Die schöne Rebellin

La Rochelle und die Geschichte der Protestanten in Frankreich
Die Stadtmauer von La Rochelle lädt heute zum Flanieren ein. Foto: Martin Glauert
Die Stadtmauer von La Rochelle lädt heute zum Flanieren ein. Foto: Martin Glauert
La Rochelle galt einst als die protestantische Hauptstadt Frankreichs. Noch heute wird bei einem Gang durch die Stadt die Geschichte der Hugenotten lebendig.

Die drei mächtigen Türme an der Hafeneinfahrt liegen im Sonnenschein. Für Seefahrer waren sie jahrhundertelang ein weithin sichtbarer Willkommensgruß und noch heute sind sie das Wahrzeichen der Stadt und fehlen auf keiner Ansichtskarte. Freizeitsegler parken ihre Boote in der modernen Marina, in den Gassen der Altstadt drängeln sich Touristen, schlendern vorbei an Restaurants und Kunstgeschäften. Überall stößt man auf Trubel und ein internationales Stimmengewirr.

Genau wie vor vierhundert Jahren. Schon damals ist La Rochelle als Hafenstadt am Atlantik geschäftig und weltoffen, es betreibt Handel mit allen Ländern Europas, mit Afrika und Übersee. Um 1520 ist die Welt noch in Ordnung, in der Stadt herrschen Wohlstand und Frieden, im Land herrschen Königtum und Katholizismus.

Geheime Treffen

In Europa aber geht ein Gespenst um, der Protestantismus. In La Rochelle fallen dessen Ideale auf fruchtbaren Boden. Ein gebildetes Bürgertum, weltoffen und erfolgreich, drängt nach Unabhängigkeit von ständischen und klerikalen Fesseln. Die Anhänger der neuen Ideen treffen sich im Haus Nummer 14 in der Rue Saint Yon. Heute liegt es mitten in der belebten Fußgängerzone, damals aber drücken sich die Besucher einzeln und unauffällig bei Dämmerung durch die Straße, die Treffen finden nur im Geheimen statt und das aus gutem Grund, denn der französische König ringt um die Einheit des Landes. Einen politischen und konfessionellen Flickenteppich, wie er in Deutschland im Laufe der Reformation entstanden ist, will Franz I. um jeden Preis verhindern. Deshalb werden reformatorische Tendenzen von Anfang an unterdrückt. Im August 1523 erfolgt in Frankreich die erste öffentliche Hinrichtung eines Protestanten, der Augustinermönch Jean Vallière wird in Paris am Pfahl verbrannt - eine unmissverständliche Ansage.

Foto: Martin Glauert
Foto: Martin Glauert

Der Hafen von La Rochelle mit den drei Türmen.

Im Untergrund aber breitet sich der neue Glaube unaufhaltsam weiter aus. 1546 wird in Meaux die erste protestantische Gemeinde Frankreichs gegründet, 1559 findet die erste Nationalsynode in Paris statt. Im gleichen Jahr schließt sich La Rochelle offiziell der Reformation an, gilt von nun an als Hauptstadt des französischen Protestantismus. Die Stimmung in der Hafenstadt ist offenbar von religiöser Toleranz geprägt, jahrelang werden die katholischen Kirchengebäude von beiden Konfessionen gemeinsam genutzt.

Unter Heinrich II. verschärft sich die Lage. Aufgrund seiner Edikte werden hugenottische Parlamentsabgeordnete verfolgt, für Häresie - und nichts Anderes ist die Reformation in den Augen des katholischen Königs - müssen die Gerichte die Todesstrafe verhängen. Paris ist weit weg, doch bald erreichen die Auswirkungen der neuen Politik auch La Rochelle. Und da ist es mit Toleranz und Friedlichkeit vorbei.

