Gefühl einer Krise

Wut und Protest - wie sich die Voraussetzungen der Demokratie ändern
Misstrauen gegenüber der etablierten Politik und traditionellen Großorganisationen zeichnen den Wütbürger aus. Foto: dpa/ Tobias Hase
Misstrauen gegenüber der etablierten Politik und traditionellen Großorganisationen zeichnen den Wütbürger aus. Foto: dpa/ Tobias Hase
Das Wort "Wutbürger" wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2010 gekürt. Doch was steckt dahinter? Es geht im Kern um eine neue Balance in Politik, Demokratie und Gesellschaft und um die Frage nach der Stellung des Bürgers in ihr, meint Felix Butzlaff, Politikwissenschaftler am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Parteien, Gewerkschaften und die großen Kirchen verlieren nicht nur in Deutschland seit gut zwei Jahrzehnten kontinuierlich an Mitgliedern. Die Wahlbeteiligung geht auf allen Abstimmungsebenen zurück, und das gemessene Vertrauen in die Vermittlungsinstanzen im demokratischen Prozess ist ebenso rückläufig. Die traditionellen Großorganisationen haben sich als etablierte Sammlungsformationen, wenn vielleicht auch noch nicht überholt, sind aber in ihrer Integrationsfähigkeit deutlich geschwächt. Auch sie stellen sich die Frage, ob ihre Organisationsformen noch zeitgemäß sind, beziehungsweise, ob sie zukünftig noch in der Lage sein werden, mit der gesellschaftlichen Heterogenität so umzugehen, dass sie wesentliche Gruppen der Bevölkerung erreichen und einbinden können.

Der "Wutbürger", von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2010 gekürt, hat diese Konflikte für Deutschland auf einen Begriff gebracht, mit dem ein gewachsenes Unverständnis und Misstrauen der etablierten Politik und den traditionellen Großorganisationen gegenüber von immer mehr und immer selbstbewusster auftretenden Bürgern verbunden wird. Wenn die Proteste gegen den Bahnhofsneubau in Stuttgart 2010, den Umbau eines Platzes im Istanbuler Stadtzentrum im Frühsommer 2013 oder die Proteste gegen die brasilianischen Ausgaben für den Infrastrukturbau anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2014 als Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins gut ausgebildeter Mittelschichten gedeutet werden, dann geht es im Kern um eine neue Balance in Politik, Demokratie und Gesellschaft und um die Frage nach der Stellung des Bürgers in ihr.

Bei einer Krise der Demokratie muss es sich allerdings keineswegs automatisch um vermeintlich objektive, harte und nicht anzuzweifelnde Fakten und Problemlagen handeln, auf die man bei einer Betrachtung stößt. Vielmehr sind Krisen einer gesellschaftlichen oder politischen Ordnung oft genug Ergebnis sich verschiebender Demokratienormen oder Erwartungen. Was genau im Detail von einer Demokratie erwartet wird, wann man mit ihr zufrieden ist oder von ihr enttäuscht, ist das Ergebnis kommunikativer Aushandlungsprozesse zwischen Bürgern. Spezifische Demokratie-normen sind also letztlich das, was gesellschaftlich jeweils als gültig anerkannt wird. Eine Krise der Demokratie oder einer Gesellschaftsordnung kann sich folglich aus objektiven Problemlagen ebenso speisen wie aus einem Wandel der Erwartungen.

Organisierter Bürgerprotest, im Gegensatz zu aufflackernden Krawallen, die ebenso rasch wieder verschwinden, etwa bei den Widerständen gegen Infrastruktur-, Energiewendeprojekten oder Globalisierungsphänomene, kann zunächst als Zeichen von Selbstbewusstsein innerhalb einer Gesellschaft verstanden werden. Eine wahrgenommene Häufung von Protesten wäre dann Resultat einer biographischen Entwicklung vieler Menschen, die in ihnen dieses Selbstbewusstsein hat entstehen lassen, um denjenigen Phänomenen mit eigenem Engagement und direkt entgegenzutreten, die ihren Vorstellungen von Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft zuwiderlaufen. Es ist darüber hinaus ein Signal, dass etablierte Mechanismen der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung und -vermittlung nicht mehr umfassend akzeptiert werden, dass der Output politischer Prozesse nicht mehr als hinreichend empfunden wird oder dass die eigenen, individuellen oder kollektiven Fähigkeiten, Themen beurteilen und über diese entscheiden zu können, als der Politik überlegen eingeschätzt werden.

