Schöpfung und Erlösung zusammen

Abschied vom Alten Testament - oder seine endliche Ankunft im Christentum?
Jona und der Wal. Malerei aus einer Bibelhandschrift der Bodleian Library in Oxford/England aus dem 14. Jahrhundert. Foto: epd
Jona und der Wal. Malerei aus einer Bibelhandschrift der Bodleian Library in Oxford/England aus dem 14. Jahrhundert. Foto: epd
Um die Forderung des Berliner Systematikers Notger Slenzcka, das Alte Testament im christlichen Kanon fortan nur noch zu den Apokryphen zu zählen, ist ein Streit entbrannt. Frank Crüsemann, emeritierter Alttestamentler aus Bielefeld, weist Slenczkas Position zurück. Vielmehr könne nur eine Aufwertung des Alten Testaments dafür sorgen, dass das Christentum eine humane Religion wird.

Um Abschied vom Alten Testament ging es zuletzt 1933, als die radikalen Deutschen Christen die Forderung nach seiner Abschaffung erhoben. Der Widerstand dagegen kam nicht nur aus den Organisationen der Bekennenden Kirche, sondern aus der Gemeinde selbst. Die Zugehörigkeit des Alten Testaments zur Bibel und damit zur Grundlage der Kirche stand von da an wieder fest. Heute, siebzig Jahre nach Krieg und Holocaust geht es um eine ganz andere Frage. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Kirchen den unverbrüchlichen Bund Gottes mit dem Judentum anerkannt. Das heißt aber, dass nicht nur das Alte Testament, sondern endlich auch sein zentraler Inhalt, nämlich die Verbindung Gottes mit dem Volk Israel, als Bestandteil des christlichen Glaubens erkannt worden ist. Heute geht es darum, wie seine endliche inhaltliche Ankunft bei uns Christen im Detail auszusehen hat.

Wenn dennoch Notger Slenczka alte Debatten neu belebt - zuerst klang es so, als ginge es um Abschaffung, dann um Rückstufung auf den Rang der Apokryphen, jetzt soll es als "Platzhalter der vorchristlichen Gotteserfahrung" verstanden werden, von Erfahrungen also, wie es sie auch in anderen Religionen und philosophischen Traditionen gibt - dann zwingt das zum nochmalige Durchdenken der Kernfragen. Warum also gehört es zum christlichen Kanon und damit zu dem, was zu lehren und zu predigen ist? Warum ist es Teil des christlichen Glaubens und muss es immer neu werden? Das soll beispielhaft an drei Themen gezeigt werden.

Erstens: Das Alte Testament ist christlicherseits zu lehren und zu predigen, weil und insofern es die fundamentalen biblischen Aussagen zu Schöpfung und Anthropologie enthält, die im Neuen Testament vorausgesetzt, aber nicht wiederholt werden.

Hier liegt der Hauptgrund dafür, dass die Kirche im 2. Jahrhundert gegen Marcion am Alten Testament festgehalten und es dem Neuen vorangestellt hat: Schöpfung und Erlösung sind Werk ein und desselben Gottes. Beides kann und darf nie auseinanderfallen. Die Identität Gottes in beiden Teilen der Bibel ist das Fundament, auf dem die Kirche steht. Was Schöpfung bedeutet, ist von den Urgeschichtstexten der Genesis wie von den Schöpfungspsalmen aus in jeder Generation neu zu gewinnen. Man denke nur daran, welche veränderte Rolle diese Texte in der ökologischen Krise erhalten haben und bis heute ausüben.

Sinn des Sündenfalls

Von besonderem Gewicht sind sodann die Aussagen über das Menschsein, man denke nur an die Gottebenbildlichkeit und die Paradiesgeschichte. Eine bestimmte Interpretation von ihnen im Sinne eines Sündenfalls, durch den alle Menschen zutiefst in Sünde verstrickt und unfähig zu allem Guten sind, liegt dem augustinisch-lutherischen Menschenbild zu Grunde. Ohne sie sind Christologie und die Rechtfertigungslehre der Reformation nicht zu denken.

