Gretchenfrage hier und heute
Manchmal stößt man auf ein Buch, das unauffällig und klein daherkommt, aber mehr in einem auslöst als manche Prachtpublikation von einem renommierten Autor in einem etablierten Verlag. Normalerweise hätte man es gar nicht wahrgenommen, wenn man nicht von einem Bekannten mit der Nase darauf gestoßen worden wäre. So ging es mir mit einem Buch, das Schüler und Lehrer der Stadtteilschule und des Gymnasiums des Hamburger Stadtteiles Finkenwerder geschrieben haben. In Buchhandlungen liegt es nicht aus, bei Amazon ist es nicht verfügbar. Die Weltpresse hat seine Veröffentlichung in diesem Jahr mit Schweigen übergangen. Dabei erzählt es eine erstaunliche Geschichte und dokumentiert etwas, dass man so nur selten zu lesen bekommt.
Darum geht es: Schüler aus Finkenwerder, einem Stadtteil im Süden Hamburgs, hatten einen Austausch mit Schülern aus Palästina, zudem haben sie zwei Schulen in Israel besucht. Doch haben sie sich nicht wie sonst üblich auf Besichtigungen und Begegnungen beschränkt, sondern jeweils und dann gemeinsam haben sie sich Gedanken über ihre religiöse Identität gemacht und sich der Gretchenfrage gestellt "Wie hältst du es mit der Religion?". Ihr 160 Seiten langes Buch erzählt deshalb nicht nur mit bunten Bildern und kleineren Artikeln von der Reise, was interessant (und abenteuerlich) genug gewesen wäre, sondern bietet einen regelrechten Forschungsbericht mit Experteninterviews, Gruppengesprächen und vor allem vielen persönlichen Texten der Jugendlichen - aus Finkenwerder, der Schule Talitha Kumi in Beit Jala, der E. Smith High School for Boys sowie der Midrashiya Highschool for Girls in Jerusalem. Man staunt beim Blättern und Lesen über die Frische und Nachdenklichkeit der Texte und versucht sich vorzustellen, was für eine ungeheure Arbeit dahintersteckt - für die Schüler, aber auch die verantwortlichen Lehrer.
Das Buch zeigt eindrücklich, wie sehr die religiöse Welt im Wandel ist - nicht nur in Deutschland, sondern auch im Nahen Osten. Das ist keine neue Erkenntnis, auch wird man sagen können, dass dieses Buch inhaltlich gar nicht so viel Neues bringt. Vieles kann man seit langem in wissenschaftlichen Publikationen lesen: in den Büchern von Detlef Pollack etwa, im Bertelsmann-Religionsmonitor oder den Shell-Jugend-Studien. Doch dort bleibt naturgemäß vieles im Abstrakten, Religionssoziologisch-Statistischen. Es ist eben etwas ganz anderes, wenn Jugendliche nicht nur befragt werden, sondern selbst ausdrücken, was sie glauben oder nicht glauben - jeweils persönlich für sich selbst, zugleich aber vor dem Hintergrund einer Begegnung mit anderen Jugendlichen: Deutsche mit und ohne "Migrationshintergrund", Israelis, Palästinenser, Christen, Juden, Muslime, Säkulare.
Weiter Bogen geschlagen
Mich jedenfalls hat die Lektüre angeregt, überrascht, irritiert, angerührt und auch beglückt. Auf ein, bis zwei Seiten stellen sich die Jugendlichen vor mit ihren Gedanken und Geschichten, aber auch mit sprechenden Fotos. Dabei schlagen sie einen weiten Bogen - von den ganz säkularen Deutschen hin zu den religiös streng gebundenen Palästinensern, und irgendwo dazwischen bewegen sich die deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Die deutschen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund stellen häufig eine ähnliche Wahrnehmung vor. Sie lassen ihre persönliche Geschichte und die ihrer Familie Revue passieren, um am Ende festzustellen, dass religiöse Erfahrungen und kirchliche Verbundenheit bei ihnen und in ihrer Umwelt kaum mehr vorkommen - so als wäre eine Geschichte zu Ende erzählt. Und das, was sie etwa im kirchlichen Kindergarten erfahren oder von der Patentante empfangen haben, war nur eine Phase. Durchaus anerkennend bedenken sie den individuellen und sozialen Nutzen, den Religion bringen kann - nur eben nicht mehr für sie.