Dreißig fallende Körper

Der Tour de la Lanterne ist der schönste der drei Türme La Rochelles. Auf einem massiven burgartigen Rundbau erhebt sich eine filigrane, steil zulaufende Spitze. Früher befand sich hier oben eine übergroße Laterne, die den Schiffen als Leuchtturm diente. Sie ist längst verschwunden, aber die Aussicht lockt immer noch täglich hunderte Besucher herauf. Die steinerne Wendeltreppe wird enger und enger, die Stufen steiler, und man ist außer Atem, wenn man endlich auf den schmalen Wehrgang hinaustritt. Der Ausblick auf Hafen und Meer ist berauschend, der Blick in die Tiefe allerdings macht schwindelig. Dreißig menschliche Körper stürzten hier 1565 hinab und schlugen auf dem groben Pflaster auf, dort wo heute sonnenbebrillte Touristen im Schatten ausruhen. Es waren die Leichen von katholischen Priestern, die von der aufgebrachten Menge erdrosselt worden waren. Spätestens jetzt ist La Rochelle mitten in den Bürgerkrieg hineingezogen, der seit drei Jahren in ganz Frankreich tobt und auf beiden Seiten mit zunehmender Grausamkeit geführt wird.

Foto: Martin Glauert
Foto: Martin Glauert

Der Tour de la Lanterne.

Militärischer Anführer der Hugenotten, wie die französischen Protestanten genannt werden, ist Admiral Gaspard de Coligny. Es gelingt ihm, neun Jahre lang ein militärisches Patt gegen die Truppen des Königs aufrecht zu erhalten. 1571 aber sind beide Parteien finanziell und personell erschöpft, und überall im Land wächst der Wunsch nach Ruhe und Ordnung. Seit dem Tode Heinrichs II. ist seine Ehefrau, Katharina de Medici, die wirkliche politische Lenkerin Frankreichs, auch wenn ihre drei Söhne nacheinander die Krone tragen. Sie betreibt eine vorsichtige Annäherung der gegnerischen Parteien. Im September 1571 haben sich die Beziehungen so weit verbessert, dass Coligny wieder in seine alten Ämter eingesetzt wird, ein fürstliches Gehalt bekommt und sogar am Privatrat des Königs teilnimmt. Das Verhältnis wird so eng und vertrauensvoll, dass der König den Hugenotten Coligny sogar "Vater" nennt. Als maximal vertrauensbildende Maßnahme wird eine Hochzeit arrangiert zwischen dem Herzog Heinrich von Navarra, dem Anführer der Protestanten, und Prinzessin Margarete von Valois, der Schwester des katholischen Königs.

Foto: Martin Glauert
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Die rote Richelieu-Bake auf dem offenen Meer.

Am 18. August 1572 findet die pompöse Hochzeit in Paris statt, ein tagelanges Fest der nationalen Aussöhnung. Die gesamte gesellschaftliche und militärische hugenottische Elite ist anwesend. Da geschieht das Ungeheuerliche: Am 23. August wird Coligny von einer Truppe des Königs in seinem Haus ermordet. Noch am gleichen Abend beginnt ein blutiges Massaker an den Hugenotten, das die gesamte Bartholomäusnacht andauert. Unter dem Ruf: "Der König will es!" ziehen marodierende Gruppen durch die Straßen, sie erschlagen jeden, den sie als Hugenotten erkennen. Die Pogrome breiten sich in ganz Frankreich aus, im Laufe von zwei Monate werden schätzungsweise dreißigtausend Hugenotten ermordet.

Pech und Öl

La Rochelle wird zum Ziel vieler Flüchtlinge. Die Stadt hat den offiziellen Status eines "sicheren Ortes", sie ist stark befestigt und verfügt über eine eigene Garnison. 1573 belagert die königliche Armee die Stadt zum ersten Mal. Aber La Rochelle hält stand. Die Verteidiger bedienen sich einer Maschine, die sie spöttisch das "Weihrauchfass" nennen und mit der sie von den Mauern herab kochend heißes Pech und Öl auf die Angreifer gießen. Aber nach sechs Monaten wird die Belagerung schließlich erfolglos aufgegeben.