Wenn wir diese Texte heute entschieden anders verstehen, weil etwa die These eines Verlusts der Gottebenbildlichkeit durch die Sünde ganz eindeutig gegen klare Aussagen der Texte steht, hat das weitreichende Folgen für das christliche Menschenbild. Die hier verankerte unverlierbare Menschenwürde ist die Grundlage aller Menschenrechte. Zugleich eröffnet eine so veränderte Sicht einen neuen Blick auf die erstaunlich vielen alttestamentlichen Texte, die von einer positiven Beziehung Gottes zu Menschen außerhalb Israels und damit außerhalb jedes rechten Glaubens reden. Allen Menschen gilt die Frage des 8. Psalms: "Was sind die Menschen, dass du an sie denkst, ein Menschenkind, dass du nach ihm siehst?" Gott kümmert sich um alle, nicht nur um die, die an ihn "glauben" oder mit ihm religiös verbunden sind. Zu einer toleranten Haltung der Kirche zu anderen Religionen und Weltanschauungen, liegt hier das unersetzliche Fundament, das deshalb zu lehren und zu predigen ist.

Mit dem Hinweis auf solch universale Texte ist zugleich jede Sicht des Alten Testaments als ein rein partikulares Buch widerlegt. Es ist vielmehr die Spannung zwischen dem einen und einzigen Gott, Schöpfer und Erhalter aller Menschen, und dessen besondere Beziehung zu dem einen geliebten Volk, die das Alte Testament durchgängig prägt. Und diese besondere Geschichte zielt von Anfang an (Genesis 12) wiederum auf die gesamte Menschheit. Eine derartige Verschränkung von Universalem und Partikularem ist auch für den christlichen Glauben konstitutiv.

Zweitens: Das Alte Testament ist christlicherseits zu lehren und zu predigen, weil zur Erkenntnis Jesu Christi. "wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird" (Barmen I), das Zeugnis beider Testamente notwendig ist.

Gerade wenn es richtig ist, dass sich christliche Theologie immer wieder ändern muss und nur so immer neu zu sich selbst kommt, ist es nicht ohne Probleme, sich für die Gegenwart vor allem auf das Denken von Theologen um 1800 (Schleiermacher) oder um 1900 (Harnack) zu beziehen. Ohne mindestens den zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu bedenken, sollte Theologie heute nicht getrieben werden. Ich beziehe mich deshalb beispielhaft auf die Theologie Dietrich Bonhoeffers, der mit als erster ein neues christliches Verständnis des Alten Testamentes entwickelte.

Neue Funktion fürs Denken

Mit der Haft beginnt Bonhoeffer sofort eine intensive mehrfache Lektüre speziell des Alten Testamentes. Dabei bekommt es eine neue Funktion für sein Denken. Alle anderen theologischen Impulse der Haftbriefe von 1943/44 sind davon nicht zu trennen. Er hatte das Alte Testament vorher von Christus her ausgelegt. Jetzt, wo er weiß, was mit dem Volk des Alten Testamentes derzeit passiert, wofür er im Widerstand Leben und Ruf riskiert, jetzt nimmt er es ganz neu wahr. Sein Ergebnis lautet: "Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m. E. kein Christ" (Widerstand und Ergebung, Werke Bd. 8, 226). Zum Christsein gehört also nicht nur das Neue Testament und sein Inhalt, sondern notwendig etwas anderes, etwas davor, sonst werden Neues Testament und Christsein verfehlt. Es geht aber nicht um eine austauschbare vorchristliche Gotteserfahrung, sondern um diese Geschichte Gottes mit Israel. Sie und keine andere gehört zum christlichen Glauben.

Theologisch entscheidend ist, dass Bonhoeffer in seiner Lage nicht mehr sicher weiß, wer Christus ist, so dass ihn die Frage, "wer Christus heute für uns eigentlich ist" "unablässig bewegt" (402). Er denkt "darüber nach, wie die Begriffe Buße, Glaube, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung", also das in christlicher Theologie speziell mit Christus verbundene Heil, "weltlich" und das heißt jetzt für ihn "im alttestamentlichen Sinne" zu interpretieren sind (416). Es geht ihm um die Frage, wie Gott und Christus mitten in unserem Leben anwesend sind. "Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf. So ist es alttestamentlich und in diesem Sinne lesen wir das N.T. noch viel zu wenig vom Alten her" (408).