Interessant aber ist, dass ihnen die Reise und die Auseinandersetzung mit der Gretchenfrage eine Irritation eingebracht hat. So sinnieren sie darüber, wie wenig sie mit Religion - von Kirche ganz zu schweigen - zu tun haben, um dann jedoch überrascht festzustellen, dass das Thema sie doch etwas angeht. Hier zeigt sich bei ihnen eine ziemlich kluge Widersprüchlichkeit. Melissa etwa schreibt: "Religionen faszinieren und irritieren mich zugleich." Zwar gibt es "keine Religion, der ich mich zugehörig fühle. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Thema egal wäre." In Israel und Palästina habe sie die Sicht- und Hörbarkeit der Religionen erlebt und mit vielen gläubigen Menschen gesprochen, so dass sie heute denkt, "dass die Bedeutung von Religion in unserer Gesellschaft deutlich abgenommen hat. Wenn man aber genau hinsieht, findet man Religion sogar an Stellen, an denen man sie vielleicht nicht unbedingt vermutet hätte." Auch in der scheinbar so säkularen deutschen Gesellschaft - etwa in Musik, Film und Literatur. Vielleicht sogar bei einem selbst. Stellvertretend für viele schreibt Lukas: "Ich sage von mir selbst, dass ich nicht genau weiß, wie religiös ich bin, aber doch glaube ich an etwas Höheres, was eventuell alles zusammenhält."
Hinter dieser Unbestimmtheit könnte sogar ein tieferer Gedanke liegen, ein bewusstes Dazwischen-Sein als eigene religiöse Position. Ann-Kathrin schreibt, christlich zu sein, bedeute für sie "die Uneinigkeit mit sich selbst, wenn man sich nicht sicher ist, was man glauben kann und was nicht." Paul Tillich, der Theologe der "Grenze", hätte es nicht schöner formulieren können. Eine säkulare Selbstgewissheit ist so nicht mehr möglich. An ihre Stelle treten Interesse, Neugier und Offenheit. Pia Melissa meint: "Ob und an was man glaubt, ist eine sehr persönliche Frage, von der ich nicht glaube, sie schon beantworten zu können. Um seine eigene religiöse Identität zu finden, braucht man Zeit. Man muss Erfahrungen sammeln, um Erkenntnisse zu gewinnen. Oft haben mich gläubige Menschen aus anderen Kulturen beeindruckt. Ich habe sie für ihr Vertrauen in Gott beneidet. Die Regeln, die Religion vorgibt, bilden einen Leitfaden, der sie vor Fehlern bewahrt. Jedoch wird auch ihre Freiheit eingeschränkt. Zu viel von etwas Gutem kann auch schlecht sein." Das könnte die Eröffnung eines neuen Weges sein, mit unbestimmtem Ende zwar, wohl aber mit einem klaren Kompass: Gesucht wird nicht nur eine religiöse oder nicht-religiöse Position, sondern auch das rechte Maß, also eine Lebensüberzeugung, die Orientierung und zugleich Freiheit bietet.
Ganz anders setzen natürlich die Jugendlichen aus Palästina und Israel an. Ihnen ist eine eindeutige religiöse Prägung mitgegeben, sie wachsen in einer religiös stark bestimmten Gesellschaft auf. Areej erklärt: "Meine Religion ist das Christentum. Wir haben es geerbt, von einer Generation zur nächsten.” Ebenso Osama: "Ich bin Christ, weil meine Eltern Christen sind." Oder William: "Mein Vater war Christ, deshalb wurde ich auch Christ, das ist die ganze Geschichte."
Ähnliches geben die muslimischen und jüdischen Jugendlichen zu Protokoll. Ganz so einfach ist es aber nicht. Denn die Jugendlichen müssen sich zu diesem mächtigen, übermächtigen Erbe, diesem vorgegebenen Identitätsmuster ja verhalten, es annehmen, für sich verwirklichen und dabei verändern. Und dies tun sie sehr eigenständig und selbstbewusst. Zum Beispiel dadurch, dass sie Religion auf ihre guten Wirkungen hin befragen und ihr Gewaltpotential abweisen. Maa'moon schreibt: "Der Islam lehrt uns andere Menschen zu respektieren, egal welcher Religion sie angehören, welcher Rasse sie sind, aus welchem Land sie kommen. Wir haben Menschlichkeit, Vergebung, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freundlichkeit und Großzügigkeit gelernt - alles dies haben wir vom Islam gelernt."
