Auf's geistige Auge gerichtet

Gespräch mit dem Berliner Kunstpfarrer Christhard-Georg Neubert über Bilder in Kirchen, die heutige Bilderflut und die evangelische Bilderskepsis
Foto: Peter Himsel
Foto: Peter Himsel
In lutherischen und unierten Kirchen war die Ablehnung religiöser Bilder nicht so ausgeprägt, wie in den Kirchen, die sich der Schweizer Reformation verbunden wissen. Aber gemeinsam ist vielen evangelischen Theologen, dass sie die Musik höher schätzen als die bildende Kunst. Und oft wird letztere nur als Illustration dessen verstanden, was die Bibel sagt oder was in der Kirchengeschichte geschehen ist.

zeitzeichen: Herr Pfarrer Neubert, zunächst eine simple und doch schwierige Frage: Warum sollen in Kirchen Bilder zu sehen sein?

Christhard-Georg Neubert: Zuerst möchte ich daran erinnern, dass in den Kirchen Bilder zu hören sind. So bedient sich Jesus der Bilder, wenn er Gleichnisse erzählt. Und ein guter Prediger spricht auch in Bildern. Aber warum sollen in der Kirche nicht auch Bilder zu sehen sein? Im Mittelalter haben sie dazu gedient, denjenigen, die nicht lesen konnten, die Bibel nahezubringen, Stichwort: "biblia pauperum", Bibel der Armen. Aber, und das ist auch heute noch wichtig, Bilder sprechen zu uns in ganz anderer Weise als Worte, im günstigsten Fall helfen sie, uns in der Welt zu verorten.

Inwiefern?

Christhard-Georg Neubert: Bilder sprechen andere Sinne an, andere Sinnzusammenhänge und haben eine andere Macht als Worte. Wenn wir sie betrachten, fallen uns Dinge, auch Personen ein, die wir einmal gesehen haben. Und wir vergleichen zum Beispiel einen Cranach mit einem Beuys und fragen uns, warum der letztere etwas anders macht als der erstere, warum der eine die Christuswirklichkeit so interpretiert und der andere es ganz anders tut.

Nun ist die evangelische Kirche eine Kirche des Wortes. Sie sagt mit dem Römerbrief des Apostel Paulus: "So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi." Gibt es aus Ihrer Sicht, religiöse Einsichten, die Bilder besser vermitteln können als Worte?

Christhard-Georg Neubert: Ich würde nicht von besser und schlechter sprechen. Aber sich auf das gesprochene Wort zu begrenzen, würde die Wahrnehmungstiefe des Menschen begrenzen. So hilft uns auch die Musik, unsere Existenz zu verstehen. Und dasselbe gilt für die bildende Kunst.

Ergänzt die bildende Kunst das Wort, dient sie der Illustration des Wortes, oder hat sie eine eigene Dignität?

Christhard-Georg Neubert: Die bildende Kunst hat gegenüber dem Wort eine eigene Dignität. In der Kirche wird dem Bild oft nur zugebilligt, das Wort zu illustrieren. Aber das ist falsch, mindestens eine gefährliche Verkürzung. In der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern erlebe ich, dass es ihnen gelingt, in der Auseinandersetzung mit der Bibel Aspekte und Einsichten zur Schau zu stellen, die mit dem Wort so nicht gegeben sind. Etwas zugespitzt, Künstler können zu Auslegern der Schrift und zu Predigerinnen und Prediger ganz eigener Art werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Christhard-Georg Neubert: In der St. Matthäus-Kirche zeigen wir über dem Altar regelmäßig Werke von Malern und Fotografen. Vor einiger Zeit haben wir ein Werk der Mailänder Fotokünstlerin Julia Kran gezeigt. Es zeigt einen Tisch, eine lange Tafel. Und jeder, der sich in der christlichen Bildsprache ein bisschen auskennt, denkt an Leonardos Abendmahl. Nur, an Krans Tisch sitzt niemand. So fragt sich der Betrachter unwillkürlich, wo denn die Jünger geblieben oder wo sie hingegangen sind. Und der Betrachter wird mit der Frage konfrontiert, wo heute diejenigen sind, die eingeladen sind, am Tisch Platz zu nehmen. Wo bin ich selbst? Und das ist eine Frage, die der biblische Text so deutlich nicht stellt. Nochmal Cranach und Beuys - beide haben es, wie Julia Kran und alle großen Künstler, auf unser drittes Auge, unser geistiges Auge abgesehen mit dem, was sie uns zu sehen geben. Ich meine das unsichtbare Wahrnehmungsorgan unseres Geistes, unserer Seele. Es geht wohl letztlich um den Augenblick, in dem Hiob bekennt "Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; nun aber hat mein Auge dich gesehen." (Hiob 42,5)

Die Altarwand in der Kirche, in der ich konfirmiert worden bin, ziert eine Darstellung der Himmelfahrt Christi aus dem Jahr 1893. Da steht Jesus auf der Wolke, und die Jünger schauen zu ihm auf. Besteht nicht die Gefahr, dass der Gottesdienstbesucher, der dieses Bild Sonntag für Sonntag sieht, die naive, falsche Vorstellung verinnerlicht, dass Jesus in den Himmel gefahren ist, so wie das heute bemannte Raketen tun? Das heißt, es wird dann nicht mehr unterschieden zwischen dem planetarischen Himmel und dem Himmel als Sitz Gottes, also dem, was Englischsprachige als "sky" und "heaven" bezeichnen.