Die Dinge nehmen eine unerwartete und regelrecht kuriose Wendung, als König Heinrich III. von einem Dominikanermönch erstochen wird. Sein rechtmäßiger dynastischer Nachfolger ist ausgerechnet Herzog Heinrich von Navarra, der Anführer der Protestanten, dessen "Pariser Bluthochzeit" als Schauplatz für das Massaker an den Hugenotten herhalten musste. Und dieser Glaubensfeind soll nun König von Frankreich werden.

Foto: Martin Glauert
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Der Tour de la Lanterne diente auch als Gefängnis für die Hugenotten.

Foto: Martin Glauert
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In Wandbildern drückten sie ihre Sehnsucht nach Freiheit aus.

Um seinen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen und den unlösbaren Widerspruch zu entschärfen, tritt er überraschend zum katholischen Glauben über mit den Worten: "Paris ist eine Messe wert!" Als König Heinrich IV. wird er zum Friedensstifter. 1598 erlässt er das Edikt von Nantes, das den Hugenotten die freie Ausübung ihrer Religion gestattet, ausgenommen in Paris sowie in Städten mit Bischofssitz oder königlichen Schlössern. Die Protestanten dürfen Kirchen errichten, und ihre Pastoren sollen vom Staat bezahlt werden. Ausdrücklich werden den Hugenotten die vollen Bürgerrechte zugesichert. Die zermürbenden Hugenottenkriege sind damit - vorübergehend - beendet. Heinrich IV. kurbelt die Wirtschaft an und steigert spürbar den allgemeinen Wohlstand. In der französischen Erinnerung gilt er als der ideale König. Allerdings offenbar nicht bei jedem: am 14. Mai 1610 wird er in seiner Kutsche von dem katholischen Fanatiker Francois Ravaillac erdolcht.

Unerträgliche Provokation

Nachfolger Ludwig XIII. will die absolute königliche Autorität und den Katholizismus als einzige Staatsreligion wieder herstellen. So ist La Rochelle für Ludwig eine unerträgliche Provokation. Am 10. September 1627 beginnt die erneute Belagerung der Stadt. Und sie ist Chefsache, König Ludwig ist monatelang persönlich vor Ort. Die Leitung des Unternehmens aber hat er dem klügsten Kopf des Reiches überlassen, Kardinal Richelieu, zugleich Erster Minister und damit politischer Lenker Frankreichs. Die Erstürmung der Mauern ist aussichtslos, zu stabil sind die Befestigungen, das wird Richelieu bald klar. Die Stadt lässt sich nur durch Aushungerung bezwingen. Solange aber Nachschub von der Seeseite in den Hafen kommt, ist ein Ende der Belagerung nicht absehbar.

Deshalb entwickelt Richelieu einen abenteuerlichen absurden Plan: Ein mächtiger Damm, mitten in die Bucht gebaut, soll die Stadt vom Meer abschneiden. Noch heute sieht man vom Tour de la Lanterne weit draußen eine leuchtend rote Boje, die so genannte Richelieu-Bake. Sie markiert die Stelle, wo der Damm gebaut wurde, und es ist gut verständlich, dass die Bewohner von La Rochelle bei Baubeginn nur ungläubig lächelten. Wie wollte jemand über diese Breite das Meer aussperren, schon der erste Sturm würde alles hinweg fegen. Doch Richelieu ist hartnäckig. Monat für Monat liefern Bauern auf Karren ihre Feldsteine, bei Ebbe bauen die Maurer daraus einen zwölf Kilometer langen Damm.

Foto: Martin Glauert
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Kardinal Richelieu ließ einen Damm errichten, um Lebensmitteltransporte über das Meer zu verhindern.

