Die Reformation gehört allen

Luthers Thesenanschlag 1517 sollte ein "Erinnerungsort" für das kollektive Gedächtnis werden
Jörgen Habedank: "Hommage á Cranach". Foto: VG Bild-Kunst Bonn
Jörgen Habedank: "Hommage á Cranach". Foto: VG Bild-Kunst Bonn
Die kirchlichen Vorbereitungen für das 500. Reformationsjubiläum wurden zuletzt kritisiert - auch in zeitzeichen. Thies Gundlach, theologischer Vizepräsident im EKD-Kirchenamt, weist die Kritik zurück. Er wirbt für die Notwendigkeit und Berechtigung elementarer Sprache, verstehbarer Einsichten und existenziell relevanter Auskünfte in Bezug auf 2017 - jenseits wissenschaftlicher Symposien.

Im Herbst 2014 gab es in Berlin ein von staatlicher Seite und einem historischen Fachgremium organisiertes Symposion zum Reformationsjubiläum 2017, auf dem die anwesenden Politiker den Fachwissenschaftlern erläuterten, warum das Reformationsjubiläum nicht nur den Kirchen, sondern der ganzen Gesellschaft viel wert sein sollte.

Während einige Wissenschaftler starke Bedenken hinsichtlich der staatlichen Unterstützung der Jubiläumsvorbereitung äußerten, verwiesen die Politiker auf den Umstand, dass sich die staatliche Förderung gerade mal auf dem Kostenniveau einer "halben Autobahnauffahrt" bewege.

Es kann daher nicht an den Kosten liegen, wenn die gemeinsam von Bund, Ländern und Kirchen getragene Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 in der historischen Wissenschaft auf so heftige Bedenken stößt. Es kann auch nicht am politischen Willen liegen, denn immerhin hat der Bundestag das Reformationsjubiläum bereits 2011 zu einem "Ereignis von Weltrang" erhoben und für seine Ausgestaltung erhebliche Mittel zusammengestellt. Was ist es nur, was so mit Sorge gesehen wird? Dazu im Folgenden drei ausgeführte Gedanken:

Erstens: Die Erinnerung an den 500. Jahrestag des Anschlags von 95 Thesen durch Martin Luther an die Schlosskirchentür zu Wittenberg ist historisch in jeder Hinsicht strittig: Ob es ihn überhaupt gab. Ob Luther selbst die Thesen anschlug oder nicht lediglich ein Pedell der Universität, der damit der damaligen Form von Öffentlichkeitsarbeit nachging. Ob die 95 Thesen überhaupt schon reformatorischen Geist enthalten oder nicht lediglich Anliegen eines Reformkatholiken formulieren, die auch anderswo schon vertreten wurden. Ob diese Thesen überhaupt irgendwelche geschichtliche Relevanz haben oder lediglich im Nachhinein stilisiert wurden zum symbolischen Anfang der Reformation. Kurzum: Wer das 500. Jubiläum dieses Thesenanschlags zum Anlass nimmt, ein großes Fest auszurichten, geht historisch gesehen über dünnes Eis. Oder umgekehrt: Rein historisch betrachtet wäre ein wissenschaftliches Symposion zur Situation 1517 vermutlich die geeignetste Form, das Jubiläumsdatum zu würdigen. Zugleich aber ist gerade diese Situation die Voraussetzung dafür, dass das Datum ein Jubiläum werden kann.

Denn es wird durch jene historische Dekonstruktion sichtbar, dass es sich bei dem Datum um einen "Erinnerungsort" im Sinne des Historikers Pierre Nora handelt. Seiner Auffassung nach kris-tallisiert sich das kollektive Gedächtnis einer bestimmten Gruppe, einer Nation und auch einer Glaubensgemeinschaft an Orten und Zeiten, an Namen und Geschichten, um Identitätserfahrungen formulieren zu können. Martin Luthers Thesenanschlag ist so ein Erinnerungsort. Mit diesem Ereignis verbindet sich - ebenso wie mit dem Auftritt Luthers vor Kaiser und Reich in Worms 1521 - ein kollektives Erinnerungsbild, das unter anderem mit Mut und Selbstbewusstsein, mit Gewissensfreiheit und Glaubensstreit, mit Empörung gegen Obrigkeit und mit dem Ende einer Zeit der Dunkelheit und Angst zu tun hat. Die Rekonstruktion von Vergangenheit dient insofern immer auch einer Identitätsvergewisserung in der Gegenwart. Im Medium der Geschichtserzählung geht es um die Hoheit der Gegenwartsdeutungen. Es gibt dabei nicht die eine, richtige Erinnerung, sondern im Blick zurück wird Relevanz und Bedeutung in der Gegenwart kommuniziert. Es wird auch nach dem Jubiläum 2017 immer eine Vielfalt von Sichtweisen auf die Geschehnisse geben, eine Vielfalt, die von der relativen Bedeutungslosigkeit der Reformation und speziell Luthers für die weitere geschichtliche Entwicklung bis zur Überhöhung der Reformation als Motor zur modernen Gesellschaft reichen wird.

