Im Niemandsland des Verstehens

Eine Klassenfahrt ins ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau
Geschockt und konzentriert: Schüler aus Lünen/Westfalen im Museum der KZ-Gedenkstätte Auschwitz vor der Fotowand "Nach der Selektion, 1944". Foto: Rolf Zöllner
Geschockt und konzentriert: Schüler aus Lünen/Westfalen im Museum der KZ-Gedenkstätte Auschwitz vor der Fotowand "Nach der Selektion, 1944". Foto: Rolf Zöllner
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee zum siebzigsten Mal. Jedes Jahr fährt der zwölfte Jahrgang einer Schule aus Lünen/Westfalen auf Studienreise nach Auschwitz. Diesmal haben "zeitzeichen"-Chefredakteur Reinhard Mawick und der Fotograf Rolf Zöllner die Schüler begleitet.

Am Ende des Tages sind die Meinungen geteilt. "Ich hatte gedacht, dass es schrecklicher aussieht. Wenn man die Filme sieht, dann ist es sehr emotional", sagt Anna-Lena. Katja widerspricht: "Ich fand es sehr emotional, zwischenzeitlich musste ich mich zusammenreißen." Dominik pflichtet ihr bei: "Es war emotionaler als im Film. Wenn man genau an der Stelle ist, ist das etwas anderes." David dagegen bleibt dabei: "Man kann es sich schwer vorstellen, wenn es nicht gerade wirklich passiert!"

Die vier jungen Leute haben "es" gerade hinter sich - den Besuch der Gedenkstätte des ehemaligen Konzen-trationslagers Auschwitz-Birkenau. Der Tag hatte früh begonnen: um sieben Uhr Frühstück im Hotel Wyspianski nahe der malerischen Altstadt in Krakau, Adresse: Westerplatte 15. Dort wohnen die drei 17-Jährigen und Katja, 20, seit Montag zusammen mit etwa 100 Mitschülerinnen und Mitschülern aus dem westfälischen Lünen. Seit 2008 fährt das Lippe-Berufskolleg Lünen in jedem Jahr mit der Jahrgangsstufe 12 auf Studienreise nach Krakau.

Belastete Sprache

Gestern, Dienstag, gab es eine Stadtrundfahrt mit Besuch des Oskar-Schindler-Museums in Krakau, da begann alles eine Stunde später. Heute, Mittwoch, müssen alle schon um acht Uhr im Bus sitzen. Ein kalter düsterer Mittwochmorgen Ende November, Nebel begrenzt das Sichtfeld, wenigstens scheint es trocken zu bleiben. Heute geht es nach Auschwitz, 80 Kilometer Richtung Westen.

Eineinhalb Stunden dauert die Busfahrt über die Landstraße von Krakau zur staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Das Wetter ist besser geworden, die Sonne lässt sich blicken. Jede der vier Klassen bekommt eine separate Führung. "Alle sammeln sich hinter ihrem Führer", ruft ein Lehrer, um Ordnung zu schaffen in dem Gewusel. Ein paar Jungs unterdrücken ein Lachen. Wie unpassend an dieser Stelle. Dann fällt es ihm selbst auf: "Ach Mensch, ich meine Gruppenführer!" - Gruppenführer? Noch schlimmer. Deutsche Sprache, schwere Sprache. "Guide" heißt schließlich das Zauberwort.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Eine kurze Zeit fotografierten die Nazis alle Häftlinge, die neu kamen. Ihre Lebensdauer im Lager betrug meist Wochen, manchmal nur Tage.

Der Guide für die Klasse von David, Dominik und Katja heißt Wieslaw Swiderski. Er bittet zunächst alle, die Kopfhörer aufzusetzen und das kleine Empfangsgerät anzustellen, das alle am Eingang bekommen haben. So kann man ihn gut verstehen, er wird in den nächsten gut zweieinhalb Stunden zur inneren Stimme, zur Stimme, die immer da ist, auch wenn man ihn nicht sieht. Swiderski deutet auf das Eingangstor. "Arbeit macht frei" steht in eisernen Buchstaben darüber. Er stellt klar: "Die Arbeit machte nicht frei, sondern sie war ein Werkzeug zur Vernichtung!" Dann geht es los: 28 Blöcke, das heißt Häuser aus Backstein, im Stammlager Auschwitz I sind zu besichtigen. Nicht in jedes gehen die Gruppen, aber in viele, und in jedem lauert das Grauen. Früher real, heute in Bildern, Tafeln und Texten und in den Erläuterungen aus dem Kopfhörer.