Christhard-Georg Neubert: Die Gefahr, die Sie beschreiben, sehe ich. Aber auch Worte können missverstanden und missbraucht werden. Daran haben wir uns ja gerade im vergangenen Jahr erinnert, wenn wir Kriegspredigten aus dem August 1914 gelesen haben. Und umgekehrt können Bilder etwas veranschaulichen, was über den Intellekt, über eine das Wort deutende Vermittlung der Schrift hinausgeht. Aber natürlich ist die evangelische Skepsis gegenüber Bildern im Kirchenraum durchaus berechtigt. Denn Bilder haben Macht.

Evangelische Geistliche - hat man den Eindruck - können oftmals eher etwas mit Musik anfangen, als mit der bildenden Kunst. Nun sind auch Sie evangelischer Pfarrer. Wie haben Sie einen Zugang zur bildenden Kunst gefunden?

Christhard-Georg Neubert: Ich bin in einem Pfarrhaus groß geworden. Bei uns daheim hingen immer Bilder. Zu ihnen hat eine Abbildung des Sockels, der Predella des Altars der Wittenberger Stadtkirche gehört. Als ich meinen Vater fragte, was das Bild bedeute, auf das er von seinem Schreibtisch aus täglich blicke, hat er mir einen Bildband über den Altar von Lucas Cranach gezeigt und jede Altartafel erklärt. Und ich habe auf einmal gemerkt, wie dieser mir unbekannte Maler etwas zur Sprache gebracht hat, was mir bis dahin völlig abstrakt erschienen war. Ich habe auf dem Bild den ausgestreckten Finger des Predigers Martin Luther entdeckt, der auf den gekreuzigten Christus zeigt, auf den allein die andächtige Gemeinde schauen soll. Darüber bin ich intensiv ins Gespräch mit meinem Vater gekommen und habe dabei entdeckt, dass Theologie etwas ganz besonders Spannendes ist.

Sie leiten die Stiftung St. Matthäus in Berlin, die Kultur- und Kunststiftung der berlin-brandenburgischen Landeskirche. Diese möchte dem Dialog von Kirche und Künstlern dienen. Was haben Sie als Theologe von Künstlern gelernt?

Christhard-Georg Neubert: Vielleicht zweierlei; zum einen: genauer hinzusehen. Ich kenne keinen Künstler, der nicht auf jedes Detail Wert legt. In der Stille und in Ruhe Bilder zu entschlüsseln ähnelt dem, was ich als Theologe gelernt habe, nämlich Texte zu entschlüsseln. Zum anderen: Es gibt offenbar eine Analogie von Kunst und christlichem Glauben. Hier wie dort geht es um Mut und Kraft zu permanentem Wagnis und Bewegung. Kunst und Glauben wollen in einer ihr eigenen Unruhe stets über das Erreichte hinaus, wollen neues Land gewinnen, Räume öffnen. Diese Suchbewegung ist am Ende immer Wagnis, Aufbruch ins Ungesicherte; vollzieht sich im Hin und Her von Setzen und Hinterfragen, von Zutrauen und Zweifel. Diesem Zweifel wohnt die eigentliche Antriebskraft inne, das Schöpferische in der Bewegung - im Glauben wie in der Kunst.

Bei christlicher Kunst denkt man an die Geschichte, das Mittelalter, die Reformationszeit und die Nazarener. Die heutige deutsche Gesellschaft ist stark säkularisiert oder zumindest entkirchlicht. Welche Rolle spielen christliche Motive denn für heutige Künstler?

Christhard-Georg Neubert: Meines Erachtens kennen die meisten Künstler die Hauptstränge der abendländischen Kunst und arbeiten mit deren Themen. Aber sie deuten diese natürlich auf je eigene Weise, auch verfremdend und im Widerspruch. Auf jeden Fall spielen sie unterschwellig nach wie vor eine Rolle. Wie Künstler aus dem Ideenvorrat des Christentums schöpfen, zeigt gerade der Künstler Thomas Bayrle. Wir haben ihn gebeten, für die St. Matthäus-Kirche eine Arbeit zu schaffen, die sich mit dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges auseinandersetzt. Und das Ergebnis ist das gegenwärtige Altarbild, in dem das individuelle Leid der Pietà, wie wir sie von Michelangelo kennen, gleichsam ins Millionenfache ausgedeutet wird. So wird eine Verbindung zwischen dem individuellen Leid und dem Leiden vieler hergestellt. Bei den Besuchern kann das die Frage wachrufen, was das Leid des Einzelnen mit dem Leid der Millionen zu tun hat und umgekehrt. Und es könnte auch die Fragen aufwerfen, was der Einzelne mit dem Leid der Flüchtlinge aus Syrien zu tun habe und dem der Ebolakranken in Afrika. Und herauskommen könnten Überlegungen, wie Menschen ihren Mitmenschen Solidarität zeigen können.