Ob die Reformation wesentliche Impulse zum Verständnis der unantastbaren Würde eines jeden Menschen jenseits von Geschlecht, Rasse, Glauben und Leistung gegeben hat oder ob eben dies zuerst der Aufklärung zu verdanken ist, wird wohl auch im Jahre 2117 strittig sein. Vor diesem Hintergrund ist aber verständlich, dass mancher Kampf der theologischen und historischen Wissenschaft gegen die gemeinsame und aufwändige Gestaltung des Jubiläums 2017 in Politik und Kirche auch mit der Frage nach der Rolle und Bedeutung dieser Wissenschaften im öffentlichen Diskurs zu tun haben könnte.

Zweitens: In der bleibenden Pluralität von legitimen Rücksichten auf den Erinnerungsort Wittenberg 1517 ist es um so wichtiger, rück-sichts-voll zu sein, also voller Sicht zurück auf die Vielzahl der Jubiläen, die schon in den Jahrhunderten zuvor gefeiert wurden. Es wurde frühzeitig darauf hingewiesen, dass jedes Jahrhundert seine zeitbedingte Sicht auf und seine Grenzen in der Inszenierung des Jubiläums hatte. War 1617 noch ganz dem Kampf um das Überleben der neuen Konfession gewidmet, tauchte 1817 eine nationale Deutungsdominanz auf, die dann 1917 im Schlussakt des Weltkriegs mit unerhörtem Durchhaltepathos versehen wurde. 1983, zu Luthers 500. Geburtstag, wurde dem kommunistisch verordeten frühbürgerlichen Revolutionär der DDR eine historische Forschung der Wissenschaftsexaktheit im Westen entgegengesetzt, die den ideologischen Missbrauch Luthers korrigieren sollte. Und es mag auch heute noch einige geben, die diesen Deutungskampf der exakten Wissenschaft gegen einen ideologischen Missbrauch Luthers auf die Planungen der EKD übertragen. Allein das ist zu viel der Ehre, denn einerseits hat die EKD selbst ein substanzielles Interesse an einer historisch exakten Aufarbeitung der damaligen Ereignisse, andererseits aber ist sie ebenso interessiert an einer gesellschaftlich breit getragenen, kulturell und geistlich kraftvollen Gestaltung des Erinnerungsortes. Deswegen ist mit allen Engagierten in Bund und Ländern, in Kirchen und Konfessionen, in Zivilgesellschaft und säkularen Institutionen früh festgelegt worden, dass dieses Jubiläum 2017 weder nationalistisch noch deutschtümelnd, weder konfessionalistisch und antirömisch, weder personenkultorientiert noch schattenblind gefeiert werden sollte.

Diese Grundverabredungen der Internationalität, der Ökumenizität und der Deutungspluralität sind im 2014 veröffentlichten Grundlagentext der EKD "Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017" theologisch reflektiert und in Orientierungspunkte zur Gestaltung des Jubiläums umformuliert worden:

Das solus christus erinnert an die ökumenische Weite der Reformation, denn Christus gehört niemandem allein; ein gemeinsames Christusfest erscheint daher angemessen. Das sola gratia erinnert daran, dass nicht Heldentum einzelner, auch großer Persönlichkeiten die Reformation machten; die Reformation hat viele Väter und Mütter und ebenso viele Kinder und Kindeskinder. Das sola fide mahnt, nicht zufällige nationale oder regionale Gegebenheiten für entscheidend zu halten, sondern die kraftvolle Herzensfrömmigkeit vieler Menschen an vielen Orten zu erinnern. Das sola scriptura zeigt, dass die Bibel die Wiege der kirchlichen Erneuerung war, aber darüber hinaus Kultur und Wissenschaft, Lebens- und Berufsalltag geprägt hat. Und das solo verbo mahnt alle Beteiligten, auch die Zukunft der reformatorischen Kirchen im Hören auf Gottes Wort zu suchen, nicht in der Organisation großer Ereignisse; diese Erinnerung dient einem heilsamen Maß an Selbstrelativierung.

Drittens: Die EKD und ihre Gliedkirchen haben im Zusammenspiel mit ihren staatlichen Partnern viele Veranstaltungen und Aktionen geplant, deren Vorbereitung 2015 in die entscheidende Phase geht. Stellvertretend für vieles sei nur die an den Berliner Kirchentag 2017 anschließende dreimonatige "Weltausstellung Reformation" in der Lutherstadt Wittenberg genannt. Natürlich wird es auch jenseits dieser und anderer zentral geplanten Ereignisse eine ungeahnte Fülle von regionalen Veranstaltungen, Symposien, Diskussionen, Ausstellungen und Kulturprojekten in allen Regionen Deutschlands und Europas geben, sodass man vielleicht die Sorge haben kann, dass nach 2017 der Name Luther oder der Begriff Reformation mit einer gewissen Ermüdung gehört werden wird.