Die Versorgungslage in der Stadt wird zunehmend desolat. Die Edelleute schlachten ihre Pferde, bald aber sind alle Vorräte aufgebraucht. Dennoch ergibt sich die Stadt nicht. Ihr Bürgermeister Jean Guiton ist ein leidenschaftlicher Sturkopf. Mehr als ein Jahr lang kann er die hungernden Einwohner zum Aushalten bewegen. Aus tiefster Überzeugung hoffen diese auf die Hilfe des Himmels, zumindest aber der Engländer. Tatsächlich tauchen eines Tages englische Segel am Horizont auf. Als sie jedoch den Damm erblicken, der mit Kanonen bestückt ist, drehen sie ergebnislos wieder ab.

Als die Wachen auf den Mauern vor Hunger tot umfallen, muss sich La Rochelle ergeben. Am 30. Oktober 1628 zieht Richelieu als Sieger ein. Ihm bietet sich ein Bild des Grauens, die Gassen und Häuser sind voller Leichen. Von den 28.000 ursprünglichen Einwohnern haben nur fünftausend ausgezehrte Gestalten überlebt.

Unerbittlich verfolgt

Im "Gnadenedikt von Alès" 1629 behalten die Hugenotten formal ihre Glaubensfreiheit, werden jedoch von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und verlieren jede politische Einflussnahme. Alle zugestandenen Sicherheitsplätze werden aufgehoben, ihre Festungsanlagen geschleift und die Armeen aufgelöst. Trotzdem geht die Verfolgung im ganzen Land unerbittlich weiter und erreicht unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. ihren Höhepunkt. Das Psalmensingen und Bibellesen wird mit hohen Strafen belegt. In den berüchtigten Dragonaden werden über viehundert Dörfer dem Erdboden gleich gemacht, ihre Einwohner vertrieben, gefoltert oder getötet. Im Edikt von Fontainebleau 1685 widerruft Ludwig XIV. das Edikt von Nantes und hebt damit alle Rechte der Hugenotten in Frankreich auf. Wer nunmehr als Protestant erkennbar ist, wird mit Haft oder Galeerenstrafe belegt. Zu diesem Zeitpunkt wird der Tour de la Lanterne zum Gefängnis für Hugenotten. In bedrohlicher Ungewissheit, was auf sie zukommt, ritzen viele ihre Namen, Jahreszahlen und kleine Zeichnungen in den weichen Saintonge-Sandstein der Wände. Etwa sechshundert Graffiti sind noch erhalten.

Foto: Martin Glauert
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In diesem Haus trafen sich die ersten Protestanten der Stadt heimlich zu Gottesdiensten.

Foto: Martin Glauert
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Später war auch der Bürgermeister Jean Guiton ein Hugenotte.

Trotz eines strengen Auswanderungsverbots verlassen in den folgenden Jahrzehnten rund 200.000 Hugenotten ihre Heimat. Das Ziel der Flüchtlingswellen sind die Schweiz, die Niederlande, England und Deutschland, wo sie Asyl und willkommene Aufnahme finden. Ein großer Teil sucht sein Glück in Übersee, Südafrika, Südamerika und Kanada.

Heute flaniert man in La Rochelle über die Rue de la Huguenotte oder fährt über die breite Avenue Jean Guiton ins Zentrum, wo sich mitten auf dem Rathausplatz die Statue des protestantischen Bürgermeisters erhebt. Auch protestantische Gemeinden sind in La Rochelle wieder zuhause. Die meisten gehören zur Vereinigten Protestantischen Kirche von Frankreich, in der die reformierte und die lutherische Kirche Frankreichs vereinigt sind. Nach offiziellen Angaben bekennen sich in Frankreich 1,5 Millionen Menschen zum Protestantismus, das sind drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Es gibt 450 Gemeinden, 480 Geistliche und etwa 400.000 Gottesdienstbesucher wöchentlich.

Text und Fotos: Martin Glauert

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