Schlimm und schlimmer

Wieslaw-"die-innere-Stimme"-Swiderski, erzählt von den Anfängen des Lagers bis 1942, zum Beispiel, dass die Häftlinge an den alten polnischen Kasernen den Putz abklopfen mussten, damit das Design der Gebäude einheitlich in Backstein daherkam. Swiderski spricht ganz ruhig, überhaupt nicht dramatisch, sondern betont sachlich, kaum in erhöhtem Ton. Manchmal verlangsamt er seine Rede und dehnt die Worte. Dann ahnt man, dass es schlimm wird, beziehungsweise noch schlimmer, als es schon ist. Swiderski erzählt von den entwürdigenden Aufnahmeprozeduren für die Häftlinge, dass ihnen alles weggenommen wurde, dass sie sich nackt ausziehen mussten und dass dann "al-le Kör-per-öffnun-gen" durchsucht wurden. Einige der jungen Leute zucken zusammen. Aber weiter, weiter, sie haben längst noch nicht alles gesehen.

Swiderski hetzt nicht, aber er hat ein hohes Tempo. Rein in Häuser, raus aus den Häusern, Treppen rauf, Treppen runter. Vorbei an Bergen von leeren Koffern, Bergen von Kleidern, Prothesen, Kinderschuhen und - Haaren. Abrasiert, um industrielle Verwendung in der Filz- und Garnherstellung zu finden. In einem Flur hängen Fotos von Häftlingen, hunderte. Einige Monate im Jahr 1942 hatten die Nazis mal alle Häftlinge, die zur Arbeit eingeliefert wurden, nicht nur per Karteikarte, sondern auch per Porträtfoto erfasst. Die Schüler lesen die Namen, die Daten, betrachten die Antlitze. Vermerkt sind der Tag der Einlieferung und der Tag des Todes. Selten liegen Monate zwischen beiden Daten, meist Wochen, häufig Tage.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Wieslaw Swiderski führt die Schüler aus Lünen durch die Gedenkstätte. Hinter ihm ein Foto von Kindern in Auschwitz, entstanden nach der Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1945.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Man kann nicht immer hinsehen. Viele schreckliche Eindrücke sammeln die Schülerinnen und Schüler aus Deutschland.

Wie hatte Swiderski gesagt: "Die Arbeit machte nicht frei, sondern sie war ein Werkzeug zur Vernichtung!" Katja kann es nicht fassen: "Die mussten sich trennen von den Familien, und wir jammern heute bei jeder Kleinigkeit. Die hatten dafür keine Zeit, die mussten einfach nur funktionieren, die hatten keine Träume. Wenn ich mir die Bilder angucke: Die Augen sind einfach nur leer ..."

Es geht in das ehemalige Lagergefängnis: Die Klasse steigt tief hinab zu den Stehbunker-Zellen. Swiderski: "Hier mussten die Häftlinge die ganze Nacht stehen - n-a-c-h einem Arbeitstag von 12, 13 Stunden ...". Hinab und wieder hinauf. Dann, endlich, eine kleine Pause im Hof vor der Erschießungswand neben dem Gebäude. Hier liegen Kränze und Blumen. Bald drängt Wieslaw-"die-innere-Stimme"-Swiderski zum Aufbruch. Als nächstes kommt das Krematorium an die Reihe. Bitte keine Fotos aus Respekt vor den Toten, mahnt er. Ach ja, da, hinter dem Zaun ist der Galgen, an dem Lagerkommandant Rudolf Höß am 16. April 1947 gehängt wurde.

Cola und Sandwichs

Gut zweieinhalb Stunden sind vergangen, als Wieslaw-"die-innere-Stimme"-Swiderski sagt: "Jetzt ist eine halbe Stunde Pause, Sie haben das so gewünscht!" Um 13:00 Uhr gehe es weiter mit dem Bus nach Birkenau. Und bitte die Empfangsgeräte samt Kopfhörer wieder abgeben. Die Schüler gehen zum Ausgang. Vor dem Eingang des Museums auf dem Parkplatz steht eine Imbissbude: schwammige Sandwichs, eine Cola, dann zurück zum Bus, Abfahrt. Nach kurzer Fahrt taucht die berühmte Silhouette des Lagertors samt Turm von Auschwitz-Birkenau auf. Bei der Führung muss man in der Nähe von Wieslaw Swiderski bleiben, um ihn zu verstehen, die innere Kopfhörerstimme gibt es nun nicht mehr.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Stacheldraht zwischen den Blöcken in Auschwitz.