Positiv-elitäres Selbstbild

Protest und Widerspruch sind dabei Verhalten, die individuell und gesellschaftlich gelernt werden. Unabhängig von den jeweiligen Geburtsjahrgängen gibt es Bezugspunkte in der deutschen Geschichte, die Teil eines Selbstverständnisses im Protest und des organisierten Widerspruchs geworden sind. Besonders die Neuen Sozialen Bewegungen der ausgehenden Siebziger- und Achtzigerjahre sind zu Chiffren geworden. Hier hat man gelernt, selbst oder durch andere, dass man etwas bewegen kann, dass Widerspruch und Opposition etwas Positives sind, kollektive gesellschaftliche Verinnerlichungen eines durch die Protestbewegungen versinnbildlichten Selbstbewusstseins. Aktive ostdeutscher Provenienz betonen an diesen Stellen meist die Erfahrung mit der Überwindung des Realsozialismus, die ihnen vor Augen geführt habe, zu welcher Wirksamkeit zivilgesellschaftlich organisierter Widerstand imstande sei.

Alter, Einkommen, Bildungsstand, Sozialkapital - diese Kriterien machen darüber hinaus deutlich, dass wir es bei den organisierten Bürgerprotesten und den Wutbürgern nicht mit einem Aufbegehren von Underdogs zu tun haben, sondern im Gegenteil: dass diejenigen Proteste organisieren, die gut gebildet, mit überdurchschnittlichem Einkommen und Sozialkontakten, zu den ressourcenstarken, arrivierten Menschen unserer Gesellschaft gehören.

Bürgerprotesten wohnt dabei ein dynamischer, sich selbst verstärkender Charakter des Widerspruchs inne: Nicht nur sind es die Selbstbewussten, die protestieren, sondern wer protestiert, sammelt zusätzlich Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten. Insofern steht eine kritische Betrachtung der bestehenden Ausprägung der repräsentativen Demokratie nicht allein am Anfang eines Engagements im Protest, sondern ist oft genug Ergebnis desselben. Weil die Aktiven in den Protestgruppen das Gefühl gewinnen, von Parteien und Behörden nicht ernst genommen, nur häppchenweise informiert oder einbezogen zu werden, vertieft sich bestehendes Unbehagen noch.

Betont misstrauisch

Damit einhergehend geben sich die Protestierenden betont misstrauisch gegenüber jedweden Großzusammenfassungen wie etwa politischen Parteien. Historische Vertrauensdepots, die die eigene Individualität in einer sozialen Gruppe oder Milieu gut aufgehoben sahen, und die darüber halfen, die Voraussetzungen für die Integrationskraft einer Demokratie zu sichern, scheinen sich immer weiter aufzuzehren. Das im Schnitt fortgeschrittene Alter der Protestierenden verstärkt diese Charakteristika noch. Mit zunehmendem Alter wird es wahrscheinlicher, individualisierte Selbstwirksamkeitserfahrungen anzuhäufen, die sich auch in direkte politische Wirksamkeitserwartungen übersetzen. Nicht unbedingt alle sollten direkten Zugang zu Entscheidungsmechanismen bekommen; ich sollte es. Dies ist ein Zusammenhang, auf den der Soziologe Albert O. Hirschmann hingewiesen hat: dass mit zunehmendem Alter und Engagementerfahrung der Fokus von einer Gemeinwohlorientierung immer stärker auf die Verfolgung ganz individueller Ziele verengt wird.