In zwei Jahren findet in Kassel wieder eine documenta statt, und in Wittenberg wird das Reformationsjubiläum begangen. Sehen Sie eine Möglichkeit, beide Ereignisse miteinander zu verknüpfen?

Christhard-Georg Neubert: Die documenta ist ein eigenständiges internationales Kunstereignis. Die Erwartung wäre also vermessen, dass sie sich um das kümmert, was die evangelische Kirche in Deutschland aktuell bewegt. Aber diese sollte natürlich versuchen, mit den Verantwortlichen der documenta zu sprechen und sie fragen, ob sie mit den veränderten Bildrezeptionen, die die Reformation in Gang gesetzt hat, etwas anfangen können und ob das für die documenta eine Rolle spielt. Und die evangelische Kirche muss sich selber fragen, ob sie die bildende Kunst ernstnimmt. Wenn eine Orgel 500.000 Euro kostet, stößt das auf viel weniger Wiederstand als wenn für den Kauf eines Bildes so viel aufgewendet werden soll. Dann wird gleich gefragt, ob es nicht billiger sein darf, statt nach der künstlerischen Qualität zu fragen.

Sie sind 64 Jahre alt. Haben Sie den Eindruck, dass unter jüngeren Pfarrern das Interesse an bildender Kunst wächst? Oder gibt es da nach wie vor einen großen Nachholbedarf?

Christhard-Georg Neubert: Ich will es mal so ausdrücken: Die ästhetische Bildung in der Pastorenausbildung ist sicher noch entwicklungsfähig. Ja, sie ist dringend notwendig, aber ich bin zuversichtlich.

Haben Sie den Eindruck, dass es in der Einstellung zur bildenden Kunst noch Unterschiede gibt zwischen bilderfreundlichen Katholiken und bilderfeindlichen Protestanten, oder haben sich beide angenähert und voneinander gelernt?

Christhard-Georg Neubert: Wenn man die von Jesuiten betreute nüchtern gehaltene Citykirche St. Klara in Nürnberg betritt, hat man das Gefühl, man befinde sich in einem protestantischen Kirchenraum. Gäbe es nicht kleine Zeichen, wie ein ewiges Licht. Und im Protestantismus ist von Bilderfeindlichkeit nicht mehr viel zu erkennen. Aus religionsästhetischen Gründen finde ich es bemerkenswert, dass neue katholische Kirchenräume klarer, manchmal geradezu minimalistisch reduziert sind, ganz anders, als jene Barockkirchen, die wir Protestanten als typisch katholisch, als überladen empfinden. Wir finden in Deutschland eine erstaunliche Durchmischung der ästhetischen Formen bei der Kirchenraumgestaltung, um die uns diejenigen beneiden, die aus überwiegend katholischen oder überwiegend protestantischen Ländern kommen. Ich halte die protestantische Bilderskepsis allerdings für richtig und produktiv.

Heute spielt das Bild eine starke Rolle, eine viel stärkere als noch vor einigen Jahren. Kommt das Ihrem Anliegen, Bilder stärker wahrzunehmen, entgegen, oder sehen Sie die Gefahr, dass das Auge durch die Bilderflut blind wird?

Christhard-Georg Neubert: Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Angesichts der vielen Bilder und der technischen Möglichkeiten, sie zu manipulieren, ist die evangelische Bilderskepsis aktueller denn je. Und umso wichtiger wird die schon angesprochene ästhetische Bildung. Denn beide befähigen zur kritischen Auseinandersetzung mit Bildern. Wenn Kirchengemeinden eine Kunstausstellung planen, rate ich schon manchmal ab. Denn es geht ja nicht um Bilder an dieser oder jener Wand oder in diesen oder jenen Fenstern, auch nicht um Ausstellungen. Darin feiert das Missverständnis des Bilderverbots fröhliche Urständ. Vielmehr geht es um den geistigen Raum und seine Gestaltung. Die Kunst will letztlich in der Kirche keine Bilder zeigen, sie will das Sehen selbst initiieren, will den Glauben in eine neue Perspektive stellen, im Sichtbaren wie im Unsichtbaren, sinnlich wie geistig, will Atmosphäre verdichten, steigern und den Menschen erheben - zu sich, zu seinem Nächsten, zu Gott.

Das Gespräch führte Jürgen Wandel am 27. November 2014 in Berlin.

Pfarrer Christhard-Georg Neubert (64) ist Kunstbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Gründungsdirektor der Kunst- und Kulturstiftung St. Matthäus am Berliner Kulturforum und Präsident der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche.

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