Gegenmodell zur Gesellschaft
Koptische Gottesdienste sind sehr gut besucht. Egal, ob in einer der großen Kirchen in Kairo, in Oberägypten auf dem Land oder in der Diaspora, wohin in den vergangenen Jahren viele ägyptische Christen ausgewandert sind: Die Reihen sind voll, die Leute singen und beten mit, und der Altersdurchschnitt ist erstaunlich niedrig. Dabei hat ein klassisch koptischer Gottesdienst nichts zu bieten, was auf moderne Menschen anziehend wirken könnte. Aber das ist vermutlich eine viel zu evangelisch-westliche Sicht auf die Dinge. Faktum bleibt: Die koptische Kirche schafft es, viele und vor allem junge Menschen in den Gottesdienst zu bringen. Fragt sich nur: Wie machen die das?
Das Geheimnis liegt in einer breit angelegten und konsequenten Jugendarbeit, deren Fundament die Sonntagsschulbewegung ist. Ursprünglich war die Sonntagsschule ein evangelisches Importprodukt. Missionare aus Amerika und Schottland waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Ägypten gekommen, um den einheimischen orthodoxen Christen eine in ihren Augen frischere Version des christlichen Glaubens zu predigen. Insbesondere ihr Sonntagsschulunterricht stieß in der Bevölkerung auf Interesse. In der koptisch-orthodoxen Kirchenhierarchie löste das einige Unruhe aus. Habib Girgis, ein junger Theologe, erkannte in dem Wissensdurst der Menschen eine große Chance für die eigene Kirche und gründete um die Jahrhundertwende die ersten koptischen Sonntagsschulen. Und das war der Beginn einer Erneuerungsbewegung, die bis heute anhält.
Die überwältigende Mehrheit der koptischen Kinder und Jugendlichen besucht heute die Sonntagsschule. Die Betonung liegt dabei auf Schule. Denn einen Kindergottesdienst wie in evangelischen Kirchen gibt es bei den Kopten nicht. Die Orthodoxie trennt sehr genau zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Zum Gottesdienst gehen die Kinder mit ihren Eltern, und in der Sonntagsschule erfahren sie, um was es dabei geht. Unterrichtet werden sie von ehrenamtlichen Sonntagsschullehrern, die selbst früher Sonntagsschüler waren. Nach diesem Muster funktioniert die Weitergabe des Glaubens von Generation zu Generation. Und in den Reihen der evangelischen Christen in Ägypten gibt es durchaus Stimmen, die mit gewissem Neid auf die orthodoxe Schwesterkirche schauen. "Sie haben eine unserer Ideen übernommen und machen es heute viel besser als wir", hört man immer wieder evangelische Pfarrer anerkennend sagen.
Laut und stimmbrüchig
Es ist Samstagabend. Im Nebengebäude der koptischen Markuskirche in Heliopolis bei Kairo herrscht ein Kommen und Gehen. Kinder und Jugendliche aller Altersstufen laufen durchs Treppenhaus. Die einen sind auf dem Weg ins Klassenzimmer, die anderen bereits auf dem Heimweg. Im ersten Stock trifft sich Khadim (= Sonntagsschullehrer) Mina mit seiner Klasse. Er ist zuständig für die 15- bis 16-jährigen Jungen. In der ersten halben Stunde lesen sich die Jugendlichen gegenseitig aus der Bibel vor. Und wer regelmäßig die Sonntagsschule besucht, hat irgendwann, die ganze Bibel von vorne bis hinten gelesen.
Danach singt die Klasse laut und stimmbrüchig in allen Tonlagen verschiedene Kirchenlieder. Schließlich ist Mina dran, eine Bibelstelle auszulegen. "Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. Zieht an die Waffenrüstung Gottes, dass ihr bestehen könnt gegen die listigen Anläufe des Teufels." Der Vers aus dem Epheserbrief dürfte in der evangelischen Jugendarbeit in Deutschland nicht unbedingt zum Standardrepertoire gehören. Für Khadim Mina dagegen stellt sich die Frage erst gar nicht, ob ein Bibeltext sperrig ist oder nicht. Seine Aufgabe ist es, den Jugendlichen die Bibel zu erläutern - Waffenrüstung hin oder her.