Mehr Erfahrungsjahre sind auch ein zentrales Signum alternder Gesellschaften und lassen ein spezifisches Protestprofil entstehen, das für die europäischen Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten bestimmend sein wird. Zudem hat sich auch der beschriebene dynamische Mechanismus der kollektiven Erfahrungsspeicherung von Rolle und Wert von Protest beschleunigt - immer mehr junge Menschen können die Erfahrung machen, dass Protest gut, wichtig und selbstverständlich ist. Beide Wirkungsbahnen, sowohl die individuelle Wirkungserwartung als auch die kollektive Verinnerlichung des Wertes von Protest, haben zugenommen - was den aktuell wahrgenommenen Anstieg von Bürgerprotesten erklären kann - und dürften in der Zukunft eher noch weiter anwachsen.

Dass die Organisatoren von Bürgerprotesten zu den Starken innerhalb der Gesellschaft gehören, verdeutlicht sich auch durch ihre eigene Interpretation des Zusammenhangs von Bildung und Protest: Es ist ihnen ein Anliegen, zu zeigen, dass sie einen besseren, früheren Durchblick über die Zusammenhänge der Welt erlangt haben; weil sie diese Zusammenhänge verstanden haben, protestieren sie. Damit zusammenhängend beäugen sie misstrauisch diejenigen, die nicht protestieren, und sind überzeugt, dass bislang nicht Aktive lediglich die richtige Einsicht noch nicht erlangt haben oder sich dieser verweigern - aber aktiv würden, wenn man sie nur erreichen könnte. Es ist ein positiv-elitäres Selbstbild als Kader.

Dass man seine Kraft einem zentralen Thema widmet, welches in Zeiten hoher Mobilisierung und der Zuspitzung von Protesten zur zentralen und alles andere dominierenden Kraft wird, verschafft den Protestierenden eine tiefe Zufriedenheit über das eigene Handeln. Diese ziehen sie aus der Überzeugung, ein nachahmenswertes Beispiel zu geben: Man verkörpert mit der Protestarbeit die eigenen Ideale und unterstreicht gleichzeitig, dass Pfadabhängigkeiten der Parteiendemokratie durchbrochen und die eigenen Vorstellungen des Zusammenlebens für alle sichtbar verwirklicht werden können. Den Aktiven ist ihr Protest ein gesellschaftliches Experimentierfeld, auf dem sie sich verdient machen.

Das Aufflammen von Protesten zeugt auch von dem Gefühl einer Krise: gesellschaftlich, politisch, ökonomisch wie ökologisch. Eine Unübersichtlichkeit von Zusammenhängen und Verantwortlichkeiten in Politik und Gesellschaft gelten den Protestierenden dabei als Anzeichen und Ursache. Sie müssen zwar als gesellschaftlich "Starke" keinen unmittelbaren sozialen Abstieg fürchten - sie empören sich aber über diejenigen, die doppelbödig Leistungskriterien aufstellen und diese dann verletzen, um sich selbst Profite zu sichern. Sie sehnen sich nach persönlicher Verantwortung und wüssten gern, wen sie für Fehlentwicklungen verantwortlich machen können. Auch daher rührt ihre Wut auf Politik und Parteien, die sich ihrem Empfinden nach diesen Personalisierungen entziehen.

Garant für Unverfälschtheit

Das Kleine, Örtliche, Übersichtliche hingegen erscheint ihnen nicht so leicht korrumpierbar, sondern vergleichsweise rein und unverdorben. Die lokale Gemeinschaft wird dabei zum Garanten für Unverfälschtheit und Sicherheit. Trotz Individualisierungsdrang gibt es unter den Wutbürgern ein starkes Bedürfnis nach einer schützenden, Identität und Geborgenheit stiftenden Gemeinschaft. Deren Akzeptanz aber ist für viele schwierig geworden, da die eigene Individualität ins Zentrum von Denken und Handeln gestellt wird.