Bonhoeffer zielt auf die "Inanspruchnahme des irdischen Lebens" in seiner ganzen Breite und Vielfalt für Gott. Die hängt biblisch, das entdeckt er neu, an der inhaltlichen Vielfalt des Alten Testaments. Die erotische Liebe, der Segen in seiner Fülle, die Schöpfung, die Erfahrung der Weisheit, das Leiden Hiobs und die Skepsis Kohelets, Welt- und Sozialpolitik in prophetischer, Gerechtigkeit in rechtlicher Perspektive, das und vieles andere mehr wird dabei auf eine theologisch unentbehrliche Weise von Gott in Anspruch genommen. Aber auch die speziellen theologischen Themen des Neuen Testaments, wie das messianische Wirken, das Kreuz, die Rechtfertigung und viele andere mehr sind alle schon im Alten Testament ausgebildet, und das Neue Testament ist gerade für seinen Bezug auf die jeweilige Gegenwart auf diese Vielfalt und ihre Wahrheit angewiesen. Im Neuen Testament ist das dann durchgängig zu beobachten: Je intensiver und konzentrierter von Jesus als dem Christus gesprochen wird, desto dichter wird die alttestamentliche Sprache. Neutestamentliche Christologie ist weitgehend Zitat.

Zum Beispiel Bonhoeffer

Ein Beispiel ist Dietrich Bonhoeffers Verständnis des Kreuzes: "Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott" (533f). Entscheidend ist, dass Jesus am Kreuz Psalm 22 zitiert: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" "Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt" - das ist ja nichts anderes als eine Paraphrase des Psalmwortes. Angerufen wird in ihm der abwesende Gott. Und dass und wie Gott trotzdem "mit uns" ist, wird im Ganzen des Psalms vor allem durch den Ausblick auf das weltumfassende Heilshandeln Gottes an seinem Schluss erkennbar. Die Spannung von Verlassensein und Präsenz wird nicht erst durch Kreuz und Auferweckung Jesu konstituiert, sondern genau dieser Zusammenhang schwingt bereits in dem zitierten Psalmwort mit. Der Tod durch das römische Hinrichtungsinstrument Kreuz allein bringt nur Schande und Abbruch. Erst indem davon mit Worten der Psalmen erzählt wird, wird das Kreuz in die Geschichte Gottes mit den Klagenden und Leidenden und dann auch Hoffenden hineingestellt. "Wir" sind damit in derselben Situation wie Jesus, als von Gott verlassen und von eben diesem abwesenden Gott getröstet. Dass es sich um ein Gebet handelt, das vor und nach Jesus viele Menschen benutzt haben, um ihre Lage vor Gott auszubreiten, ist also das hermeneutische Scharnier für Bonhoeffers Verständnis des Kreuzes.

Drittens: Das Alte Testament ist christlicherseits zu lehren und zu predigen, weil der Bund Gottes mit Israel (und dem Judentum) zum Glauben an Jesus Christus dazu gehört.

Beginnend mit einigen Stimmen wie der von Bonhoeffer schon während des Holocaust hat sich eine neue Wahrnehmung Israels in der christlichen Kirche und Theologie durchgesetzt. Man hat diese "Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie" als das "wichtigste theologische Ereignis der zweiten Hälfte" des 20. Jahrhunderts bezeichnet (Rolf Rendtorff). Ich zitiere als Beispiel die für unser Thema besonders deutliche Formulierung der Kirche in Hessen und Nassau: "Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein" (1991).