Zwischen diesen beiden Polen stehen die deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Stärker als viele ihrer Mitschüler haben sie zu Hause eine religiöse Prägung erfahren: der betende Vater, die den Koran lesende Mutter, der gemeinsame Moscheebesuch, die familiären Rituale und Feste. Doch anders als islamophobe Klischees es nahelegen, erleben sie dabei wenig Druck. So erzählt Emre von seiner Mutter, die ihn als islamische Rechtsgelehrte sehr "moschee-nah" erzogen, aber nicht indoktriniert hat: "Es gibt keinen Zwang im Glauben." Tief ergriffen erzählt er von seiner Wallfahrt nach Mekka, dem Erleben des heiligen Ortes und der universalen Gemeinschaft dort, um dennoch mit dem Geständnis seiner religiösen Unbestimmtheit zu schließen: "Meine Religion ist nicht sehr stark, auch wenn ich oft wünsche, sie wäre es." Auch Aydan gibt sich ehrlich und unsicher: "Ich kann nicht sagen, ob die Religion in meinem Umfeld eine große oder eine kleine Rolle spielt. Es ist ziemlich unterschiedlich." Wichtig sei ihm nur dies: "Die Religion sollte nicht dazu führen, dass man sich streitet oder sich weniger gut versteht."
Natürlich bleibt die Gretchenfrage in all diesen Statements am Ende unbeantwortet. Aber die Jugendlichen zeigen eine große Ansprechbarkeit auf ein Thema, von dem viele von ihnen vorher gemeint hatten, dass es überholt wäre. Hier zeigt sich eine eindringliche und bewegliche Nachdenklichkeit, aber auch die Bedeutung eines guten Religionsunterrichts (zum Beispiel nach dem interreligiösen Hamburger Modell eines "Religionsunterrichts für alle"). Oft unterschätzt und vernachlässigt kann er ein neues, überraschendes Nachdenken der Schüler über sich selbst und ihre Welt auslösen. Die jugendliche Frage nach der eigenen Identität kann dabei durch den religiösen Fokus eine existentielle Zuspitzung erfahren. Ebenso wie die jugendliche Frage nach einer gerechten und friedlichen Welt durch den religiösen Fokus eine andere Dringlichkeit erhalten kann.
Bei aller Unterschiedlichkeit ist den Antworten der deutschen, israelischen und palästinensischen Jugendlichen zweierlei gemeinsam: Erstens ist das Kriterium, nachdem sie Religion beurteilen, das Maß der Freiheit, das sie gewährt beziehungsweise einschränkt. Und zweitens erleben sie bei der Beschäftigung mit der Gretchenfrage die Begegnung mit Fremdheit und Vielfalt als positiven Impuls für das eigene Erleben und Nachdenken. Hanna sagt es so: "In meinem Freundeskreis sind die verschiedensten Religionen vertreten, ich habe einen russisch-orthodoxen Freund, muslimische Freunde, evangelische und katholische Freundinnen, buddhistische Fukushi und einen hinduistischen Bekannten. Ich kenne überzeugte Atheisten und Agnostiker und habe durch die Reise nun auch jüdische Jugendliche kennengelernt."
Als mittelalter Erwachsener denkt man an die eigene Kindheit und Jugend zurück: Wie uniform das Leben damals noch war, wie wenige Alternativen es jenseits von evangelisch und katholisch gab, wie selten die Begegnung mit echter Fremdheit. Solch ein rasanter Wandel innerhalb von nur einer Generation - und wie gelassen gehen die Jugendlichen damit um! Man freut sich über diese Generation: Wie nachdenklich, engagiert, selbstkritisch, wach, weltoffen und tolerant sie sich zeigt, wenn man ihr nur die Gelegenheit dazu bietet.
Natürlich verschaffen ihre Äußerungen dem im kirchlichen Dienst Stehenden eine erhebliche Ernüchterung und narzisstische Kränkung. Denn sie zeigen unwiderlegbar: Die Jugend von heute ist ganz woanders. Oder besser gesagt: Die Kirchen mit ihren Themen und Formen, ihrer Verkündigung und politischen Initiativen, ihren internen Debatten, ihren Reformen und Organisationsprozessen sind ganz woanders. Umso kostbarer die Momente, in denen sie einen unverstellten Blick auf das religiöse Nachdenken von Jugendlichen heute erhalten kann. Sie mögen einem helfen, dass institutionelle Um-sich-selbst-Kreisen zu unterbrechen und in einem geöffneten Zwischenraum für überraschende Begegnungen bereit zu sein.
Literatur
"... und wie hältst du's mit der Religion?" Begegnung im Austausch - Reflexionen zur Ausprägung religiöser Identitäten in Hamburg, Palästina, Israel, herausgegeben von Gymnasium und Stadtteilschule Finkenwerder, AphorismA Verlag, Berlin 2015, 160 Seiten - durchgehend farbig. Format: 23 x 27 cm. Preis 17,50. Das Buch kann direkt beim Verlag bestellt werden: Blücherstraße 56, 10961 Berlin.
Johann Hinrich Claussen