Weg vom Fürsorgegedanken

Gespräch mit Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, über das Jahresthema Inklusion
Foto: Diakonie/Junophoto
Foto: Diakonie/Junophoto
Zwei Jahre lang beschäftigte sich die Diakonie Deutschland im Rahmen ihres Jahresthemas mit Inklusion. Die Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren, ist nach Ansicht von Maria Loheide die wichtigste Herausforderung.

zeitzeichen: Frau Loheide, warum hat sich die Diakonie Deutschland Anfang 2013 des Themas Inklusion gleich für zwei Jahre als Jahresthema angenommen?

Maria Loheide: Wir haben festgestellt, dass wir in einem Jahr lange nicht so eine Breitenwirkung erzielen, als wenn wir dafür zwei Jahre ansetzen. Das Ziel der Jahresthemen ist ja, dass unsere Mitglieder, also die diakonischen Landes- und Fachverbände, Gelegenheit haben, das Jahresthema aufzugreifen und eigene Aktivitäten mit ihren Trägern durchzuführen. Und deswegen werden wir zukünftig alle Jahresthemen über zwei Jahre führen.

Welches Fazit können Sie nach zwei Jahren mit dem Thema Inklusion ziehen?

Maria Loheide: Das Jahresthema Inklusion war ein voller Erfolg. Ein veröffentlichter Reader dokumentiert die Vielzahl von Aktivitäten. Das reicht von einer Tagung der evangelischen Jugend zur Inklusion in der Jugendarbeit bis hin zu einem Aktionsplan Inklusion, den die Diakonie in der Kommune Herrnhut jetzt versucht zu verankern. Der Erfolg zeigt sich darin, dass sich viele beteiligt haben.

Heißt das, dass nun alle wieder zur Tagesordnung übergehen?

Maria Loheide: Nein, auf keinen Fall. Wir haben einige Projekte auf den Weg gebracht, die eine nachhaltige Wirkung haben werden. Da ist das Projekt der "Diakonie-Reporterin" zu nennen. Frauen mit Behinderung haben Politiker, Arbeitgeber, aber auch Angehörige interviewt. Die Themen waren unterschiedlich, Wohnen, Arbeit, Barrierefreiheit und Gesundheit. Und diese Filme können Sie unter www.youtube.com abrufen. Das, was wir unter Inklusion verstehen, vermitteln diese Filme, auch wenn sich möglicherweise die Sicht auf das Thema in zehn Jahren anders darstellt. Außerdem ist die Wanderausstellung "Kunst trotzt Handicap" entstanden, in der Künstler und Künstlerinnen mit und ohne Behinderungen ihre Kunstwerke präsentieren. Sie wird in den nächsten zwei Jahren durch Deutschland wandern, auf dem Stuttgarter Kirchentag ist sie zu sehen und sie wird vermutlich auch in der documenta-Halle in Kassel ausgestellt. Nicht zu vergessen die vielen Gespräche, die wir mit Politikern führen, gerade im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz, das jetzt entsteht.

Und wie steht es mit der Inklusion im eigenen Haus?

Maria Loheide: Durch die Beschäftigung mit dem Thema haben wir viel Aufmerksamkeit im evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung erzeugt. Und wir mussten uns dabei fragen, wie weit wir als Organisation Inklusion voranbringen. Eine unserer Mitarbeiterinnen konnte zum Beispiel Hausversammlungen nicht folgen, weil sie eine Hörbeeinträchtigung hat. Nun haben wir bei jeder Versammlung einen Schriftübersetzer dabei.

Was kann die Diakonie Deutschland überhaupt dazu beitragen, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Inklusion ein Thema für Fachkreise ist.

Maria Loheide: Dringend erforderlich ist eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die Situation von Menschen mit Behinderung. Die meisten Menschen nehmen diese kaum wahr; es gibt immer noch große Berührungsängste und auch Unkenntnis darüber, welchen Barrieren diese Menschen tatsächlich im Alltag ausgesetzt sind.

Reicht das aus? Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert vielmehr einen Paradigmenwechsel, eine völlig neue Sicht auf das Thema, die allen Menschen soziale Teilhabe selbstbestimmt ermöglichen soll.

Maria Loheide: Zum großen Teil stehen wir da noch am Anfang. Sich in einen behinderten Menschen zu versetzen und zu überlegen, was braucht er, um wirklich selbstbestimmt teilhaben zu können, ist schwierig. Inklusion erfordert, dass die Gesellschaft sich ändert. Zum Beispiel muss ein Kindergarten so ausgestattet sein, dass ein blindes Kind genauso teilhaben kann wie ein Kind mit Down-Syndrom. Was in den Diskussionen meistens außen vorbleibt, ist die Selbstbestimmung. Wir müssen allen Menschen das Recht zusprechen, dass sie selbst bestimmen, wie sie wohnen, leben und arbeiten wollen. Deshalb müssen wir weg von dem Fürsorgegedanken.

Die EKD hat die Orientierungshilfe "Es ist normal, verschieden zu sein" vorgelegt. Darin wird vermerkt, dass Kirche und Diakonie in den vergangenen Jahren sich deutlich auseinander entwickelt hätten. Wie stehen Sie dazu?

Maria Loheide: In der Tat gab es eine Entwicklung in Deutschland, die dazu führte, dass, sobald jemand Hilfe brauchte, die Diakonie zuständig war. Nehmen wir Menschen mit Behinderungen, da waren zum Beispiel Träger wie die v. Bodelschwingschen Stiftungen oder Volmarstein Ansprechpartner. Auch da brauchen wir ein Umdenken. Diakonie und Kirche müssen gemeinsam daran arbeiten, dass sich alle Menschen - mit und ohne Behinderung, jung oder hochbetagt - in der Kirchengemeinde vor Ort begegnen und gut leben können. Doch da stehen wir noch am Anfang und gemeinsam in der Verantwortung.

Wenn die Diakonie die so genannte Zielgruppenorientierung überwinden muss, bedeutet das nicht weniger als den vollständigen Umbau des Sozialsystems?

Maria Loheide: In diesem Prozess befinden wir uns. Das heißt nicht, dass die Einrichtungen der Behindertenhilfe überflüssig werden. Sie werden in diesem Prozess unbedingt gebraucht. Die Aufgaben werden sich immer mehr verändern. Aber zunächst müssen wir uns danach richten, was die Menschen mit Behinderung wollen, um ihre Selbstständigkeit zu erhöhen. Demgegenüber steht die Spezialisierung der Einrichtungen, die wir haben. Allerdings sind die Zeiten, in denen es für Menschen mit Behinderung hieß, "von der Wiege bis zur Bahre sind Einrichtungen zuständig", endgültig vorbei.

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 10. Dezember 2014.

Seit Oktober 2011 ist Maria Loheide Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Zuvor arbeitete die Sozialarbeiterin und Heilpädagogin als Geschäftsbereichsleitung Familie, Bildung und Erziehung der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe.

Kathrin Jütte: Zwischen Anspruch und Realität

Maria Loheide

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Diakonie

Maria Loheide

Maria Loheide ist Sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Deutschland und Vorstandsmitglied des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung in Berlin.


Ihre Meinung