Die große Fastenzeit vor Ostern hat gerade begonnen. Jeder der 14 Jugendlichen fastet. Das heißt konkret: bis in die Mittagszeit wird weder gegessen noch getrunken, danach stehen nur nichttierische Produkte auf dem Speiseplan, also kein Fleisch, aber auch keine Milch, keine Butter, kein Käse. Die koptischen Fastenregeln sind hart, und bis Ostern ist es noch lange. Grund genug also, um über die kleinen und größeren Versuchungen des Alltags zu sprechen. "Der Teufel schläft nicht. Die Versuchung kommt auch zu uns. Allein können wir dagegen nicht bestehen", sagt Mina und führt aus, wie raffiniert der Teufel vorgeht, wenn er die Gläubigen versucht. Warum er dies tue, will er anschließend von den Jungs wissen. "Weil der Teufel selbst nicht in den Himmel kommen kann", sagt einer. "Weil er nicht will, dass wir dorthin kommen", ruft ein anderer. "Gott zeigt uns, wie wir es schaffen", sagt Mina und klickt die nächste Folie seiner Powerpoint-Präsentation an - ein Ritter in voller Montur.
Mina ist Anfang dreißig und einer der vielen ehrenamtlichen Sonntagsschullehrer in der Markuskirche. Mehr als 4.000 Kinder und Jugendliche im Alter von zweieinhalb bis 17 Jahren sind eingeschrieben. Das sind 140 Klassen à 30 Kinder. Jungen und Mädchen werden getrennt voneinander unterrichtet, aus Platzgründen das ganze Wochenende über, von Freitagvormittag bis Sonntag-abend. Das mehrstöckige Nebengebäude kommt selbst so schon an seine Grenzen. In den höheren Jahrgängen werden die Klassen in zwei Gruppen geteilt. "Ab einem gewissen Alter haben die Jugendlichen viele Fragen, für die wir uns einfach Zeit nehmen müssen", sagt Mina. Während seines Unterrichts schauen noch zwei andere Sonntagsschullehrer vorbei, setzen sich dazu, mischen sich ins Gespräch ein. Den Älteren ist es wichtig, dass die Jungen auf ihre Fragen Antworten bekommen.
Die Sonntagsschule in Heliopolis ist keine Ausnahme. Jede koptische Gemeinde in Ägypten und auch in der Diaspora organisiert diese Form der Kinder- und Jugendarbeit. Der Kirchenhierarchie ist die Wichtigkeit der Sonntagsschularbeit sehr bewusst. "Die Jugend ist die Zukunft der Kirche", hat der frühere Papst Schenuda III. immer wieder betont. Und sein Nachfolger Papst Tawadros II. hat nicht umsonst den Gründer der Sonntagsschule, Habib Girgis, im vergangenen Sommer heiliggesprochen. Beide Päpste sind selbst in der Sonntagsschulbewegung groß geworden. Tawadros war bereits als Kind ein eifriger Sonntagsschüler, wurde Khadim und leitete die Sonntagsschule in Damanhur. Er studierte Pharmazie und arbeitete schließlich als Geschäftsführer eines staatlichen Pharmaunternehmens, bevor er 1986 ins Bischoy-Kloster im Wadi Natrun eintrat. Es ist der typische Lebenslauf heutiger Mönche und Nonnen.
Vor fünfzig Jahren waren viele Klöster in Ägypten fast verwaist. Die Gebäude zerfielen, und nur noch wenige, oft schon alte Mönche hielten das Klosterleben aufrecht. Und das ausgerechnet im Ursprungsland des christlichen Mönchstums. Seit geraumer Zeit aber findet wieder ein regelrechter Run auf die Klöster statt, und es ist kein Geheimnis, dass dies unmittelbar auf die Sonntagsschulbewegung zurückzuführen ist. Ägyptens Klöster sind heute voll mit Leuten, die sowohl in Theologie bewandert sind, als auch Erfahrungen und Meriten im zivilen Leben gesammelt haben. Für die koptische Kirche ist dies auf lange Sicht von unschätzbarem Wert. Da in der Orthodoxie Bischöfe und Päpste aus dem Mönchtum kommen müssen, verfügt sie heute über qualifizierte Personalressourcen für Führungsämter wie keine andere Kirche auf der Welt.
Wer nach dem Erfolgsrezept der Sonntagsschulbewegung fragt, darf allerdings eines nicht ausblenden: Die Kopten sind in Ägypten seit langem eine diskriminierte Minderheit. Und das schweißt zusammen. Nur etwa zehn bis 15 Prozent der Ägypter sind Christen, und denen wird das Leben immer wieder schwer gemacht. "Die Kinder und Jugendlichen kommen gerne in die Sonntagsschule, weil sie wissen, dass sie hier mit Respekt behandelt werden und Wertschätzung erfahren", sagt Pfarrer Dawoud Lamy, der für die Sonntagsschule der Markuskirche zuständig ist. Unter der Woche würden viele Kinder und Jugendliche in der staatlichen Schule Diskriminierung erleben, würden wegen ihres Glaubens gehänselt, beschimpft und ausgegrenzt. "Die Sonntagsschule bietet ihnen ein Gegenmodell zur Gesellschaft", sagt Lamy.
