Meine Zeit in deinen Händen
Seit einigen Monaten wirbt die Bahn mit dem Slogan "Diese Zeit gehört Dir" und präsentiert mit schönen Bildern, zu welchen Dingen die Menschen ihre Zeit im Zug nutzen könnten. Das ist zu begrüßen, denn viele wissen anscheinend nichts mit ihrer Zeit im Zug anzufangen. Immer wieder fallen mir Menschen auf, die einem mit traurig verschlossener Miene schweigend gegenübersitzen.
Das muss doch nicht mehr sein! Die Bahn lässt diese Bahndepressiven nicht allein, sondern gibt Tipps, wie sie sich während des Bahnfahrens fit halten können. So rät Physiotherapeut Martin Müller auf der Website der Kampagne (inside.bahn.de): "Stellen Sie sich mit leicht gebeugten Beinen in den Gang. Sie können selbst bei voller Fahrt im ICE ganz gut frei stehen! Die Fliehkräfte der Kurven und der Bremsvorgänge trainieren dabei Ihr Gleichgewicht und Reaktionsvermögen. Seien Sie aber trotzdem immer bereit, sich bei Bedarf an einem Sitz oder Tisch festzuhalten. Denn nicht jeder Mitreisende freut sich, wenn Sie plötzlich auf seinem Schoß sitzen!"
Prima Idee, Herr Müller! Das habe ich letztens mal ausprobiert: Aber kaum hatte ich mich im Gang eingeschwungen, fingen - als sie mich erspäht hatten - zwei kleine Kinder bitterlich an zu weinen, und dass, obwohl ich noch gar nicht auf ihrem Schoß saß. Schade, ich werde eine Wiederholung in einem kinderlosen Waggon anstreben. Sie hätten schon dazu schreiben sollen, dass diese Übung nur was für nicht furchteinflößende Personen ist ...
Die besten Fitnessübungen aber, lieber Herr Müller, trägt die Bahn immer noch selbst an uns heran, verlässlich und variationsreich. Nur ein Beispiel aus Berlin: Der ICE Richtung Köln/Bonn konnte nicht bereitgestellt werden - widrige Umstände zwischen Ost- und Hauptbahnhof, die wir hier nicht ergründen wollen. Es ist bereits eine Verspätung von 80 Minuten aufgelaufen. Doch Rettung naht: Der aus Bonn kommende ICE soll nach Ausstieg der Fahrgäste in Berlin Hbf zum ausstehenden ICE 554/544 umfrisiert werden und flugs wieder gen Westen fahren. Juhu! Die vom langen Bahnsteigstehen verspannten Reisenden stürmen hinein. Sogar die Reservierungen sind, o Wunder, richtig angezeigt - herrlich! Aber dann, dann springt von Geisterhand die digitale Anzeige um: Wagen 27 ist plötzlich Wagen 37, die Wagenreihung hat sich virtuell gewandelt. O weh, nun heißt es, doch wieder raus aus dem einen Zugteil, rein in den anderen Zugteil, streiten mit Menschen, die diese Wandlung nicht mitbekommen haben, und, und, und. Als sich endlich alles geregelt hat, sind alle Muskeln gelöst oder angeschwitzt. Dafür vielen Dank! Und Recht hat die Bahn, wenn sie in ihrer Kampagne behauptet: "Sobald Sie in der Bahn sitzen, können Sie die Zeit für all das nutzen, wofür Sie im Alltag häufig zu wenig Zeit haben. All den Menschen, die zu wenig Zeit haben, rufen wir deshalb zu: Diese Zeit gehört Dir."
Reinhard Mawick