Blindheit bestand gerade auch gegenüber den biblischen Grundlagen, deren Aussagen über Israel von Kirche und ihre Theologie nicht wahrgenommen oder nicht für wahr gehalten wurden. Das bewirkte die christlich-antijüdische Haltung mit all ihren schrecklichen Folgen. Damit die Kirche die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen bezeugen kann, und zwar tendenziell durch all ihre Glieder, muss sie eben das lehren und predigen. Dazu sind sowohl die alttestamentlichen Grundlagen, in denen genau das zentraler Inhalt ist, als auch deren neutestamentliche Rezeption, so zu lehren und zu predigen, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus dieses Zeugnis einschließt. Für die neutestamentlichen Texte heißt das, dass deren alttestamentliche Grundlagen, die direkt zitierten wie die indirekt genannten, aufzudecken sind und die neutestamentlichen Aussagen nicht wie weithin üblich ohne diese Bezüge wahrgenommen werden.

Dekalog als Beispiel

Ja, für den christlichen Umgang mit den alttestamentlichen Texten, die Israel anreden oder von Israel erzählen, bedeutet das, dass es immer auch um Fremdes geht, um Anerkennung des Anderen. Doch dieses Fremde ist der Wurzelgrund, in dem unsere eigenen Wurzeln gründen und aus dem heraus wir leben. Dass wir uns mit Israel identifizieren, wie es traditionell üblich ist, kann nur der deutlich zweite Schritt sein. Das so oft auf Todesanzeigen zitierte Wort Jesaja 43,1 "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein" gilt im Zusammenhang und damit zuerst und bleibend Israel, uns und jedem einzelnen Menschen kann es nur gelten und kann deshalb nur so gepredigt werden, wenn dies wahr ist und wahr bleibt.

Ich nehme den Dekalog als Beispiel. Er ist wie die ganze Tora zu Israel gesagt, nicht zu "uns". Luther hat das genau gesehen. Aber sein Ausweg, wonach die gleichen Gebote in die Herzen der Menschen geschrieben seien, ist uns verwehrt. Vor allem ist unbestreitbar, dass die Gebote nicht einfach alle in unserem Herzen stehen. Für die hermeneutische Perspektive bieten sich die Formulierungen von Deuteronomium 4,6f an: Da ist vom Staunen der anderen Völker über die Gerechtigkeit der Tora die Rede. Dieses Modell verbindet Offenbarung und Erfahrung, biblische Tradition mit einer Überprüfbarkeit, die geradezu empirische Züge hat: "so gerecht wie nichts anderes" - das kann man ausprobieren. Wenn Paulus Röm 8,4 sagt, dass Gott den Sohn gesandt hat, damit die Gerechtigkeitsforderung der Tora, die dikiaioma tou nomou, durch uns erfüllt wird, entspricht das dem genau.

Universal verstanden

Das Christentum hat sich nachbiblisch allein universal verstanden und im Besitz einer Wahrheit geglaubt, die für alle Menschen gilt. In dem Augenblick aber, wo die universale Seite derart allein ins Zentrum trat, wurde es unausweichlich antijüdisch, denn Israel musste sich in seiner großen Mehrheit weigern, seinen spezifischen Bund und seine besondere Beauftragung aufzugeben. Das Christentum wurde damit zugleich inhuman, denn es konnte auch andere Abweichungen und Gestalten von "Unglauben" nicht tolerieren. Das Judentum, aber auch andere Religionen, ja sogar andere Gestalten des Christentums als die jeweils eigene wurden als von Gott getrennt angesehen und auf das schärfste bekämpft.

Gerade der Anspruch, die Wahrheit für alle zu haben, so dass nur der Glaube an Jesus als den Christus zu Gott führt, hat das Christentum gnadenlos inhuman gemacht, hat die kriminelle Seite der Kirchengeschichte mit hervorgebracht. Eine solche problematische Gestalt von Universalismus hängt mit der Abwendung vom Alten Testament und mit einer negativen Bewertung des Judentums unlöslich zusammen.

Die Anerkennung des Judentums und die damit notwendig verbundene Aufwertung des Alten Testamentes, seine Wiederentdeckung und Wiedereinsetzung als den Wahrheitsraum, der bleibend gilt und der deshalb zu lehren und zu predigen ist, ist theologisch die notwendige Voraussetzung und damit die Chance, dass das Christentum eine wirklich humane Religion (David Flusser) werden kann.

Alexander Deeg: Die zwei-eine Bibel

Frank Crüsemann

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