Die eigene, lokale Protestgruppe ist den Protestierenden Schutzraum für Identität, aber auch für ihren sozialen Status, den sie als lokale Elite verteidigen. Die Gemeinschaft am Ort gilt einerseits als besonders effizient in der Organisation gesellschaftlicher Entscheidungsfindung. Gleichzeitig aber gilt ihnen ökonomische Effizienz als ein oftmals bedrohliches Kriterium, dem sich eine lokale, vertraute Schutzgemeinschaft zu entziehen versucht. Ökonomische Effizienz als Entscheidungskriterium hat im Ganzen für die Protestierenden eine bemerkenswert zwiespältige Rolle: Sie ist Fluch und Segen zugleich. Protestierende empfinden sich aber aus ihrer Biographie heraus als überlegene Gegenexperten zur schwerfälligen repräsentativen Parteiendemokratie, und sie reklamieren für sich einen besseren Überblick über das Gemeinwohl. Die Entscheidungsqualität und -geschwindigkeit der Demokratie zu verbessern, indem die Politik auf ihren Protest und ihr Fachwissen eingeht - das erscheint als logisch und wünschenswert, auch aus gesellschaftlicher Perspektive. Der Gedanke, sich als Parteimitglied in ein programmatisches Korsett zu begeben, das man in Gänze mitzutragen hat, und nur in kleinen Teilen selbst beeinflussen kann, erscheint vielen der Protestaktiven unattraktiv. Die eigene Individualität und biographische Komplexität, so der Vorbehalt, verträgt sich nicht mit einer programmatisch einengenden Parteimitgliedschaft. Besonders die Konsens- und Kompromissorientierung, die Parteien zwangsläufig aufrecht erhalten müssen, um die verschiedenen Interessen ihrer Mitglied- und Anhängerschaft auszutarieren, ist es, welche den Bürgerprotestlern als Zeichen der Verknöcherung von Parteien gilt. Konsensfindung als Kernelement politischer Parteien ist in ihren Augen der Grund, warum keine sachadäquaten Lösungen in der Politik mehr zustande kommen. Gegenüber den direkten, individuell grundierten Wirkungserwartungen unter den Aktiven der Proteste sind öffnende Parteireformen hilflose Antworten, die kaum in der Lage sind, Überzeugung und Attraktivität zu entfalten. Die Parteireformen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben an dieser Kritik jedenfalls nichts verändern können.

Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Verengung in den Initiativen und Protestgruppen ist die Forderung nach individueller Definitionsmacht für das Allgemeinwohl aus demokratischer Perspektive hochproblematisch. Wenn nur diejenigen als Kontrollinstanz für ein Gemeinwohl wirken können, die ganz individuell die Ressourcen, Fähigkeiten und das Selbstbewusstsein dazu haben, würde eine Exklusion ganzer sozialer Gruppen, die durch den weniger aufwändigen Partizipationskanal von Wahlen oder Repräsentativorganen bislang noch Eingang in die politischen Entscheidungsstrukturen finden, womöglich noch weiter fortschreiten. Das Problematische liegt darüber hinaus in der Desillusionierung gegenüber den bestehenden Institutionen: Ihr Protest ermöglicht es den Wutbürgern, Emotionen zu erleben, die sie bei Parteien und den etablierten Institutionen nicht mehr zu erlangen glauben - auch, weil innerhalb ihrer Bündnisse und Gruppen vermeintlich nicht so viel Kraft auf die Etablierung eines verbindlichen Konsens und eines gegenseitigen Vertrauens mehr aufgebracht werden muss. Man fühlt sich unter verlässlich Gleichgesinnten. Wenn diese gefühlte Homogenität aber zum verbindenden Moment der Gruppen würde, die sich besser und direkter Zugriff auf die politischen Regelungsinstanzen sichern können, droht eine Entsolidarisierung der Demokratie mit all jenen, denen der Zugang in die Selbstorganisation von Einfluss nicht im gleichen Maße gegeben ist.

Literatur

Stine Marg / Lars Geiges / Felix Butzlaff / Franz Walter (Hrsg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die neuen Protestbewegungen? Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013, 352 Seiten, Euro 16,95.

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Felix Butzlaff

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