Gegenwärtig ist diese Gefahr allerdings nicht akut, da viele Menschen dieses Jubiläum noch gar nicht wahrgenommen haben. Umfragen ergeben, dass das Thema Reformationsjubiläum 2017 noch kaum jenseits der "Gedenkbeamten" (FAZ) und ihrer zivilen Partner angekommen ist. Da aber auch eine kritische Historikerzunft im Grunde kein Interesse daran haben kann, das Jubiläum sang- und klanglos vorüberziehen zu lassen, soll zuletzt die Frage der Deutungshoheit für die Gegenwart aufgenommen werden. Derzeit ringen mindestens fünf verschiedene Deutungsmuster miteinander, die verschiedene Grade existenzieller Relevanz spiegeln:

Zuerst ist der historische Narrativ im Blick: Wie es damals war und welche Impulse nachweisbar von der Reformation ausgehen, steht in Frage. Faktisch wird es darauf verschiedene Antworten geben, die eine, richtige Erzählung gibt es nicht. Sodann gibt es die ökumenische Narration, die mit dem Besuch von Papst Benedikt XVI. im Augustinerkloster Erfurt 2011 ihren symbolischen Anfang nahm: Luther war Augustinermönch und Reformkatholik, und er stellt mit seiner Frage nach dem gnädigen Gott die richtigen Fragen auch für unsere Gegenwart. Als Reformkatholik kann er gewürdigt werden, aber darüber hinaus sind seine Antworten ebenso wie sein polemischer Charakter so kirchenspaltend geworden, dass man seiner nur in Buße gedenkend erinnern kann. Demgegenüber klingt der protestantische Narrativ so, dass die Reformation auf verschlungenen Wegen Impulse zur Entstehung der Moderne in vielen Bereichen wie Freiheit, Partizipation, Bildung, Wirtschaft, Demokratie, Frauen gegeben habe. Diese Impulse mussten zwar zum Teil auch gegen die Kirchen wirksam werden, aber noch heute lebt die moderne Gesellschaft von jenen Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Daneben kommt auch eine theologische Narration zu stehen, nach der die Reformation mit der Rechtfertigungslehre eine existenzielle Auslegung des Evangeliums gefunden hat, die zu hören zeitlos heilsam ist, weil sie den inwendigen Menschen erlöst und so die wesentlichen Unterscheidungen reformatorischer Theologie wie Amt und Person, Kirche und Staat, Gesetz und Evangelium plausibilisiert.

Existenziell relevant

Es dürfte nicht schwer sein, die Begrenztheit all dieser (und weiterer) Deutungsmuster aufzuzeigen, aber sie gegeneinander auszuspielen ist auch wenig ergiebig. Dies umso weniger als es noch keine kraftvolle allgemeinverständliche Narration gibt. Wie kommunizieren alle kritisch Engagierten gemeinsam die Bedeutung der Reformation in eine Welt hinein, die kaum noch weiß, wer Martin Luther ist und dass Halloween nicht identisch ist mit dem Reformationstag? Hier bedarf es elementarer Sprache, verstehbarer Einsichten und existenziell relevanter Auskünfte.

Der Hinweis allein, die Herkunft unserer heutigen Welt sei ohne die mit dem Stichwort Reformation erinnerten Entwicklungen nicht zu verstehen, ist zu museal. Ebenfalls dürfte der Hinweis, dass die Reformation zur Kirchenspaltung führte, für viele Menschen lediglich die Überraschung bereithalten, dass es gegenwärtig überhaupt zwei verschiedene Großkirchen gibt. Es muss nicht allein die Fremdheit Martin Luthers und seiner Zeit herausgestellt werden, wie es die Aufgabe der Historiker ist, sondern auch die existenzielle Nähe und geistliche Aktualität der damaligen Zeit. Leben wir heute nicht auch in einer eigenen Art vorreformatorischer Zeit, in der viele fundamentale Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt sind? Sind manche Ängste, Unsicherheiten, Herausforderungen und Desorientierungen nicht strukturell parallel zur Reformationszeit? Und ist die Erinnerung an sie heute als Entängstigungsprogramm oder als Befreiung von allem Selbstoptimierungszwang weiterzusagen? Ist dies nicht das zeitlose Geheimnis des wiederentdeckten Evangeliums?

Vielleicht ist es ja zu deutsch, von den Ängsten auszugehen, aber diese Botschaft hat sich durch die Jahrhunderte immer wieder Bahn gebrochen: Dass das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben, jene Freiheit begründet, die in Gott beheimatet ist und sich deswegen verantwortlich weiß für den inneren Menschen nicht weniger als für den äußeren Nächsten. Gibt es eine bessere Botschaft auch für das 21. Jahrhundert?

Thies Gundlach

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Foto: ekd

Thies Gundlach

Thies Gundlach ist einer der drei theologischen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD und leitet die Hauptabteilung „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“.


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