitsfremde Zweiteilung" bezeichnet, den Blick auf die Bedürfnisse des Körpers verstellt.

Heidi Kastner ist es gelungen, das Wesentliche als schlüssiges Plädoyer auszuwählen und auf gut 125 Seiten darzustellen. Der Leser gewinnt einen Einblick in die Funktion der Wut und zugleich einen Schlüssel zu ihrem Verständnis und Nutzen. Indem Kastner die antiken Erfahrungen mit Wut rekonstruiert, ihre Bedeutung im Mittelalter definiert, ausführlich über die Wutbürger von heute schreibt, liefert sie zugleich eine Geschichte der Wut. Natürlich ist sich die Autorin darüber im Klaren, dass sie mit ihren Beispielen lediglich eine kleine Furche auf dem schon beackerten Feld der historischen Wutliteratur zieht. Zu Kastners wichtigsten Gewährsmännern zählt Montaigne (1533-1592). Auch dieser formuliert über die Wut, dass alle Laster am gefährlichsten werden, wenn sie sich unter dem Mantel der Unauffälligkeit versteckten. Der Essay ist klug, kurzweilig und kenntnisreich geschrieben, nie aber verleugnet Heidi Kastner in welchem Maße sie das Thema persönlich beschäftigt, nämlich Tag für Tag.

Heidi Kastner: Wut. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2014, 124 Seiten, Euro 14,90.

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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