Hier in Birkenau dominiert die Weite - im Unterschied zur Enge der Baracken im Stammlager. Unendliche, beklemmende Weite: Schornsteine und Stacheldraht bis zum Horizont. Anders als im Stammlager sind hier die Baracken aus Holz. Nur wenige sind erhalten, die meisten wurden von der SS wenige Tage vor der Befreiung angezündet. Von ihnen stehen nur die gemauerten Teile und ragen die Schornsteine in die Höhe. Man betritt das erste Gebäude, Swiderski sagt: "Die Baracken in Birkenau waren eigentlich für 52 Wehrmachtspferde gedacht. Nach diesem Modell wurden sie gebaut. Jetzt wurden da 1000 Häftlinge reingestopft." Er hält kurz inne, dann fährt er fort: "Es gab ein Problem: Stellen Sie sich vor: Ruhrkranke Menschen mit Durchfall." Will man sich das vorstellen? Einige Schüler schütteln sich.

Wieder vergehen gut zwei Stunden. Swiderski berichtet von der Deportation und Vernichtung der Sinti und Roma, von der Deportation der ungarischen Juden im Sommer 1944. Das Gelände ist weitläufig, monströs weitläufig. 100.000 Häftlinge waren hier im Sommer 1944 inhaftiert, wobei an der Rampe 80 Prozent der Neuankömmlinge jeden Tag sofort in die Gaskammern geschickt wurden. Ein Originalwaggon steht da, an den Gleisen läuft die Gruppe entlang. Manchen der Schüler tun die Füße weh, langsam ist es genug. Andere bleiben Swiderski dicht auf den Fersen.

Die letzten Zeugen sterben

Als letztes steht die Besichtigung der sogenannten Zentralsauna an, das Gebäude diente als "Entwesungs - und Desinfektionsanlage" der Menschen, die als arbeitsfähig selektiert und als Häftlinge eingewiesen wurden. Das Gebäude ist original erhalten. Es wurde erst Ende 1943 errichtet.

Die Gruppe geht den Weg, den die Häftlinge auch gehen mussten, durch den Duschraum, wo sie - je nach Bewacherlaune - entweder mit eiskaltem oder siedend heißem Wasser geduscht wurden. Vorbei am Trockenraum, wo die geduschten Häftlinge stundenlang bei offenen Fenstern warteten und so irgendwann trockneten, bevor ihnen die Haare abgeschnitten wurden. "Al-le Kör-per-haare", betont Swiderski. Fast immer habe es dabei Hautverletzungen gegeben.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Original erhalten: Eisenbahnwaggon auf der Rampe in Birkenau.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Der elektrische Stacheldraht brachte vielen den Tod.

Irgendwann ist es vorbei. Wieslaw Swiderski bittet die Gruppe noch einmal zu sich. Der Guide möchte sich verabschieden und hält eine kleine Rede. Die letzten Zeitzeugen sterben jetzt aus, umso wichtiger sei es, die Erinnerung wachzuhalten. Hier gelte das Wort des spanischen Philosophen George Santayana, das in großen Lettern im ersten Block des Stammlagers zu lesen ist: "Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Immer noch, so Swiderski, gebe es Menschen, die andere verfolgten, nur um ihres Andersseins willen. Er nennt Syrien, Irak, er nennt die Ostukraine. Deshalb, und hier hebt sich seine Stimme erstmals ein wenig, dürfe gerade die junge Generation nicht vergessen, was hier geschehen sei, auch wenn Auschwitz ein "Niemandsland des menschlichen Verstehens" sei.

Das Niemandsland

"Ich war eigentlich schon raus, aber damit hat er mich noch mal richtig gepackt", erinnert sich Dominik am Abend nach der Rückkehr in Krakau. Das Niemandsland geht den Schülern nicht aus dem Kopf. David und Dominik waren schon vor dem Besuch sehr gut "drin" im Thema. Schon auf der Realschule hatte sie die Geschichte der Nazizeit sehr interessiert. Damals hatten die beiden in einem Altersheim mit einer Zeitzeugin sprechen können, die selbst als Dolmetscherin in einem KZ gewesen sei. David: "Man weiß schon viele Dinge. Aber da gewesen zu sein, ist etwas anderes, als es nur zu lesen. Er bleibt dabei: "Man kann es sich sehr schwer vorstellen, wenn es nicht gerade wirklich passiert."

Katja ist am Ende des Tages klar: "Für mich bedeutet das, dass ich mich mit früher und mit heute auseinandersetzen muss." Ihr gehen die Bilder mit den Todgeweihten in Häftlingskleidung nicht aus dem Kopf, die in dem langen Flur in Auschwitz hängen: "Die Botschaft dahinter ist, dass man die Zeit wertschätzen sollte, die man zusammen verbringt - das kann im nächsten Moment weg sein. Wer weiß, was in ein paar Jahren ist?" Anna-Lena hadert mit dem Foto von den Kindern im Stammlager nach der Befreiung: "Sie sind trotzdem gestorben, weil sie dann zu viel zu essen bekamen - unvorstellbar!"

Text: Reinhard Mawick / Fotos: Rolf Zöllner

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