Doch genau das ist der Punkt, warum in der jüngeren Geschichte die Machthaber Ägyptens sich von der Sonntagsschule auch immer bedroht fühlten. Wer einen so starken Einfluss auf das Denken und Handeln von Menschen hat, kann auch gefährlich werden. Die koptische Kirche wird deswegen nicht müde zu betonen, dass die Sonntagsschule eine rein religiöse Veranstaltung ist. "Wir unterrichten nur Religion, machen niemals Politik", sagt Jugendbischof Anba Musa, der seit Jahrzehnten für die Sonntagsschularbeit der koptischen Kirche zuständig ist. Der Mann mit dem langen weißen Bart muss selbst lachen, als er auf sein Alter angesprochen wird. 75 sei er bereits, aber die Jugend halte ihn lebendig.
Musa gilt als sehr beliebt bei den Jugendlichen. Innerhalb des Patriarchats gehört er zu den einflussreichsten Personen. 35 Schwestern, sieben Pfarrer, fünf Diakone und ein Mönch arbeiten ihm zu, organisieren Fortbildungen der Sonntagsschullehrer, betreiben Netzwerkarbeit über die sozialen Medien, passen die Lehrpläne an die veränderten Rahmenbedingungen an und denken über neue Methoden nach, wie die Jugend erreicht werden kann, auch die, die in der Diaspora leben. "Seit den beiden Revolutionen fühlt die Jugend in Ägypten, dass die Zukunft ihr gehört. Das müssen wir berücksichtigen", sagt Bischof Musa. "Wir können dieser Generation nichts mehr vorschreiben, wir müssen mit ihr interagieren." Dass die Lehrpläne, die erst vor fünf Jahren herauskamen, nun wieder geändert werden müssen, sei kein Problem. "Das Leben der jungen Leute hat sich geändert. Darauf müssen wir reagieren."
Soziologisch betrachtet lässt sich einwenden, dass die Sonntagsschulen eine Gesellschaft in der Gesellschaft schaffen. Neben dem reinen Bibelunterricht bieten die Kirchengemeinden im Rahmen der Sonntagsschule auch viele andere Freizeitaktivitäten an wie Feriencamps, Computerkurse, Chorsingen oder Sport. Wer will, kann seine Freizeit komplett in kirchlichen Kreisen verbringen. Und nicht wenige tun dies auch. Für gemeinsame Aktivitäten mit Muslimen bleibt entsprechend wenig Zeit. Das sehen auch die Verantwortlichen kritisch. Pfarrer Lamy sagt, dass sie in der Sonntagsschule die Jugendlichen deswegen immer wieder aufforderten, die Begegnung mit Muslimen zu suchen. Inwieweit die Sonntagsschule bei der Begegnung mit Muslimen selbst initiativ werden könne, müsse erst noch ausgelotet werden. Schließlich sei ihr Hauptzweck, den christlichen Glauben an die junge Generation weiterzugeben. Und das beinhalte auch die Vermittlung der christlichen Werte. "Wir bringen den Kindern und Jugendlichen bei, dass sie ehrlich, friedlich und respektvoll mit allen Menschen umgehen sollen, egal wie sie uns behandeln", sagt Pfarrer Lamy.
"Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösen, und nehmet den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes", heißt es im Epheserbrief. Khadim Mina erklärt seiner Sonntagsschulklasse, was unter dem Helm des Heils zu verstehen ist. "Es ist der klare Kopf, der weiß, was er will: das Richtige tun." Das Schwert des Geistes, das Wort Gottes, sei nicht nur zum Einzelkampf da. Jeder müsse auch für und um den anderen kämpfen. "Gottes Wort zeigt uns den richtigen Weg", sagt Mina und zeigt zum Schluss noch weitere Bilder von Rittern in Rüstungen, eine schöner als die andere. Am Ende stehen alle Jungen auf, drehen sich nach Osten und sprechen noch ein Gebet auf Koptisch. Das ist die liturgische Sprache der ältesten Kirche der Christenheit.
Katja Dorothea Buck
Katja Dorothea Buck
Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren zum Thema Christen im Nahen Osten, Ökumene und Dialog.